Der Rede wert

Die menschliche Sprache wirft eine Vielzahl von Forschungsfragen auf, Max-Planck-Wissenschaftler suchen nach Antworten

Erzählen, erklären, diskutieren, überreden, unterrichten - was Menschen mit Sprache bewerkstelligen, geht weit über den Austausch von Informationen hinaus. Ohne Sprache gäbe es weder Handel noch Politik, weder Religion noch Wissenschaft, weder Rechte noch Gedichte. Doch das Phänomen Sprache birgt viele Rätsel: Worauf ist diese einzigartige menschliche Fähigkeit zurückzuführen? Wie lernen Kinder sprechen? Und welche Ausprägungen hat die Sprache in verschiedenen Teilen der Welt entwickelt? Ein Überblick über einige wichtige Forschungsfragen.

Haben wir ein Sprachgen?

Dem Menschen muss die Fähigkeit zum Sprechen in den Genen liegen – da ist sich die Wissenschaft sicher. Doch die Suche nach den entscheidenden Genen gestaltet sich schwierig. Vor 15 Jahren bejubelte die Presse die Entdeckung des Gens FOXP2 als „Sprachgen“. Einer der Entdecker ist Simon Fisher, mittlerweile Direktor am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik. „FOXP2 ist kein rein menschliches Gen“, relativiert er die einstige Euphorie. „Es findet sich bei vielen Wirbeltieren.“ Fehler im DNA-Text von FOXP2 führen bei Menschen zwar zu Sprachstörungen. Aber längst nicht alle Schwierigkeiten mit Sprache und Sprechen haben mit diesem einem Gen zu tun. „Wir müssen davon ausgehen, dass eine Vielzahl von Genen fürs Sprechen eine Rolle spielt“, sagt Fisher. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, möglichst viele dieser Gene aufzuspüren und ihre Funktion zu entschlüsseln.

Die menschliche Sprache ist einmalig. Doch auch Tiere tauschen Informationen aus: durch Körperhaltungen wie Zähnefletschen, durch chemische Signale wie die Duftspuren von Ameisen oder durch Laute wie Vogelgesang. Einige Säugetierarten wie Wale, Fledermäuse und Elefanten verständigen sich sogar mit recht komplexen Lauten: „Ihre Lautäußerungen haben durchaus Parallelen zur menschlichen Sprache“, erklärt Sonja Vernes vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik. „Sie werden beispielsweise innerhalb einer sozialen Gruppe erlernt.“ Die Forschungsgruppenleiterin interessiert sich besonders für die genetischen Grundlagen der differenzierten sprachlichen Tierlaute. Ihre Hoffnung ist, dabei auch Hinweise auf die Entstehung der menschlichen Sprache zu finden.

Was passiert beim Sprechen im Gehirn?

Ein weiterer wesentlicher Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Sprache liegt im Gehirn. Schon vor mehr als 150 Jahren wurden Gehirnareale entdeckt, die essentiell für das Sprechen und das Verstehen von Sprache sind. Doch viele scheinbar einfache Fragen sind weiterhin ungelöst. So untersucht David Poeppel, Direktor am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, wie Gesprochenes, das als Schall am Ohr ankommt, im Gehirn richtig verarbeitet werden kann. Und umgekehrt, wie die Antwort im Gehirn generiert und als gesprochenes Wort geäußert wird. Ein Ergebnis seiner Forschung ist: Schreie – die wohl ursprünglichste Form menschlicher Lautäußerung – lösen eine erhöhte Aktivität in der Amygdala aus, einer Region im Gehirn, die unter anderem für die Verarbeitung und die Erinnerung von Angst steht. „Damit belegen Schreie eine bevorzugte akustische Nische", sagt Poeppel. "Das stellt ihre biologische und letztendlich ihre soziale Wirkung sicher – wir schreien nur, wenn wir müssen."

Peter Hagoort, Direktor am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik befasst sich wiederum mit der Frage: Wie führen neuronale Mechanismen verschiedene Informationen aus verschiedenen Quellen, etwa aus dem Gedächtnis oder Sinneswahrnehmungen, mithilfe von Sprache zu einer Botschaft zusammen, die über das Niveau von Einzelwörtern hinausreicht? Als erster Forscher wendete Hagoort Messmethoden an, mit denen er dem Gehirn beim Sprechen zuschauen kann. So entdeckte er unter anderem, dass das Gehirn zunächst grammatische Informationen über ein Wort sammelt, ehe es seinen Klang analysiert.

Wie lernen Kinder so einfach Sprache?

Kinder machen sehr schnell große Fortschritte im Sprachenlernen. Trotzdem können erst Erwachsene komplizierte Formulierungen ohne Probleme begreifen. Angela Friederici, Direktorin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften hat herausgefunden, warum das so ist: „Bis zum dritten Lebensjahr ist nur ein bestimmter Bereich des Großhirns bei der Sprachverarbeitung beteiligt. Erst danach kommt mit dem Broca-Areal langsam eine zweite zentrale Sprachregion dazu“, erklärt die Linguistin, Psychologin und Neurowissenschaftlerin. Das Broca-Areal ist ein wichtiges Sprachzentrum im Stirnbereich des Großhirns, das vor allem komplexe sprachliche Information verarbeitet. Wie Friederici herausfand, wird das Areal mit zunehmendem Alter nicht nur stärker aktiviert, sondern auch immer enger in das gesamte Sprachnetzwerk eingebunden. Entscheidend dafür ist der sogenannte Fasciculus arcuatus, ein Bündel aus Nervenfasern, das die beiden Sprachzentren, verbindet. Erst wenn er vollkommen ausgereift ist, können komplizierte Formulierungen genauso gut und schnell verarbeitet werden wie einfache.

Was haben die verschiedenen Sprachen weltweit gemeinsam?

Eine der großen Fragen der Linguistik ist seit langem: Welche universellen Prinzipien verbinden Sprachen weltweit? Die Suche nach Antworten gestaltet sich schwierig: Die Vielfalt der rund 7000 Sprachen, ihres Vokabulars und ihrer Grammatik ist so groß, dass sich kaum Kennzeichen finden lassen, die wirklich über alle Sprachfamilien hinweg gelten.

In der Abteilung „Sprache und Kognition“ von Stephen C. Levinson am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik suchen die Wissenschaftler daher nach Prinzipien, die außerhalb der Sprache liegen. So fanden sie beispielweise heraus, dass weltweit kurze Wörtchen wie „Häh?“ einem Sprecher signalisieren, dass ihn sein Gegenüber nicht verstanden hat. Zusätzlich entdeckten sie zwei weitere Strategien, mit denen Missverständnisse ausgeräumt werden. Dabei unterbrechen die Zuhörer jeweils den Gesprächsverlauf und bitten um Klarstellung des gerade Gesagten. „Ohne ein solches System würde unsere Kommunikation ständig fehlschlagen“, sagt Mark Dingemanse, der wesentlich an den Untersuchungen beteiligt war. Was banal klingt, erweist sich also als universelles und einmaliges Merkmal menschlicher Sprache.

Ganz neu ist die Erkenntnis, dass es weltweit bei bestimmten Begriffen eine überraschend deutliche Häufung bestimmter Laute und Buchstaben gibt. Das ergab eine Analyse von Forschern der Max-Planck-Institute für Menschheitsgeschichte und für Mathematik in den Naturwissenschaften. In einer Sammlung von gut 4000 Sprachen prüften sie für 40 Begriffe, ob diese häufiger oder seltener mit bestimmten Lauten belegt werden, als es der Zufall erlaubt. Tatsächlich fanden sie für 30 der Begriffe eindeutige Zusammenhänge. So enthalten die Wörter für „Zunge“ in vielen Sprachen ein e und ein l, u und k dagegen eher selten, Sand kommt weltweit oft mit einem a, ein Stein mit einem t. „Unserer Analyse zufolge werden bestimmte Laute bei einem großen Teil aller Begriffe über Kontinente und Sprachfamilien hinweg bevorzugt oder vermieden, und zwar von Menschen, die kulturell, historisch und geografisch sehr verschieden sind“, sagt Damián Blasi, einer der Hauptautoren der Studie.

Russel Gray, Direktor am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte geht der Frage nach, wie die Vielzahl der Sprachen entstanden ist. Seine Ausgangsthese ist, dass sie sich ebenso evolutionär entwickelt haben wie körperliche Merkmale. Mithilfe computergestützter Modellierungsmethoden arbeitet er daran, Stammbäume für Sprachen zu erstellen. Grays Ziel ist, darzustellen, wann und warum sich verschiedene Idiome auseinanderentwickelt haben.

Wie verwenden wir Sprache?

Sprache ist zum Sprechen da, aber genau das ist für die Forschung eine Herausforderung. Alltägliche Unterhaltungen sind im Vergleich zu Tests unter Laborbedingungen sehr heterogen und damit schwieriger zu analysieren. Trotzdem hat gerade die Untersuchung von Gesprächen in letzter Zeit zu interessanten Ergebnissen geführt. So haben Forscher um Stephen C. Levinson am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik herausgefunden, dass sich Menschen in Gesprächen erstaunlich schnell abwechseln. Nur rund 200 Millisekunden beträgt die Zeit zwischen der Aussage eines Sprechers und der Antwort seines Gegenübers. Das ist deswegen so überraschend als unser Gehirn mindestens 600 Millisekunden braucht, um ein Wort zu generieren. Damit überschneiden sich Sprachverstehen und Sprachproduktion, das heißt, wir antworten zwangsläufig, bevor wir überhaupt über eine Antwort nachdenken konnten.

Welche Taktiken Menschen dabei anwenden, untersucht Levinsons Kollegin Antje Meyer, Direktorin der Abteilung Psychologie der Sprache. Eine Möglichkeit ist etwa, zunächst einige Worte aus dem Satz des Vorredners aufzugreifen und dadurch Zeit zu gewinnen, zur eigentlichen Aussage zu kommen. Auf die Frage „Was ist dein Lieblingsessen?“, kann die Antwort dann beispielsweise lauten: „Mein Lieblingsessen? – Das ist Pizza.“ Langsameres Sprechen und Pausen im Satz, die oft mit „Ähs“ gefüllt werden, helfen dem Sprecher ebenfalls, Zeit zum Denken zu gewinnen.

Mit einer ganz besonderen Verwendung von Sprache befasst sich Winfried Menninghaus, Direktor am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik. Er untersucht, welche Wirkung Gedichte und Prosa auf den Menschen entfalten – und zwar nicht nur mental, sondern auch die körperlich. Dabei entwickelt er neue Kategorien und Methoden, um ästhetisch wirksamer Merkmale sinnvoll zu beschreiben – von sprachlichen Beschreibungen bis zu vergleichenden Untersuchungen in Bezug auf Rhythmus, Metrum und Sprachmelodie. Eine wichtige Erkenntnis ist: Egal, welche Texte wir hören oder lesen, unser Körper schlägt immer aus. Gerade Gedichte wühlen uns emotional fast genauso auf wie unsere Lieblingsmusik. Die Erklärung dafür liegt laut Menninghaus unter anderem darin, dass jeder von Geburt an in der Kommunikation mit den Eltern, an den Versmaß-ähnlichen Rhythmus der Sprechprosodie gewöhnt ist. „Wir kommen über die Lyrik zur Sprache“, sagt Menninghaus. Deswegen ist unsere Aufmerksamkeit besonders anfällig für Rhythmus und Reim.

Fragen über Fragen

Nicht nur Linguisten und Literaturwissenschaftler, Psychologen, Kognitionsforscher und Genetiker befassen sich mit dem umfassenden Thema Sprache, sondern auch Forscher angrenzender Gebiete. So untersuchen Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, wie Schüler am besten Lesen lernen, wobei naheliegt, dass die Kinder zuvor gefestigte Sprachkenntnisse brauchen. Am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte ist „Translation“ ein zentrales wissenschaftliches Thema, also die Übertragung von Rechtstexten in andere Sprachen und Kulturen. Und selbst in weiter entfernten Disziplinen dreht sich die Forschung um Sprache im weiteren Sinne: etwa am Max-Planck-Institut für Ornithologie, an dem sich eine Forschungsgruppe damit befasst, wie Raben und andere Tiere mit Gesten kommunizieren. Oder im Max-Planck-Institut für Informatik, wo Forscher daran arbeiten, per Computer Hörfassungen von Filmen für Blinde zu generieren. Die Forschungsfragen rund um das Phänomen Sprache und Sprechen werden den Wissenschaftlern also noch lange nicht ausgehen.

MEZ

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