Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus
Die Max-Planck-Gesellschaft hat 1997 eine Kommission unabhängiger Historiker eingesetzt, um die Geschichte ihrer Vorgängerorganisation, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), im Nationalsozialismus umfassend aufzuarbeiten. Das Projekt wurde 2007 abgeschlossen: 17 Forschungsbände und 28 Vorabdrucke legen offen, welchen Anteil Wissenschaftler und Forschungsmanager der Kaiser-Wilhelm-Institute (KWI) und der Generalverwaltung am NS-Staat hatten. Außerdem dokumentiert ein Gedenkbuch biografische Schicksale der ab 1933 aus rassistischen und politischen Gründen aus Deutschland vertriebenen 104 Wissenschaftler.
Hintergründe
Die umfassende öffentliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus begann in Deutschland erst spät im Anschluss an die Frankfurter Auschwitzprozesse und im Zuge der Studentenbewegungen der 1960er und 1970er Jahre. Besonders lange dauerte es, bis sich auch Forschungsorganisationen und Universitäten ihrer Vergangenheit im „Dritten Reich“ stellten. In der Max-Planck-Gesellschaft hatte es bis in die achtziger Jahre hinein Tradition, an die herausragenden Forschungsleistungen und Nobelpreise der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu erinnern, ohne deren prominente Rolle im nationalsozialistischen System zu sehen. Stattdessen wurde der Mythos der angeblich politikfernen Grundlagenforschung beschworen. Diese Politik eines kollektiven Verdrängens wurde durch die Tatsache begünstigt, dass im „Dritten Reich“ handelnde Akteure und Mitläufer nach 1945 nicht zur Rechenschaft gezogen wurden und vertriebene Wissenschaftler in der Regel nicht in die Max-Planck-Gesellschaft zurückkehrten.
Erst In den 1990er Jahren begann die Max-Planck-Gesellschaft, die ab 1948 unter neuem Namen fast alle in den westlichen Besatzungszonen noch bestehenden Institute der KWG weitergeführt hatte, sich kritisch mit ihrer Vorgängerorganisation auseinanderzusetzen. Diese Verzögerung war in den 1950er und 1960er Jahren begünstigt worden durch die Gründung einer Fülle neuer Institute und die Schließung oder Transformation historischer Institute aus der Zeit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Diese Veränderungen förderten innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft die Vorstellung, einer neuen Einrichtung anzugehören, die mit der NS-Vergangenheit der KWG allenfalls begrenzt in Verbindung gestanden habe.
Gleichzeitig stellte die Öffentlichkeit immer drängendere Fragen. Historiker und Publizisten wie Ernst Klee, Götz Aly, Benno Müller-Hill und Kristie Macrakis begannen erste Ergebnisse über die Rolle der KWG im „Dritten Reich“ vorzulegen. Auch in manchen Max-Planck-Instituten reflektierte man nun, Erbe einer vom Nationalsozialismus belasteten Forschung zu sein. Im Max-Planck-Institut für Hirnforschung, das aus dem Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung hervorgegangen war, befanden sich Präparatesammlungen aus den 1920er und 1930er Jahren, die teilweise von Opfern der NS-„Euthanasie“-Tötungsaktionen stammten. 1990 entschied sich die MPG, diese Hirnpräparate in einer Gedenkstunde auf dem Münchner Waldfriedhof zu bestatten. Die Idee, dass eine umfassende Aufarbeitung der NS-Geschichte notwendig sei, nahm in dieser Zeit unter den Präsidenten Heinz Staab und Hans Zacher konkrete Züge an.
Die Arbeit der Präsidentenkommission
1997 schließlich setzte der damalige Max-Planck-Präsident Hubert Markl eine Kommission unabhängiger Historiker ein, die die Geschichte der KWG während des „Dritten Reichs“ untersuchen sollten. Mit der Leitung wurden Reinhard Rürup von der Technischen Universität Berlin und Wolfgang Schieder von der Universität Köln betraut. Beide Historiker gehörten nicht der Max-Planck-Gesellschaft an. Als anerkannte Experten für Antisemitismusforschung, Institutionengeschichte und NS-Geschichte begannen sie, die Geschichte der KWG zwischen 1933 und 1945 zu rekonstruieren, wobei ihnen und den zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Forschungsprojekts alle Archive und Nachlässe offen standen.
Im Fokus der Aufarbeitung standen die Politik der Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die biowissenschaftliche, medizinische und psychiatrische Forschung in den entsprechenden Instituten sowie die Rüstungsforschung und die agrarwissenschaftliche Züchtungsforschung im Kontext von Krieg und Ostexpansion des „Dritten Reichs“. Außerdem wurde untersucht, welche Rolle einflussreiche Protagonisten der Wissenschaftsorganisation spielten, darunter auch der Nobelpreisträger und spätere langjährige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Adolf Butenandt.
Ergebnisse
Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass viele Wissenschaftler der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und die Verantwortlichen in der Generalverwaltung in vielfältiger Weise am NS-System Anteil gehabt hatten (siehe Publikationen aus dem Forschungsprogramm). Oft kooperierten Forscher bereitwillig und ohne Zwang mit dem NS-Staat, indem sie eigene Forschungsinteressen mit den politischen und militärischen Zielen des Regimes zum beiderseitigen Vorteil verbanden. In den meisten Kaiser-Wilhelm-Instituten waren die Übergänge zwischen wissenschaftlichen Interessen und der Einbindung in Politik und Zielsetzungen des NS-Regimes fließend. Vor allem in den Biowissenschaften überschritten Wissenschaftler eindeutig ethische Grenzen. Die Kaiser-Wilhelm-Institute für Hirnforschung und für Psychiatrie bezogen menschliche Präparate aus „Euthanasie“-Tötungsanstalten. Wissenschaftler des KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, allen voran dessen Gründungsdirektor Eugen Fischer, bekannten sich bereits 1933 ideologisch zur nationalsozialistischen Rassepolitik und unterstützten diese, indem sie an entsprechenden Gesetzesvorlagen mitarbeiteten und an der Vermittlung der Rasseideologie an Juristen, Ärzte und Pfleger aktiv mitwirkten. Der spätere Direktor des KWI für Anthropologie, Otmar von Verschuer, unterhielt ab 1942 gute Kontakte zum Lagerarzt von Auschwitz Joseph Mengele und bezog über ihn gezielt Blutproben sowie Präparate von im KZ ermordeter Menschen.
Doch auch die technisch-physikalisch ausgerichteten Kaiser-Wilhelm-Institute fügten sich ins System des „Dritten Reichs“ ein. Das KWI für Strömungsforschung wurde ab 1933 zur Großforschungseinrichtung ausgebaut, die Rüstungsforschung im Auftrag des Reichsluftfahrtministeriums betrieb. Die KWI für Metallforschung, Silikatforschung und Lederforschung arbeiteten an der Entwicklung von Ersatzstoffen und der Verbesserung von kriegswichtigen Materialien und ihre Direktoren sympathisierten auch persönlich mit dem Nationalsozialismus. Von den Eroberungsfeldzügen der deutschen Wehrmacht profitierte auch die Forschung. Am KWI für Züchtungsforschung entwickelte man neue Kulturpflanzen, die den zum Teil harten klimatischen Bedingungen in den besetzten Gebieten besonders entsprachen und unterstützte damit das Ziel des NS-Staates, „Lebensraum im Osten“ zu schaffen, und die sich darin ausdrückenden Weltherrschaftspläne. Das Institut betrieb ab 1944 auch eine Station für Kautschukzüchtung in Auschwitz, in der Zwangsarbeiterinnen aus dem KZ tätig waren.
Ohne größeren Widerstand der Verantwortlichen in der Generalverwaltung und an den Instituten, aber auch der meisten Mitarbeiter, waren ab 1933 die jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der KWG vertrieben worden. Einige konnten dank ihres Renommees und ihrer internationalen Kontakte im Ausland ihre Karrieren fortsetzen. Viele andere aber scheiterten daran, sich in die wissenschaftliche Organisation ihrer Exilländer zu integrieren und konnten nicht mehr an ihre ehemaligen Erfolge anknüpfen. Von den 126 vertriebenen Wissenschaftlern der KWG wurden Fritz Epstein und Fritz Duschinsky sowie zwei Mitarbeiterinnen der Verwaltung in Konzentrationslagern ermordet.
Während die Generalverwaltung in der Amtszeit Max Plancks (1930-1937) noch versucht hatte, zumindest eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren, fügte sie sich unter dessen Nachfolgern und erst recht während des Krieges immer stärker den Erwartungen des NS-Staats. Mit Carl Bosch und vor allem Albert Vögler wurden Präsidenten berufen, die vom Regime akzeptiert waren, bzw. dieses – wie im Fall Vögler – aktiv unterstützten. Jene Wissenschaftler und Mitarbeiter, die dem „Dritten Reich“ weiterhin skeptisch oder sogar ablehnend gegenüberstanden, traten öffentlich nicht in Erscheinung und vermieden die Auseinandersetzung mit dem herrschenden Regime. Darunter Max von Laue, Otto Hahn und auch Max Planck.
Entschuldigung bei den Opfern
Als Nachfolgeorganisation der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft hat die Max-Planck-Gesellschaft hierfür die historische Verantwortung übernommen. 2001 veranstaltete sie zusammen mit der historischen Forschungskommission das Symposium „Biowissenschaften und Menschenversuche an den Kaiser-Wilhelm-Instituten“, bei dem Historikerinnen und Historiker, Vertreter der MPG und überlebende Opfer zusammenkamen. Der damalige Präsident Hubert Markl entschuldigte sich bei den Überlebenden der verbrecherischen Humanexperimente und Zwillingsversuche, die in Verbindung mit der Forschung am KWI für Anthropologie in Auschwitz stattgefunden hatten, mit folgenden Worten: „Um Verzeihung bitten kann eigentlich nur ein Täter. Dennoch bitte ich Sie, die überlebenden Opfer, von Herzen um Verzeihung für die, die dies, gleich aus welchen Gründen, selbst auszusprechen, versäumt haben.“ Markl bekannte sich auch dazu, dass die Max-Planck-Gesellschaft lange Zeit zu wenig zur Aufklärung der Geschichte der KWG im Nationalsozialismus beigetragen und sich somit ihrer historischen Verantwortung zu spät gestellt hat, indem er abschloss: „Die ehrlichste Art der Entschuldigung ist die Offenlegung der Schuld.“
Ausblick
In einem auf sieben Jahre angelegten Forschungsprogramm wird die Max-Planck-Gesellschaft ihre Geschichte ab 1948 in allen Facetten untersuchen. Dabei wird ihre Dynamik ebenso beleuchtet wie ihre ethischen Fehltritte, ihre produktiven Irrwege und die Erfolge ihrer Forschung. Das am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte angesiedelte Forschungsprojekt kann nun mit der Arbeit beginnen, nachdem der wissenschaftliche Beirat – unter Einbindung unabhängiger externer Wissenschaftler – und führende operative Positionen des Projekts zum großen Teil besetzt wurden.