Die Kartografen der toten Gedanken

Vor 100 Jahren wurde in Berlin das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung gegründet. Erster Direktor war Oskar Vogt, ein ehrgeiziger Wissenschaftler, der mit der Untersuchung von Lenins Gehirn berühmt wurde. Seine Frau Cécile und er lieferten wichtige Erkenntnisse zum Bau der Großhirnrinde – und saßen auch manchem Irrtum auf.

Text: Elke Maier

Der Auftrag, den Oskar Vogt im Januar 1925 aus Moskau bekam, war für den passionierten Hirnforscher an sich nichts Besonderes: Er sollte das Gehirn eines Toten untersuchen. Dafür würde man es in dünne Scheibchen schneiden, um seine Feinstruktur im Mikroskop sichtbar zu machen. Dass es sich dabei um das Denkorgan von Wladimir Iljitsch Lenin handelte, machte daraus allerdings eine Sache von größter politischer Tragweite.

Der Revolutionsführer war am 21. Januar 1924 im Alter von nur 53 Jahren auf seinem Landsitz in Gorki verstorben. Bei seiner Obduktion hatte man das nach mehreren Schlaganfällen schwer in Mitleidenschaft gezogene Gehirn entnommen und in Formalin konserviert. Eine detaillierte Gehirnanalyse sollte nun ans Licht bringen, was sich hinter Lenins herausragendem Intellekt verbarg.

Für diesen bedeutenden Auftrag schien Oskar Vogt der richtige Mann: Der 54-Jährige zählte zu den führenden Hirnforschern weltweit und kannte sich in Hirnanatomie und -pathologie, Neurologie und Psychiatrie bestens aus. Unter seiner Anleitung fertigte seine technische Assistentin Margarete Woelcke von Mitte 1925 bis Mitte 1927 in Moskau eine umfangreiche Schnittserie von Lenins Hirn an, Tausende in Paraffin eingebettete Präparate.

Vogt übernahm die histologische Analyse im Moskauer Institut für Hirnforschung, dem „Pantheon der Gehirne“, das eigens für die Untersuchung von Lenins Gehirn gegründet worden war – mit Oskar Vogt als Direktor. Seine Ergebnisse fasste er wie folgt zusammen: Die dritte Rindenschicht offenbarte eine enorme Zahl von außergewöhnlich großen Pyramidenzellen. Damit habe Lenins Gehirn eine „bei weitem reichere Basis“ als das eines Normalsterblichen und mache den Genossen zu einem „Assoziationsathleten“. Die Sowjetregierung war zufrieden. Die Parteizeitung Prawda fand, der Befund sei „ein bedeutender Beitrag zur materialistischen Erklärung des Psychischen überhaupt“.

Die Theorie, dass sich die Fähigkeiten eines Menschen aus der Architektur seines Gehirns ablesen lassen, leitete Oskar Vogts gesamtes Forscherleben – so wie auch das seiner fünf Jahre jüngeren Frau Cécile. Oskar Vogt hatte Medizin und Zoologie studiert, unter anderem bei dem berühmten Ernst Haeckel in Jena. Seine zukünftige Frau lernte er 1898 während eines Studienaufenthalts in Paris kennen. Die damals 22-jährige Cécile Mugnier hatte als eine der ersten Frauen in Frankreich Medizin studiert und konnte eine profunde neurowissenschaftliche Ausbildung vorweisen. Nach ihrer Heirat ließen sich die beiden in Berlin nieder und gründeten in einem Mietshaus in der Magdeburger Straße die private „Neurologische Centralstation“.

Daneben arbeitete Oskar Vogt als Nervenarzt und machte sich nicht zuletzt durch innovative Hypnosepraktiken einen Namen. Hypnotisiert wurde etwa „nach Geschlechtern getrennt“, „mit mehreren Personen in einem Raum“, aber auch im Freien, „auf Hängematten in Wandelgängen“ oder „an geschützten Stellen im Wald“. Das „gedankenfaule, behaglich einlullende Hindämmern“ kam an bei der wohlhabenden Klientel und bescherte den Vogts ein einträgliches Auskommen. Zu den Patienten zählten auch der Industriemagnat Friedrich Alfred Krupp und dessen Frau. Zwischen dem Arzt und dem Industriellenehepaar entwickelte sich eine Freundschaft, die sich für die Karriere der Vogts als sehr zuträglich erweisen sollte.

Zunächst sorgte die Unterstützung aus dem Hause Krupp dafür, dass die „Neurologische Centralstation“ im Jahr 1902 als „Neurobiologisches Universitäts-Laboratorium“ der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin angegliedert wurde. Anfang 1914 konnte Oskar Vogt schließlich – erneut mit Rückendeckung der Familie Krupp – die Einrichtung eines Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung durchsetzen. Er selbst wurde zum Direktor berufen. Das Institut blieb zunächst in der Magdeburger Straße, bis Ende der 1920er-Jahre durch die großzügige Unterstützung der Rockefeller-Stiftung ein Institutsneubau errichtet werden konnte. Er entstand nahe der Städtischen Heil- und Pflegeanstalt (ehemals III. Irrenanstalt) in Berlin-Buch.

Am 2. Juni 1931 fand die feierliche Einweihung statt. Die internationale Presse durfte das Institut aber schon vorab besichtigen. In der Vossischen Zeitung vom 20. Dezember 1930 erschien ein ausführlicher Beitrag. Der Verfasser, Arthur Koestler, zeigt sich abgestoßen und fasziniert zugleich. Professor Vogt „hielt einen Vortrag mit Lichtbildern, an denen man das Gruseln lernen konnte“, schreibt er. Und: „ Unser Intellekt in Paraffin ist wirklich kein schöner Anblick. Er reizt die Magennerven einerseits und regt andererseits zu philosophischen Wald- und Wiesenbetrachtungen an ...“

Beeindruckt ist Koestler von der seriellen Anfertigung von Hirnschnitten: „Bis zu 35000 Schnitte werden aus einem einzigen Hirn hergestellt!“ Dabei handelt es sich um „Schnitte von phantastisch dünnem Querschnitt“. Ein Mensch bräuchte etwa ein Jahr, „um mit einem Hirn fertig zu werden“, und die Prozedur verschlang „6000 Mark pro Denkapparat“. Nach ihrer Untersuchung würden die fertigen Schnitte in einem „feuersicheren Turm untergebracht“, in einer „Kartothek der toten Gedanken“.

Das damals weltweit größte Institut für Hirnforschung verfügt über „einen wahren Irrgarten der verschiedensten Laboratorien,  Werkstätten und Sonderabteilungen, die Spezialaufgaben bearbeiten“, darunter „eine Reproduktionsabteilung mit allen Schikanen für Mikrofotografie, Kinematografie und sogar einer eigenen Druckerei“. Es gibt Labors, die für verschiedene Experimente schalldicht, erschütterungssicher oder gegen elektromagnetische Wellen abgeschirmt sind. Auch eine kleine Forschungsklinik gehört zum Institut.

Vossische Zeitung vom 20. Dezember 1930

„Der Eindruck, den dieser Wunderbau des sezierten Intellektes bei seinen Besuchern hinterließ, war geradezu überwältigend. Planck selbst hat diesen Eindruck [...] formuliert: die letzte Bedeutung der Wissenschaft bestehe ja schließlich doch in ihrer Anwendung auf das Leben; und wenn uns die Erforschung des menschlichen Gehirns so besonders bedeutsam anmute – so beruhe dies endlich und schließlich darauf, daß wir selbst alle Hirne haben ...“

Das Ehepaar Vogt leitete die Abteilung „Architektonische Hirnforschung“. Psychische Krankheiten betrachteten sie – im Gegensatz zu Sigmund Freud – nicht als Erkrankungen der Seele, sondern vor allem des Gehirns. Ziel ihrer Studien war es daher, das morphologische Substrat dieser Krankheiten ausfindig zu machen. Dafür sammelten sie Gehirne zusammen mit klinischen Daten Verstorbener und stellten Vergleiche an. Besonders interessiert waren sie dabei an „Extremtypen“: Ihr Plan war, eine umfangreiche Sammlung von Elite- und Verbrechergehirnen zusammenzutragen, um dem Sitz von Genialität oder kriminellen Handlungen auf die Spur zu kommen.

Heute weiß man, dass die Hirnstruktur nichts über Begabungen, Charaktereigenschaften oder den Hang zum Verbrechertum verrät – genauso wenig, wie sich der Intellekt eines Menschen aus der Größe oder Architektur seines Denkorgans ablesen lässt. Andere Erkenntnisse des Forscherehepaars, etwa ihre Beiträge zur Kartografie der Hirnrinde beim Menschen und bei Säugetieren, sind dagegen heute noch gültig.

Anders als erhofft, währte die Arbeit der Vogts am Berliner Institut aber nicht lange. Die Nationalsozialisten kreideten Oskar Vogt seine Verbindungen zur Sowjetunion sowie die liberale und internationale Atmosphäre im Institut an und schickten ihn kurzerhand in Pension. Im Jahr 1937 verließen er und seine Frau Berlin und bauten – wiederum mithilfe der Familie Krupp – in Neustadt im Schwarzwald eine neue Forschungsstätte auf, wo sie bis ins hohe Alter weiterarbeiteten. Im Krieg boten sie dort auch Verfolgten Unterschlupf.

Sechzig Jahre lang haben Oskar und Cécile Vogt eng zusammengearbeitet. In der Öffentlichkeit wurde aber vor allem Oskar Vogt gewürdigt, die Leistungen seiner Frau jedoch oft übersehen. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach ihrem Tod 1962 erschien Céciles Konterfei schließlich auf einer 140-Pfennig-Briefmarke der Deutschen Bundespost.

Nach Oskar Vogts Weggang wurde der Neuropathologe Hugo Spatz sein Nachfolger am Berliner Institut. Er und sein Mitarbeiter Julius Hallervorden untersuchten dort auch Gehirne von Opfern des „Euthanasie“-Massenmordes an psychisch Kranken und geistig Behinderten. Um an „Material“ für die Erforschung von Epilepsie und „angeborenem Schwachsinn“ zu kommen, hatten die Forscher keine Skrupel, auch auf die Gehirne von Opfern der NS-Tötungsaktionen („Euthanasie“) zurückzugreifen, darunter viele Kinder.

Mit der „Sammlung Hallervorden“ gelangten diese Hirnpräparate 1962 in das neue Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Dort lagerten sie weitere zwei Jahrzehnte zwischen Millionen anderen. Erst in den 1980er-Jahren deckte der Historiker und Journalist Götz Aly durch einen akribischen Vergleich von Schnittnummern in Frankfurt und Patientenakten in Brandenburg-Görden ihre wahre Herkunft auf. Am 25. Mai 1990 wurden sämtliche Hirnschnitte aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 auf dem Münchner Waldfriedhof bestattet.

Die fast neunzig Jahre alten Schnitte von Lenins Hirn befinden sich noch immer im Moskauer Institut für Hirnforschung, fein säuberlich beschriftet und durch mehrere Sicherheitstüren von der Außenwelt getrennt. Auch das Gehirn des Physikers, Dissidenten und Friedensnobelpreisträgers Andrei Dmitrijewitsch Sacharow wird dort scheibchenweise aufbewahrt. Damit ruhen die Denkorgane des Gründers der Sowjetunion und des Systemkritikers Seite an Seite. Trotzdem wird die Hirnforschung nicht herausfinden, wer von beiden der größere Geist war.

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