Moral lohnt sich

Die Kopplung von zwei Ansätzen der Spieltheorie kann die Entwicklung moralischer Normen erklären

Selbstloses Verhalten und Kooperation sind keine Selbstverständlichkeit, aber sie halten menschliche Gesellschaften zusammen. Warum es sich für Individuen lohnen kann, das eigene Interesse hintan zu stellen, hat Mohammad Salahshour in einer spieltheoretischen Studie am Leipziger Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften erklärt. Indem er zwei Spiele zu einem sozialen Dilemma und zu einer Gruppenentscheidung kombiniert, kann er die Entwicklung moralischer Normen nachvollziehen.

Eine fundamentale Frage der Menschheit lautet: Warum verhalten wir uns moralisch? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass wir unter bestimmten Umständen unser Eigeninteresse hintan stellen und uns in den Dienst einer Gruppe stellen – manchmal bis zur Selbstaufgabe. Viele Theorien wurden entwickelt, um dem Moral-Rätsel auf den Grund zu gehen. Zwei bekannte Lösungsvorschläge lauten: Individuen helfen ihren Verwandten, damit die gemeinsamen Gene überleben (Verwandtenselektion). Außerdem gelte das Prinzip „Eine Hand wäscht die andere“ – wenn man sich gegenseitig hilft, profitieren am Ende alle davon (Prinzip der Gegenseitigkeit).

Das Gefangenendilemma, kombiniert mit einem Entscheidungsproblem

Der Mathematiker Mohammad Salahshour, der vom Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften inzwischen ans Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz gewechselt ist, hat die Werkzeuge der Spieltheorie genutzt, um die Entstehung moralischer Normen zu erklären – denn die Spieltheorie untersucht, wie man sich in Konfliktsituationen rational entscheidet. Bei Salahshour standen zu Beginn folgende Fragen: Warum gibt es überhaupt moralische Normen? Und warum unterscheiden sie sich manchmal im Kern stark? Während etwa die Regel, anderen zu helfen, selbstloses Verhalten fördert, hat eine Kleiderordnung weniger damit zu tun, Egoismus einzudämmen. Um die Fragen zu beantworten, koppelte Salahshour zwei Spiele miteinander: Erstens das klassische Gefangenendilemma, bei dem zwei Spieler entscheiden müssen, ob sie für eine kleine Belohnung kooperieren oder sich für eine deutlich größere Belohnung verraten. Dieses Spiel ist ein typisches Beispiel für ein soziales Dilemma, in dem sich Personen in einer Gruppe selbstlos verhalten müssen, damit die Gruppe als ganze erfolgreich ist: In diesem Spiel kommen alle schlechter weg, wenn sie sich egoistisch verhalten, verglichen mit einem Szenario, in dem sich alle selbstlos verhalten. Wenn jedoch nur einzelne eigensüchtig handeln, können sie ihre altruistischen Mitspieler übervorteilen. Zweitens ein Spiel, in dem typische Entscheidungen innerhalb von Gruppen im Mittelpunkt stehen – etwa eine Koordinierungsaufgabe, die Verteilung von Ressourcen, die Wahl eines Anführers oder eine Konfliktlösung.

Ohne die Kopplung der beiden Spiele ist klar: Im Gefangenendilemma profitieren die Einzelnen durch egoistisches Verhalten am meisten – wenn es genügend andere gibt, die sich selbstlos zeigen. Mit egoistischem Verhalten können Menschen aber Koordinierungsaufgaben nicht effizient lösen: Weil sie ihre Aktivitäten nicht miteinander abstimmen, verschwenden sie Ressourcen. Anders kann es sich verhalten, wenn die Ergebnisse der beiden Spiele insgesamt betrachtet werden und es moralische Normen gibt, die Kooperation begünstigen: Nun zahlt sich Kooperation im Gefangenendilemma plötzlich aus – weil der Gewinn im zweiten Spiel den Verlust im ersten Spiel mehr als kompensiert. Kooperation erweist sich unter diesen Umständen als eine auch für das Individuum lohnende Verhaltensweise. Und genau dadurch können sich soziale Normen und moralische Standards herausbilden.

Aus Eigennutz zu koordiniertem und kooperativem Verhalten

Als Folge dieses Prozesses entstehen nicht nur kooperative Verhaltensweisen, sondern auch eine gesellschaftliche Ordnung. Von ihr profitieren alle Individuen – und aus diesem Grund zahlt sich moralisches Verhalten für sie aus. „In meinem evolutionären Modell gab es zu Beginn keine selbstlosen Verhaltensweisen, aber durch die Kopplung der beiden Spiele sind immer mehr moralische Normen entstanden“, berichtet Salahshour. „Dann habe ich einen plötzlichen Übergang zu einem System beobachtet, in dem es viel Kooperation gibt.“ In einem moralischen Zustand entwickeln sich Regeln, mit denen Menschen ihre Aktivitäten besser koordinieren können – auf diese Weise können sich moralische Standards und Normen entwickeln. Und genau solche Regeln der Koordinierung begünstigen letztlich auch Kooperation: Dann zahlt sich kooperatives Verhalten nicht nur für die Gemeinschaft, sondern auch für die Einzelnen aus. Mohammad Salahshour erklärt: „Ein moralisches System gleicht einem trojanischen Pferd: Wenn sich aus dem Eigeninteresse der Einzelnen heraus Regeln entwickeln, die für Ordnung und Organisation sorgen, führt das letztlich auch zu selbstloser Kooperation.“

Mit seiner Arbeit will Salahshour soziale Systeme besser verstehen. „Das kann in Zukunft dazu beitragen, die Lebensbedingungen von Menschen zu verbessern“, erklärt er. „Man kann meinen spieltheoretischen Ansatz aber auch dazu nutzen, um die Entstehung sozialer Normen in den Sozialen Medien zu erklären. Dort tauschen Menschen Informationen aus und treffen gleichzeitig strategische Entscheidungen – zum Beispiel, wen sie unterstützen oder für welche Sache sie sich engagieren.“ Auch hier seien zwei Dynamiken zugleich am Werk: der Austausch von Informationen und die Entstehung von Kooperations-Strategien. Noch ist deren Zusammenspiel nicht gut verstanden – aber vielleicht wirft die Spieltheorie auch auf dieses aktuelle Thema bald ein neues Licht.

CBu

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