Schutzlos in der Quarantäne
Gewalt in Partnerschaften in Zeiten von Covid-19 und wie autoritäre Staatsführung sie verschlimmert
Da auch potenzielle Straftäter die Anordnungen befolgen und zuhause bleiben, verzeichnen derzeit weltweit viele Städte einen deutlichen Rückgang sowohl bei Eigentumsdelikten als auch bei Gewaltverbrechen. Das ist in erster Linie auf einen Mangel an Gelegenheiten zurückzuführen und auf die Einsicht der potenziellen Täter, dass es lebenswichtig ist, sich zum Schutz vor dem Coronavirus von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Aber viele Menschen durchleben momentan eine besonders schreckliche Zeit, und sie ist noch nicht vorbei: Opfer von Gewalt in der Partnerschaft werden wahrscheinlich noch länger unter der ständigen Bedrohung leiden, Tag für Tag mehr oder weniger rund um die Uhr zuhause auf engstem Raum mit ihrem Aggressor leben zu müssen.
Ein Essay von Katalin Parti und Gunda Wössner
Innerhalb weniger Wochen wurden Millionen von Menschen aufgefordert, sich von öffentlichen Plätzen fernzuhalten und zu Hause zu bleiben, um das Coronavirus einzudämmen. Die Staaten haben verschiedene Stufen von Quarantäne, Ausgangssperren, Shutdown- oder "Lockdown"-Maßnahmen erlassen, um die Infektionskurve des Virus durch soziale Distanzierung abzuflachen. Lockdown ist kein Fachbegriff, er kann sich auf alles beziehen, von obligatorischen Quarantänemaßnahmen in einem bestimmten Gebiet über unverbindliche Empfehlungen, zu Hause zu bleiben, bis hin zu der Schließung bestimmter Arten von Unternehmen bzw. Institutionen oder dem Verbot von Veranstaltungen und Versammlungen. Menschen gingen also nicht mehr zur Arbeit, Schulen wurden geschlossen und Universitäten stellten für den Rest des Semesters auf Online-Lehre um.
Zu dem Zeitpunkt als dieser Artikel verfasst wurde, galt für mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung irgendeine Form von Restriktion. Die Anordnungen begannen im Januar 2020 in China, wurden im März in Italien fortgesetzt und von anderen Ländern in Europa befolgt. In den USA fing der Lockdown Mitte März in Kalifornien an und verbreitete sich rasch im ganzen Land. Bis Mitte April wurden mindestens 316 Millionen Menschen (95 Prozent der Bevölkerung) in mindestens 42 Bundesstaaten der USA aufgefordert, zu Hause zu bleiben, um die Epidemie einzudämmen.
Durch diese Interventionen zur Eindämmung des Virus verringerte sich die Gesamtkriminalitätsrate. In Chicago sanken die Verhaftungen wegen Drogenkonsums um 42 Prozent, während in Los Angeles die Rate der in der Statistik erfassten Verbrechen nach der Abriegelung der Städte um 30 Prozent fiel. In New York City ging die Kriminalität innerhalb nur weniger Wochen nach dem Lockdown um etwa 40 Prozent zurück. In San Francisco und Oakland reduzierte sich die tägliche Gesamtzahl der kriminellen Vorfälle nach der Anordnung von Hausarrest um 40 Prozent. Dies scheint ein globales Phänomen zu sein, da in zahlreichen Staaten auf dem amerikanischen Kontinent und der ganzen Welt die Straßenkriminalität seit Inkrafttreten der Ausgangsbeschränkungen weiter zurückgegangen ist. Auch wenn für Deutschland valide Daten bislang fehlen, ist die Zahl der erfassten Straftaten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ebenfalls rückläufig.
Doch nicht alle Straftaten gingen durch die Pandemie zurück. Häusliche Gewalt, innerfamiliäre Übergriffe und gezielte Gewaltverbrechen ganz zu schweigen von Ordnungswidrigkeiten – wie z.B. Lärmbeschwerden in Wohngebieten – haben seit Inkrafttreten der Verordnungen zugenommen. Dass die Zahlen bei häuslicher Gewalt nicht in dem erwarteten Maße angestiegen sind, könnte weitgehend darauf zurückzuführen sein, dass zu wenig Fälle an offizielle Stellen gemeldet wurden, bzw. auf die fehlende Kontrollfunktion von nunmehr geschlossenen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen, aber auch von Krankenhäusern. Auch Verunsicherung und die fehlende Möglichkeit, sich in Zeiten der Quarantäne vertrauensvoll an Hilfsorganisationen zu wenden, erschweren die Erfassung valider Zahlen. Denn Opfer häuslicher Gewalt stehen durch die Quarantäne unter der ständigen Kontrolle ihrer Peiniger und können sich dieser kaum entziehen.
In autoritären Regimen ist die Situation noch schlimmer
Besonders stark leiden Opfer von häuslicher Gewalt in autoritären Regimen. Denn dort geraten die individuellen Rechte unter die Räder von Machtdemonstration und Unterdrückung. Krisen dienen aufstrebenden autoritären Regimen als gute Gelegenheit, demokratische Institutionen zurückzudrängen und Freiheiten zu beschneiden. Auf diese Weise institutionalisieren Regierungen ihre Regierungsgewalt per Dekret. Ähnliche Tendenzen gibt es in Ländern, in denen die demokratischen Institutionen fragil sind und die Führer die Krise nutzen, um ihre Macht zu konsolidieren. Demokratische Institutionen wie auch zivilgesellschaftliche Organisationen sind in autoritären Regimen unterentwickelt oder werden unterdrückt. Menschen werden entmutigt und manchmal sogar bestraft, wenn sie sich zu Wort melden oder ihre Bedürfnisse geltend machen, vor allem, wenn dies gegen die populistische politische Agenda ihrer Regierungen gerichtet ist. Basisdemokratische Initiativen, darunter auch feministische Organisationen, werden in diesen Ländern gegängelt und schließlich verboten.
Autoritäre Regime vermitteln den Menschen den Mythos, nur die Regierung könne den notwendigen Schutz vor Gefahren von außen gewährleisten. Politischer Populismus lebt von der Ideologie des "Schutzes": Schutz vor Immigranten, Schutz vor ethnischen und rassischen Minderheiten, Schutz vor sexueller Andersartigkeit und vor jeder Art von "Andersartigkeit", denn "Andersartigkeit" bedroht buchstäblich die nationale Integrität. Für autoritär geführte Nationen stellen soziale Organisationen, die sich für Opfer – auch Opfer von Gewalt in Partnerschaften – einsetzen eine Bedrohung dar, denn häusliche Gewalt untergräbt den Mythos der "fremden Gefahr", die der "gute Staat" in Schach hält. Dadurch können diese Organisationen in solchen Ländern nicht frei arbeiten.
Familismus, also die Betonung der Familie als Leitstruktur einer geschlossenen Gesellschaft, ist eine soziale Struktur, in der die Bedürfnisse der Familie Vorrang vor den Bedürfnissen der Familienmitglieder haben. Autoritäre Regierungen befürworten den Familismus und leugnen dabei, dass Gewalt in der Familie überhaupt existiert (siehe Ungarns ausdrückliches Verbot der Istanbuler Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen). Würden diese Staaten zugeben, dass die Bedrohung und Gefahr meist nicht von außen kommt (von ausländischen Staaten, rassischen und ethnischen Gruppen, Immigranten und Flüchtlingen, sexuellen Minderheiten usw.), sondern von der eigenen Regierung oder aus der eigenen Gesellschaft, käme eine ernste Schwäche ihres ideologischen Gerüsts ans Licht. In dieser komplexen Dynamik geht die Verweigerung individueller Rechte Hand in Hand mit der Vorstellung des fernen und fremden Feindes und der populistischen Ideologie, nur der mächtige Staatsapparat sei in der Lage, sein Volk zu schützen.
Familien, in denen Gewalt herrscht, sind wie autoritäre Staaten
Stellen wir uns vor, von Gewalt betroffene Familien seien autoritäre Staaten. Sie funktionieren so: In den imaginären "Flitterwochen" locken sie ihre Mitglieder mit dem Versprechen, dass man sich um ihre Bedürfnisse kümmert, sie ernährt und beschützt. Es wird suggeriert, dass nur der Staat allein seinen Bürgerinnen und Bürgern Schutz und Sicherheit bieten kann. Im Gegenzug geben die Mitglieder allmählich ihre Unabhängigkeit auf und begeben sich auf den gefährlichen Weg der Isolation. Die Opfer häuslicher Gewalt verlieren langsam ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit und den gesunden Realitätssinn.
Analog dazu verlieren Bürgerinnen und Bürger in autoritären Staaten langsam ihre gemeinnützigen Organisationen, die als unmittelbares Unterstützungsnetzwerk fungieren, da die Rede- und Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird und gesellschaftliche Organisationen an der Basis unterdrückt und sogar verboten werden. Dies geschah in Ungarn, als die Regierung die Finanzierungshilfen für zivilgesellschaftliche Organisationen kürzte. Die zweite Periode im Zyklus der Gewalt dient dem Spannungsaufbau: Der Aggressor droht, den Opfern oder sogar sich selbst zu schaden, wenn die Opfer nicht gehorchen. In ähnlicher Weise agieren autoritäre Staaten auf ziemlich verräterische Weise, wenn sie soziale Institutionen abschaffen (z.B. das Verbot der Eheschließung für Menschen, die sich nicht einem Geschlecht zuordnen lassen; oder die Beendigung der rechtlichen Anerkennung von Trans-Personen, wie in Ungarn im April 2020 geschehen) oder wenn sie nicht „geduldeten“ Gruppen die soziale Unterstützung entziehen (z.B. indem sie Obdachlose aus dem öffentlichen Raum vertreiben, ohne angemessene soziale Unterstützung zu bieten, oder ein Vakuum an Zufluchtsräumen für Opfer sexueller und häuslicher Gewalt schaffen, wie es in Ungarn im Mai 2020 geschah.)
Die dritte Phase in diesem Zyklus ist die akute oder Krisenphase; die Spannung ist so hoch, dass die Menschen Angst haben, ihren Peinigern zu widersprechen. In der Analogie der Bürger-Staat-Beziehung können Bürgerinnen und Bürger, die anderer Meinung sind oder auf andere Art und Weise abweichen, ihre Existenz, ihre Arbeit und schließlich ihr Leben verlieren. Dies ist das höchste Maß an Vernichtungsangst, das eine Person und eine Gruppe von Personen in einer Gesellschaft erleben können; es führt zu einem Gefühl der Isolation und Verzweiflung.
Was können Regierungen tun, um Opfern von Gewalt durch Intimpartner zu helfen?
Autoritäre Staaten agieren vorsichtig, wenn es darum geht, sich der dritten Phase im oben genannten Zyklus zu nähern, denn die drohenden Restriktionen – z.B. finanzieller und politischer Natur – können für die Täter selbst durchaus schädlich sein.
Vor allem in diesen schwierigen Zeiten, in denen sich Opfer und Täter gemeinsam in Quarantäne befinden, müssen sich die Regierungen dieser Welt etwas einfallen lassen, um es Opfern häuslicher Gewalt zu ermöglichen, Hilfe zu bekommen. In Südamerika und mehreren europäischen Ländern können betroffene Frauen in Apotheken um eine „rote Gesichtsmaske“ bitten, ein Codewort, das signalisieren soll, sie sind in Gefahr, und das zu einem Anruf bei den Behörden führen soll. Codewörter wie „Maske 19“ können darauf hinweisen, dass die Kundin akut gefährdet ist und sofortige Hilfe braucht. Anderswo wird die Notrufnummer um eine automatische Einwahlfunktion erweitert oder es gibt eine "Silent Call"-Option für Smartphones und Chatbots, die die Notrufzentrale darüber informiert, dass sich eine Person in akuter Gefahr befindet.
Ein wichtiger Schritt ist die Erkenntnis, dass sich die Wirtschaft eines Staates nur dann reibungslos und vollständig erholen kann, wenn die Rechte der Frauen anerkannt und geschützt werden. Hawaiis feministisches Konjunkturprogramm beispielsweise zielt darauf ab, Frauen, die Kinder und ältere Menschen betreuen, institutionell zu unterstützen, das Gesundheitssystem mit Hebammen zu fördern, damit die Landbevölkerung Zugang zu sicheren und erschwinglichen Geburten hat und kleinere Unternehmen mit weiblichem Personal finanziell zu unterstützen. Ein weiteres Beispiel ist Schweden, das als erste feministische Regierung der Welt feministische Regelungen umsetzt, wie z.B. eine an der Gleichstellung orientierte staatliche Haushaltsplanung, die Einführung einer geschlechtergerechten Verteilung von Macht und Einfluss, die wirtschaftliche Gleichstellung der Geschlechter, die geschlechtergerechte Verteilung unbezahlter Hausarbeit und starke Kampagnen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen - um nur einige ihrer Teilziele zu nennen.
Die durch Gewalt entstehende Kosten können eine Nation auf mehreren Ebenen vor immense Herausforderungen stellen. Häufig werden dabei nur die unmittelbaren Kosten in den Blick genommen, d.h. die finanzielle Belastung, die Gewalt für den Gesundheitssektor (Unterkünfte, Sozialarbeit, Paar- und Familientherapie), das Justizsystem (Polizei, Prozesse, Gefängnis) und andere Maßnahmen (Behandlung von Tätern und Entschädigung der Opfer usw.) mit sich bringt. Darüber hinaus entstehen durch Gewalt in Ehe und Partnerschaft aber auch weitere Kosten, wie etwa die wirtschaftlichen Verluste, die durch Tod und Verletzung für die Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung entstehen, ganz zu schweigen von der Abwertung des Lebens und der Missachtung der Menschenrechte.
Die Staaten müssen erkennen, dass es sie letztlich mehr Geld kostet, wenn sie keine Vorkehrungen gegen häusliche Gewalt treffen und nur reaktive Strategien verfolgen, anstatt proaktive und somit präventiv-unterstützende Maßnahmen zu ergreifen. Selbst autoritäre Staaten sollten begreifen, dass der Schutz und die Stärkung der häuslichen Pflege und der Arbeitskraft durch Frauen sowie die Anerkennung von nichttraditionellen (z.B. individualistischen) Werten und von Minderheitenrechten letztlich zu einer gesünderen Wirtschaft und gesünderen Familien führen. Man sollte sich bewusst sein, dass sexuelle und häusliche Gewalt überall vorkommt, selbst in wirtschaftlich hochentwickelten Regionen.
Opfer und Überlebende sexueller Gewalt haben Rechte, und diese gilt es anzuerkennen. Dafür braucht es aber auch Institutionen und Organisationen (Hotlines, Unterkünfte, Anwaltschaft, Therapie usw.), um die Umsetzung dieser Rechte und die Unterstützung der Opfer zu gewährleisten. Dies – und nicht kurzlebige, schnell ausgeschöpfte Konjunkturprogramme – wird Familien dazu ermutigen, zusammenzubleiben und mehr Kinder zu zeugen – denn, um es mal ganz unverblümt zu benennen, darum geht es den autoritären Regierungen. Wenn Staaten nach der Pandemie eine rasche wirtschaftliche Erholung anstreben, müssen Frauen auf jede erdenkliche Weise unterstützt werden, einschließlich der Anerkennung der Rechte jeder Einzelnen und der proaktiven Betreuung der Opfer häuslicher Gewalt.
Redaktionelle Anmerkung: Rufen Sie im Notfall die Hotline für häusliche Gewalt an oder chatten Sie mit ihnen: www.hilfetelefon.de
Katalin Parti ist Assistant Professor für Soziologie an der Virginia Polytechnic Institute and State University in den USA und arbeitet als Gastwissenschaftlerin am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg.
Gunda Wössner ist Senior Researcher am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg.