Vermessung des Konnektoms

Forscher haben neuronale Netzwerke in der Großhirnrinde vermessen

Die Gehirne von Säugetieren, mit ihrer unvergleichbar großen Zahl von Nervenzellen und einer extremen Dichte an Kommunikation, sind die komplexesten bekannten Netzwerke. Seit mehr als hundert Jahren gibt es Methoden zur teilweisen Analyse dieser Netzwerke. Die Möglichkeit jedoch, lokal komplette Verschaltungskarten neuronaler Netzwerke im Säugetierhirn zu erlangen, besteht erst seit wenigen Jahren. Forschern vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung ist es nun gelungen, Hirngewebe aus dem Säugetiergehirn zu kartieren, das lokale Konnektom aufzunehmen, und auf Spuren von vorangegangenen Lernvorgängen zu analysieren.

Unser Gehirn enthält extrem dicht gepackte Netzwerke aus membranumhüllten Kabeln, mithilfe derer unsere rund 86 Milliarden Nervenzellen untereinander kommunizieren. Jede unserer Nervenzellen interagiert mit rund 1000 anderen, und die Kommunikationsstellen zwischen den Nervenzellen, die Synapsen, sind entlang der Kabel plaziert, die sich oft über das gesamte Gehirn erstrecken. Tatsächlich schätzt man, dass rund fünf Millionen Kilometer Nervenzellkabel in unseren Schädeln verpackt sind – das ist 10-mal länger als alle Autobahnen auf der Erde, in jedem unserer Gehirne.

Die Nervenzellkabel sind außerdem extrem dünn, rund 1000-mal dünner als ein menschliches Haar – das sich daraus ergebene Kabelgewirr ist so dicht, dass die Hirnforschung bisher nur jeweils einen Bruchteil des Netzwerks in einem Gehirnteil hat untersuchen können.

Erst die Entwicklung schnellerer dreidimensionaler Elektronenmikroskopietechniken und künstliche-Intelligenz (KI)-gestützter Analyseverfahren hat die dichte Kartierung neuronaler Netzwerke möglich gemacht. Das neue Forschungsfeld der „Connectomics“ verfolgt nun die Vermessung immer größerer Schaltkreise in verschiedenen Hirnregionen und Tierarten.

In der in Science veröffentlichten Arbeit hat ein Forscherteam um Max-Planck-Direktor Moritz Helmstaedter ein Stück bioptisch gewonnenen Hirngewebes aus der Großhirnrinde einer vier Wochen alten Maus analysiert. Das Gewebsstück stammt aus dem somatosensorischen Kortex, einem Teil des Großhirns, der mit der Verrechnung von Berührungsinformationen beschäftigt ist.

Analyse von Nervenzellen und ihrer Synapsen in einer dichten Rekonstruktion aus der Großhirnrinde.

Rekonstruktion

Analyse von Nervenzellen und ihrer Synapsen in einer dichten Rekonstruktion aus der Großhirnrinde.
https://www.youtube.com/watch?v=bpIKBkf5QRE

Mithilfe optimisierter KI-basierter Bildverarbeitung und effizienter Interaktion zwischen Datenanalyse durch Menschen und Maschinen schafften es die Forscher, alle der rund 400000 Synapsen und ca. 2,7 Meter neuronaler Kabel in diesem Gewebsstück zu rekonstruieren. Daraus ergab sich ein Konnektom, also ein Schaltplan, zwischen rund 7000 Axonen und rund 3700 postsynaptischen Nervenzellfortsätzen. Dieser Schaltplan ist rund 26-mal größer als das in der Netzhaut der Maus vor sechs Jahren publizierte und bisher größte Säugetierkonnektom. Die Rekonstruktion ergab nicht nur eine substanziell größere Netzwerkkarte, sondern erfolgte auch mit rund 33-fach höherer Effizienz – ein neuer Standard in der dichten konnektomischen Rekonstruktion aus dem Säugetiergehirn.

Dieser methodische Durchbruch erlaubte den Forschern nun das das Konnektom auf darin enthaltene Verschaltungsmuster zu analysieren. Insbesondere untersuchten sie, welcher Anteil des Schaltkreises Anzeichen für vorangegangenes Lernen zeigte. Hierfür nutzen sie den Zusammenhang zwischen Wachstum und Verstärkung der Synapsen, das mit Lernvorgängen einhergeht. Alessandro Motta, Erstautor der Studie und Elektroingenieur, nutzte besondere Konstellationen, in denen jeweils mehrere Synapsen zwischen zwei Nervenzellen gefunden wurden, um mögliche Spuren von Langzeitpotenzierung (LTP) zu finden. „Da einige Modelle synaptischer Plastizität genaue Vorhersagen über die Verstärkung von Synapsen beim Lernen machen – zum Beispiel, wenn die Maus eine Katze oder einen Baum zu erkennen lernt –, konnten wir Abschätzungen der Häufigkeit solcher Lernprozesse sogar aus der Momentaufnahme der kortikalen Schaltkreiskarte ableiten“, erklärt Motta. Da die Maus bis zur Gehirnbiopsie ein vierwöchiges normales Laborleben hatte, sehen die Wissenschaftler ihre Methode als eine Möglichkeit, den Anteil gelernter Schaltkreiseigenschaften aus einem ansonsten normal aufgewachsenen Gehirnstück auszulesen.

„Wir waren selbst überrascht, wie viele Informationen und wie viel Präzision selbst in solch einem immer noch relativ kleinen Gehirnstück aus der Großhirnrinde enthalten ist“, so Helmstaedter, und fügt hinzu: „Insbesondere die Auslesung der vermutlich gelernten Schaltkreisanteile hat uns wirklich die Augen geöffnet.“

Die entwickelten Methoden haben erhebliche Auswirkungen für die mögliche Übertragung von Einsichten aus der Hirnforschung für die heute so genannte „künstliche Intelligenz“. „Das Ziel, neuronale Netzwerke in der Großhirnrinde zu vermessen ist ein wesentliches wissenschaftliches Abenteuer, eben auch weil wir hoffen, hieraus wesentliche Netzwerkeigenschaften ableiten zu können, die das Gehirn zu einem solch effizienten Computer zu machen, viel effizienter als alle heutige KI“, erklärt Helmstaedter. Weiter beschreibt er ein Forschungsfeld, in dem wesentliche Akteure Google und das Forschungsprogramm der Geheimdienste in den USA (IARPA) sind: „Das Vorhaben aus biologischen neuronalen Netzen etwas über die Zukunft der künstlichen neuronalen Netze zu lernen wird von großen Forschungsinitiativen weltweit verfolgt. Wir sind sehr stolz, dass wir diesen ersten Meilenstein, ein dichtes lokales Konnektom aus dem Cortex, erreicht haben, ausschließlich mit öffentlicher Forschungsförderung der Max-Planck-Gesellschaft.“

Nach fast einem Jahrzehnt Forschungsarbeit sind die Forscher enthusiastisch über ihren Erfolg: „Ein Stück Hirnrinde zu nehmen, es genauestens zu analysieren, und dann die komplette Kommunikationskarte dieses wunderschönen Netzwerks zu erhalten ist unser wissenschaftlicher Traum der letzten zehn Jahre gewesen“, beschreibt Helmstaedter.

Die Forscher fassen zusammen: „Wir glauben, dass unsere Methoden, angewendet auf viele Arten von Hirngewebe aus verschiedenen Hirnregionen, Hirnschichten, Entwicklungsschritten und Tierarten uns zeigen werden, wie die Evolution diese Netzwerke gestaltet hat, und welchen Einfluss Lernen und Erfahrung auf die genaue Netzwerkstruktur haben.“

„Darüberhinaus wird uns solches ‚konnektomisches Screening‘ die Beschreibung der Schaltkreise in Modellen psychiatrischer Erkrankungen erlauben. Vielleicht können wir so herausfinden, ob und in welchem Maße manche wichtige Gehirnerkrankungen tatsächlich Schaltkreiserkrankungen sind, so genannte„Konnektopathien“.

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