Die Vermessung der Wirkung
Winfried Menninghaus erforscht am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main, wie Menschen nicht nur mental, sondern auch körperlich auf Dichtung und Prosa reagieren. Für viele Altphilologen und Germanisten begeht er damit Verrat an ihren Disziplinen. Tatsächlich aber gelingt es dem Forscher, poetische und rhetorische Sprache in ihrer Wirkung erstmals messbar zu machen. Obendrein belebt er mit seinem Team eine alte und viel zu lange stiefmütterlich behandelte Disziplin wieder – die Rhetorik.
Text: Martin Roos
Pinkfarbene, fast mannshohe große Buchstaben stehen im begrünten Innenhof des Frankfurter Instituts nebeneinander aufgereiht. Der Schriftzug scheint auf ziemlich aufdringliche Weise genau das zu postulieren, um was es den Forscher hier am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik geht: Schönheit. „Nein, nein“, wehrt Winfried Menninghaus halb lachend, halb resigniert ab. Die Immobilienfirma habe die Leuchtskulptur dort hingestellt, um für das Gebäude zu werben. „Reiner Zufall also“, sagt Menninghaus über den „Kitsch in Rosa“ und schlägt die Hände klatschend zusammen. Der hagere, große Mann mit den leicht rötlichen Haaren, die ähnlich wild und hoch zu Berge stehen wie beim Erfindergenie Doc Brown im Fantasyfilm „Zurück in die Zukunft“ ist Leiter der Abteilung „Sprache und Literatur“ und Gründungsdirektor des 2012 eingerichteten Instituts.
Hier geht es um weit mehr als nur um platte Schönheit. Die Forscher untersuchen, wie Menschen physiologisch auf Ästhetik reagieren – auf Film, Tanz, Musik oder eben auf Sprache und vor allem Dichtung. „Was gefällt wem warum“, heißt ihr alliterierender Slogan. „Die Geisteswissenschaften stellen ästhetische Theorien auf“, sagt Menninghaus, „wir überprüfen sie an Testpersonen, die die unterschiedlichsten Hintergründe haben.“ Mit seiner programmatischen Intensität und den technischen Möglichkeiten ist das Institut weltweit einzigartig.
Musik hören, Filme gucken oder Gedichten lauschen ist hier ein Dienst im Auftrag der Wissenschaft. Doch wer glaubt, die Testpersonen lägen sanft gebettet in weichen Kissen und erhielten lukullische Getränke, während Scheherazade ihnen Gedichte vorflüstert und Josephine Baker ihnen das Alphabet rückwärts vortanzt, irrt. Im Institut geht es zu wie in einem medizinischen Forschungslabor. In den schalldichten Kabinen sitzen die Probanden, an ihren Fingerkuppen messen Sensoren den Hautwiderstand, an den Handgelenken zeichnet eine Pulsuhr die Herzfrequenz auf, und eine Minikamera filmt je nach emotionalem Zustand die Gänsehaut auf ihren Unterarmen. Manche tragen eine Haube mit Elektroden auf dem Kopf, die die Aktivität von Nervenzellen im Gehirn aufzeichnet. „Heute kann fast alles gemessen werden“, erklärt Menninghaus, zum Beispiel „wie lange jemand auf welches Wort schaut. Das gibt uns einen Indiz für Aufmerksamkeit“.
Seit Beginn seiner akademischen Karriere beschäftigt sich Menninghaus damit, Effekte und Wirkung der Schönheit und elementare Züge ästhetischen Empfindens zu erforschen – und das nicht immer zur Freude konservativer Kollegen. So stießen sie sich bereits in den 70er Jahren daran, wenn der begeisterte Poetik-Student versuchte, Celan-Gedichte unter der Kategorie der Farben neu zu interpretieren. Das Genialische allerdings sprach ihm niemand ab und so ging Menninghaus seinen Weg: Zum Gastprofessor wurde er an fast jede renommierte Universität der Welt eingeladen, darunter Berkeley, die École des Hautes Études en Science Sociales in Paris und die Hebrew University in Jerusalem. Princeton und Yale wollten ihn zum Professor berufen. Bevor er vor drei Jahren nach Frankfurt kam, blieb er jedoch viele Jahre der Freien Universität Berlin treu, als Professor am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft.
Keine Alchimisten, sondern Prüfer der Dichtung
Als einer der vielleicht vielseitigsten, aber auch umstrittensten Literaturwissenschaftler ist es kein Wunder, dass sich Menninghaus bis heute Kritik gefallen lassen muss. Zum einen registriert Menninghaus die stille Arroganz, mit der Naturwissenschaftler einem so „weichen“ Fach wie der Ästhetik begegnen. Zum anderen spürt er die tiefe Skepsis, die die meisten Literaturwissenschaftler naturwissenschaftlichen Methoden und damit auch ihm gegenüber empfinden. Die Kritiker fragen: Soll sich die Qualität eines Gedichts etwa an zuckenden Augen und verschwitzten Achselhöhlen messen lassen? Sind Menninghaus und Co. wie einst die Alchimisten auf der Suche nach der goldenen Formel – also der Rezeptur für das absolute Gedicht?
„Natürlich nicht“, sagt Menninghaus, „wir schaffen hier keine Rezepte. Es geht vor allem um Wahrnehmung“. Den Vorwurf, seine Forschung sei „Erbsen-Zählerei“, lässt er an sich abprallen. Dass allerdings der Begriff „Wirkungspoetik“ von vielen Kollegen mittlerweile als Schimpfwort verwendet werde, kann er nicht akzeptieren. Menninghaus beruft sich auf den großen Linguisten und Semiotiker Roman Jakobson, der einst lehrte, dass unsere „poetische Sprachfunktion“ immer „an“ sei. Menninghaus ging also der Frage nach: Ist das wirklich so? Nehmen wir selbst ganz banale Sätze stets auch ästhetisch war? „Heute können wir sagen: Jakobson hatte recht. Denn wir beweisen das an unserem Institut tagtäglich. Wir haben die objektive Daten gefunden.“
Mit zehn Mitarbeitern, darunter Germanisten, Literatur-, Film und Neurowissenschaftler, zwei Gastwissenschaftlern und einem halben Dutzend Stipendiaten verfeinert und entwickelt er ständig neue Kategorien und Methoden, um ästhetisch wirksamer Merkmale sinnvoll zu beschreiben – das reicht von sprachlichen Beschreibungen wie „schön“, „langweilig“, „spannend“ oder „witzig“ bis zu vergleichenden Untersuchungen sprachlicher Strukturen in Bezug auf Rhythmus, Metrum oder auch Sprachmelodie. Eine wichtige Erkenntnis ist: „Egal, welche Texte wir hören oder lesen, unser Körper schlägt immer aus“, sagt Menninghaus. Und gerade Gedichte wühlen uns emotional fast genauso auf wie unsere Lieblingsmusik.
Planeten sind üble Propheten
Dass Lyrik so stark wirkt, liegt auch daran, erklärt Menninghaus, dass wir nicht nur seit vielen Generationen – mindestens seit der Antike – mit metrischem Sprechen, mit christlichen Hymnen und später dem Volkslied vertraut seien, sondern auch jeder von Geburt an in der präverbalen Kommunikation mit den Eltern, an den Versmaß ähnlichem Rhythmus der Sprachprosodie gewöhnt sei. Überspitzt formuliert: „Wir kommen über die Lyrik zur Sprache“, sagt Menninghaus. Deswegen ist unsere Aufmerksamkeit besonders anfällig für Rhythmus und Reim. Die Forscher demonstrieren es an konstruierten Sätzen. Diesen nehmen sie gezielt stilistische Merkmale weg, um zu sehen, welche die ästhetische Lust der Leser oder Hörer in welcher Weise steuern.
Wenn der Satz „Planeten sind üble Propheten“ Testpersonen ohne Reim präsentiert wird: „Die Sterne sind üble Propheten“ – verliert die Aussage beim Probanden messbar an „Präsenz“. Nimmt man jetzt nicht den Reim, sondern nur den Rhythmus aus dem Ursprungssatz und formuliert „Planten sind höchst unzuverlässige Propheten“, verliert die Aussage noch mal an Wirkung. Ohne Reim und Rhythmus gewinnt der Satz zwar wieder – auch durch seine hohe Verständlichkeit – an Präsenz: „Sterne sind keine vertrauenswürdigen Propheten.“ Doch die Ursprungsaussage „Planeten sind üble Propheten“ erzielt trotz leicht kruder inhaltlicher Aussage eindeutig von allen Sätzen die höchste Wirkung. Der Grund: Unsere ästhetische und affektive Wahrnehmung spricht stärker auf metrisierte Sprache an.
„Wir reagieren auch sehr aufmerksam auf Sätze oder Verse, wenn diese bestimmte Regeln verletzen“, erklärt Menninghaus. Gleich mehrere Regelverletzungen enthält beispielsweise der Ikea-Slogan „Wohnst du noch oder lebst du schon?“ Die Frage „Wohnst du noch?“ ist verkürzt und müsste normalerweise etwa „Wohnst du noch in deiner alten Wohnung“ heißen. Und „Lebst du schon“ wirkt paradox, da niemand wirklich „schon“, sondern eher „noch“ leben kann. Überhaupt wären beide Fragen zusammengenommen vollkommen sinnlos, wenn nicht deutlich wäre, dass es sich hier um die Botschaft eines Designers für Möbel und Wohnen handelt. „Unser Gehirn muss also ordentlich arbeiten und ergänzen, um den Satz zu entschlüsseln. Und das macht ihn so prägnant“, erklärt Menninghaus.
Lange ging es für Menninghaus’ Team auch um die Frage, ob sich positive und negative Gefühle, also Freude und Trauer beim Kunstgenuss aufheben. Das Ergebnis: Genau das Gegenteil ist der Fall. „Die Messkurven für die körperlichen Reaktionen bei negativen und bei positiven Affekten hatten ihre Höhepunkte fast immer zur gleichen Zeit“, sagt Menninghaus. Anders ausgedrückt: Je mehr Tränen fließen, desto größer ist der Genuss. Es geht um das „Bewegtsein“.
Und damit schließt sich für Menninghaus auch der Kreis zur einer alten Disziplin, die lange – auch durch ihren Missbrauch im Dritten Reich – in Vergessenheit geraten war: die Rhetorik. „Ihr großer Reichtum an sprachlichen Figuren und poetischen Merkmalen beinhaltete schon immer wichtige Faktoren, die ästhetische Wertschätzung bedingten“, erklärt er. Nur würde die Rhetorik in dieser Weise kaum noch wahrgenommen. Gerade das „movere“ der antiken Rhetorik, das Bewegen, Rühren und Erschüttern fasziniert Menninghaus. Nicht umsonst haben er und sein Team dem „being moved“ mehrere Studien gewidmet. Sie zeigen eindrücklich, dass „Bewegtsein“ fast immer Freude und Trauer mischt. Die antike Rhetorik bleibt damit hochmodern. Auch deswegen ist es Menninghaus ein großes Anliegen, das sprachproduktionsnahe Wissen der Rhetorik mit ästhetischer Theorie, literatur- und musikwissenschaftlichen Analysetechniken, linguistischer Modellbildung und neuesten Methoden und Theorien in Psychologie und Neurowissenschaften zusammenzubringen.
Trash schlägt alles
Doch trotz strenger Wissenschaft – für einen fundierten Spaß ist der quirlige Forscher immer zu haben. So kam einer seiner Mitarbeiter zu einer verblüffenden Erkenntnis, als er das Publikum von Trash-Filmen befragte: „Warum schauen Sie sich das an?“ Die Testpersonen stellten sich als überdurchschnittlich gebildet heraus. Ihre Antwort: Sie langweilten sich bei Mainstream und hätten Spaß, Anti-Filme mit ironischer Distanz zu betrachten und die miserable Qualität als Anti-Mainstrain zu goutieren. „Die Daten waren klarer und aussagekräftiger, als wir erwartet hatten“, sagt Menninghaus. „Was wir aber nicht im Entferntesten geahnt hatten, war das riesige Medienecho auf die Publikation dieser Studie. Welcome to Pop-Culture!” Innerhalb von sechs Wochen gab es weit mehr als 1000 Rezensionen in Zeitungen aller Erdteile und Interviewanfragen sogar aus Afrika. Menninghaus ist immer noch verwundert: „Das werde ich mit allen anderen Studien zusammen nicht schaffen.“