Die Kartografen der toten Gedanken

Vor 100 Jahren wurde in Berlin das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung gegründet. Erster Direktor war Oskar Vogt, ein ehrgeiziger Wissenschaftler, der mit der Untersuchung von Lenins Gehirn berühmt wurde. Seine Frau Cécile und er lieferten wichtige Erkenntnisse zum Bau der Großhirnrinde – und saßen auch manchem Irrtum auf.

Beeindruckt ist Koestler von der seriellen Anfertigung von Hirnschnitten: „Bis zu 35000 Schnitte werden aus einem einzigen Hirn hergestellt!“ Dabei handelt es sich um „Schnitte von phantastisch dünnem Querschnitt“. Ein Mensch bräuchte etwa ein Jahr, „um mit einem Hirn fertig zu werden“, und die Prozedur verschlang „6000 Mark pro Denkapparat“. Nach ihrer Untersuchung würden die fertigen Schnitte in einem „feuersicheren Turm untergebracht“, in einer „Kartothek der toten Gedanken“.

Das damals weltweit größte Institut für Hirnforschung verfügt über „einen wahren Irrgarten der verschiedensten Laboratorien,  Werkstätten und Sonderabteilungen, die Spezialaufgaben bearbeiten“, darunter „eine Reproduktionsabteilung mit allen Schikanen für Mikrofotografie, Kinematografie und sogar einer eigenen Druckerei“. Es gibt Labors, die für verschiedene Experimente schalldicht, erschütterungssicher oder gegen elektromagnetische Wellen abgeschirmt sind. Auch eine kleine Forschungsklinik gehört zum Institut.

Vossische Zeitung vom 20. Dezember 1930

„Der Eindruck, den dieser Wunderbau des sezierten Intellektes bei seinen Besuchern hinterließ, war geradezu überwältigend. Planck selbst hat diesen Eindruck [...] formuliert: die letzte Bedeutung der Wissenschaft bestehe ja schließlich doch in ihrer Anwendung auf das Leben; und wenn uns die Erforschung des menschlichen Gehirns so besonders bedeutsam anmute – so beruhe dies endlich und schließlich darauf, daß wir selbst alle Hirne haben ...“

Das Ehepaar Vogt leitete die Abteilung „Architektonische Hirnforschung“. Psychische Krankheiten betrachteten sie – im Gegensatz zu Sigmund Freud – nicht als Erkrankungen der Seele, sondern vor allem des Gehirns. Ziel ihrer Studien war es daher, das morphologische Substrat dieser Krankheiten ausfindig zu machen. Dafür sammelten sie Gehirne zusammen mit klinischen Daten Verstorbener und stellten Vergleiche an. Besonders interessiert waren sie dabei an „Extremtypen“: Ihr Plan war, eine umfangreiche Sammlung von Elite- und Verbrechergehirnen zusammenzutragen, um dem Sitz von Genialität oder kriminellen Handlungen auf die Spur zu kommen.

Heute weiß man, dass die Hirnstruktur nichts über Begabungen, Charaktereigenschaften oder den Hang zum Verbrechertum verrät – genauso wenig, wie sich der Intellekt eines Menschen aus der Größe oder Architektur seines Denkorgans ablesen lässt. Andere Erkenntnisse des Forscherehepaars, etwa ihre Beiträge zur Kartografie der Hirnrinde beim Menschen und bei Säugetieren, sind dagegen heute noch gültig.

Anders als erhofft, währte die Arbeit der Vogts am Berliner Institut aber nicht lange. Die Nationalsozialisten kreideten Oskar Vogt seine Verbindungen zur Sowjetunion sowie die liberale und internationale Atmosphäre im Institut an und schickten ihn kurzerhand in Pension. Im Jahr 1937 verließen er und seine Frau Berlin und bauten – wiederum mithilfe der Familie Krupp – in Neustadt im Schwarzwald eine neue Forschungsstätte auf, wo sie bis ins hohe Alter weiterarbeiteten. Im Krieg boten sie dort auch Verfolgten Unterschlupf.

Sechzig Jahre lang haben Oskar und Cécile Vogt eng zusammengearbeitet. In der Öffentlichkeit wurde aber vor allem Oskar Vogt gewürdigt, die Leistungen seiner Frau jedoch oft übersehen. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach ihrem Tod 1962 erschien Céciles Konterfei schließlich auf einer 140-Pfennig-Briefmarke der Deutschen Bundespost.

Nach Oskar Vogts Weggang wurde der Neuropathologe Hugo Spatz sein Nachfolger am Berliner Institut. Er und sein Mitarbeiter Julius Hallervorden untersuchten dort auch Gehirne von Opfern des „Euthanasie“-Massenmordes an psychisch Kranken und geistig Behinderten. Um an „Material“ für die Erforschung von Epilepsie und „angeborenem Schwachsinn“ zu kommen, hatten die Forscher keine Skrupel, auch auf die Gehirne von Opfern der NS-Tötungsaktionen („Euthanasie“) zurückzugreifen, darunter viele Kinder.

Mit der „Sammlung Hallervorden“ gelangten diese Hirnpräparate 1962 in das neue Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Dort lagerten sie weitere zwei Jahrzehnte zwischen Millionen anderen. Erst in den 1980er-Jahren deckte der Historiker und Journalist Götz Aly durch einen akribischen Vergleich von Schnittnummern in Frankfurt und Patientenakten in Brandenburg-Görden ihre wahre Herkunft auf. Am 25. Mai 1990 wurden sämtliche Hirnschnitte aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 auf dem Münchner Waldfriedhof bestattet.

Die fast neunzig Jahre alten Schnitte von Lenins Hirn befinden sich noch immer im Moskauer Institut für Hirnforschung, fein säuberlich beschriftet und durch mehrere Sicherheitstüren von der Außenwelt getrennt. Auch das Gehirn des Physikers, Dissidenten und Friedensnobelpreisträgers Andrei Dmitrijewitsch Sacharow wird dort scheibchenweise aufbewahrt. Damit ruhen die Denkorgane des Gründers der Sowjetunion und des Systemkritikers Seite an Seite. Trotzdem wird die Hirnforschung nicht herausfinden, wer von beiden der größere Geist war.

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