Im Sediment der Integrationskultur

Als vor 23 Jahren in Moskau die erste McDonald's Filiale im Land eröffnete, feierten das viele als Schritt in die freie Welt des Konsums. Andere jedoch sahen in der Bulettenbraterei sogleich ein Indiz für die Verwestlichung des Landes. Dabei ist Kulturtransfer nicht neu: Dittmar Schorkowitz untersucht am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, wie er sich zu Zeiten mittelalterlicher Völkerbegegnung in Eurasien vollzog.

Text: Birgit Fenzel

Dass Menschen einer Gemeinschaft materielle Güter, einzelne Ideen oder ganze Systeme von einer anderen übernehmen, ist eine alte Geschichte – und  trotzdem alles andere als langweilig. Für Wissenschaftler wie den Historiker und Ethnologen Dittmar Schorkowitz gehört der Kulturtransfer zu eben jenen Vorgängen, die wesentlich für die Formierung von Gesellschaften waren und sind. Aber eben auch für ihre Spaltung.

Denn es sind nicht beliebige Dinge oder Ideen, die von einem Kulturkreis in einen anderen gelangen. Und es sind auch nicht alle Schichten der Importgesellschaft daran beteiligt. „Ein solcher Transfer bedingt zugleich auch immer die Desintegration anderer Teile der Gesellschaft“, beschreibt Schorkowitz die Kehrseite kultureller Integration. Denn große Gemeinschaften – sei es nun Europa als Ganzes oder in seinen Teilen – erscheinen nur aus der Distanz heraus als einheitliche Gebilde. Bei näherer Betrachtung präsentiert sich das Bild eines Mosaiks mit vielen einzelnen Elementen.

Diese Einheit in der Vielfalt ist für den historisch arbeitenden Ethnologen ganz klar das Resultat eines Prozesses, bei dem Grenzen nicht nur geografisch überwunden oder gezogen wurden, sondern auch aus dem Wechselspiel von Integration und Desintegration im Verlauf der Geschichte entstanden. Am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle untersucht er mit seiner Forschungsgruppe am Beispiel von Russland und China als riesigen Vielvölkerstaaten, wie dort im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die über viele Jahrhunderte entstandene ethnische Vielfalt behördlicherseits geregelt und im Sinne imperialer Kohärenz kontrolliert wurde.

„Kulturformen repräsentieren immer ein mixtum compositum“, so der Forscher. Dieser Patchwork-Charakter nicht nur von modernen Gesellschaften ist für ihn eine unmittelbare Folge ihrer Durchlässigkeit gegenüber äußeren Einflüssen einerseits und ihrer sozialen Implikationen andererseits – als da wären Prozesse der Gruppenbildung, Abgrenzung und Identitätswahrung sowie des Aushandelns und Aufnehmens kultureller Werte, Güter und Normen.

„Dabei lagern sich Kulturelemente unterschiedlicher Provenienz mit der Zeit wie Sedimente in Schichten ab“, beschreibt Schorkowitz die charakteristische Struktur kultureller Formen, die diese eben nicht nur für Anthropologen so spannend macht, sondern auch für Historiker.

Wenn es darum geht, herauszufinden, was die europäische Welt im Innersten zusammenhält – oder eben trennt – greift Dittmar Schorkowitz weit in die Geschichte zurück und fokussiert auf den transkontinentalen Rand im Osten des mittelalterlichen Europas. „Geografisch gesehen könnte man diesen Raum durchaus Eurasien zuordnen“, sagt er über sein Forschungsfeld, das sich von der Donau bis jenseits der Wolga erstreckt. „Es geht also weit über das hinaus, was oft verkürzt als das Spannungsfeld von Kiewer Rus’ und Steppe bezeichnet wird“, präzisiert er die Koordinatenlage dieser Zone, die früh schon zum Multi-Kulti-Treff wurde.

„Gewissermaßen war sie lange Zeit nichts anderes als das osteuropäische Teilstück jenes eurasischen Highways für Völker aus Zentralasien, deren Westmigration sich als Konstituente bei der Herausbildung der europäischen Staatenlandschaft gezeigt hat“, beschreibt Schorkowitz ihre Rolle zu Zeiten mittelalterlicher Völkerwanderung und Völkerbegegnung. Wegen ihrer speziellen kulturellen Schnittstellenfunktion sei Slavia Asiatica ein treffenderer Name als Eurasien.

Durch die nicht immer friedlichen Nachbarschaftskontakte der Bewohner der Kiever Rus’ ab dem Jahr 860 zu Skandinavien, Zentralasien und Byzanz als drei weiteren Kulturräumen hatte sich eine kulturelle Überlappungszone mit fließenden Grenzen gebildet, die den Wissenschaftlern um Schorkowitz einen reichhaltigen Fundus und mithin ein buchstäblich weites Forschungsfeld eröffnet. „Die Slavia Asiatica ist eine kulturelle Kontaktzone par excellence, ein Laboratorium, in dem Formen des Kulturtransfers und des kulturellen Austausches untersucht werden können.“

Dabei hat die Arbeit des Historikers viel von einem archäologischen Puzzlespiel. Denn ein großer Teil stützt sich auf Quellen, die in aller Welt verstreut und in unterschiedlichen Sprachen und Zeichen verfasst sind. Neben Entziffern und Übersetzen gehört für ihn die philologische Analyse der Fundstücke, die er aus Archiven, Staatsammlungen und Bibliotheken zusammengetragen hat, zur Routine. „Mit ihnen lassen sich Zeugnisse interkultureller Kommunikation erschließen, die wiederum selbst eine wesentliche Voraussetzung für kulturellen Wandel ist“, erklärt er sein ausgeprägtes Interesse an den alten Sprach- und Schriftformen und dem Lehnwortbestand.

So sei etwa die altrussische Bezeichnung für „Schreiber“ ein klassisches Beispiel für die fallweise vielsagende Aussagekraft von Sprachformen. „Etymologisch betrachtet, lässt sie sich auf das griechische Wort für 'Kirchendiener', diákonos, zurückführen“, erklärt er. Über den Hinweis auf den weit reichenden Einfluss Griechenlands im frühen Mittelalter hinaus enthält dieses Wort aber auch eine Information über eine große kulturelle Leistung: die Erfindung der Glagoliza, die Vorläuferin der kyrillischen Schrift, durch den Mönch Konstantin aus Thessaloniki.

Um das Jahr 863 herum hatte dieser Kirchenmann eine Schrift entworfen, die zur Sprache der Süd- und Ostslaven passte. „Bis dato hatten sie nicht mal eine Runenschrift, auch wenn dazu immer wieder Hypothesen auftauchen“, so Schorkowitz. Für seine Glagoliza hatte der Mönch die griechische Minuskelschrift adaptiert, die er aber unter Einbezug georgischer und semitischer Schriftsysteme modifizierte – womit er dem Lautstand der Slaven Rechnung trug, dem das griechische Alphabet nur bedingt entsprochen habe. „Die dann aus der Glagoliza folgende Entwicklung der Kyrilliza ist ein Paradebeispiel für gelungenen Kulturtransfer und Akkulturation“, sagt Schorkowitz.

Einem anderen Kirchenmann verdankt die Wissenschaft die „Nestorchronik“, eine alte Niederschrift, welche die russische Historie bis in biblische Zeiten behandelt – von der man allerdings wenig Genaueres weiß. Als gesichert gilt, dass sie zwischen 1110 und 1112 vom Kiewer Mönch Nestor redigiert und in der Folge noch bearbeitet und ergänzt wurde. Sie lieferte Schorkowitz seitenweise Hinweise darauf, dass die Bewohner der Kiewer Rus‘ durchaus die Sitten und Gebräuche ihrer nicht-slawischen Nachbarn kannten. In diesem Zusammenhang nennt der Hallenser Wissenschaftler die Geschichte von der Rettung Kiews.

Der Chronik zufolge war die Stadt im Jahr 968 von den Pečenegen, einem nomadischen Volk aus der Steppe, derart stark belagert worden, dass die eingeschlossene Fürstenfamilie sie schon aufgeben wollte. Doch dann bot sich ein junger Mann an, durch die feindlichen Linien der Belagerer hindurch Verstärkung zu holen. „Mit dem Zaumzeug in der Hand und die Pečenegen nach seinem scheinbar entlaufenden Pferd in ihrer Sprache fragend, sodass sie ihn für einen der ihren hielten, durchquerte er das feindliche Lager und den Dnjepr ungehindert“, fasst Schorkowitz den Husarenstreich zusammen.

Der fürstliche Heerführer Pretič eilte darauf zu Hilfe, die Stadt war gerettet. „Es versteht sich, dass nicht Sprachkenntnisse allein dem jungen Mann zu seinem Bravourstück verholfen hatten, sondern dass ihm – wie wohl den meisten seiner Kiewer Altersgenossen – die Lebensumstände und nomadischen Gewohnheiten der benachbarten Pečenegen vertraut gewesen sein mussten“, lautet seine Schlussfolgerung zu den kulturellen Kompetenzen der Jugend von damals.

Im Verlauf seiner Forschungen ist der Historiker auf eine Vielfalt von Fundstücken gestoßen, die belegen, dass der Kulturkontakt in der Slavia Asiatica nahezu sämtliche essenziellen Bereiche der Gesellschaft umfasste: Recht und Religion, Wissen und Werte, Fertigkeiten und Institutionen, materielle und ideelle Güter. Von den Normannen aus Skandinavien stammen etwa seit dem frühen 9. Jahrhundert nicht nur mit der Kriegs- und der Heeresführung verbundene Kenntnisse, Praktiken und Gegenstände wie Waffen, Bootsbau oder die Kunst der Navigation, sondern auch soziale und Rechtsstrukturen.

So fand der Ethnologe – wieder durch die Analyse des Lehnwortbestandes – Hinweise darauf, dass slawische Fürsten die Organisationsform der Varäger als Vorbild für ihre Gefolgschaft übernommen haben. „Und Silberfunde aus Gräbern und aus Hortfunden jener Zeit zeigen, dass Handelskontakte mit dem Orient, mit Bagdad, Taschkent, Samarkand und Buchara stattgefunden haben“, berichtet er.

Dieses Silber habe zunehmend den Naturalientausch ersetzt, bis schließlich um 880/890 das Monetarsystem nach Ost- und Ostmitteleuropa eingeführt worden sei. „Doch während es in Westeuropa längst Münzgeldwirtschaft gab, entstand dort zunächst eine Gewichtsgeldwährung mit Hacksilber“, konstatiert Schorkowitz. „Rubel oder russisch rubit steht für das Abgehauene, Abgehackte im Unterschied zu russisch dengi – Geld, das von tatarisch beziehungsweise čagataiisch tängkä abgeleitet ist, was auf späteren, tatar-mongolischen Kulturtransfer des 13. Jahrhunderts verweist.“

Ebenso wie viele der übernommenen materiellen Güter hatte Hacksilber als Währungsmittel nur eine vergleichsweise geringe Halbwertszeit, bevor es sich, seiner Funktion verlustig geworden, im Sediment einer Integrationskultur ablagerte. Nicht viel anders verhält es sich nach Dittmar Schorkowitz‘ Erkenntnis mit den Gütern ideeller Natur, wie sie nicht zuletzt aus dem byzantinisch-griechischen Kulturkreis gewonnen wurden.

Schrift, Religion, Ideologie, Malerei und Architektur seien nicht eins zu eins in die Rus' übertragen, sondern angepasst und sozial ausgehandelt worden. Für den Bau neuer Kirchen und Kathedralen habe man zwar byzantinische Architekten berufen, doch bei der Umsetzung seien lokale Baumeister mit am Werk gewesen. Sie sollten säkulare Elemente quasi als Lokalkolorit in das Bauwerk einbringen. „Zur ihren Aufgaben gehörte es, das Bedürfnis der miteinander konkurrierenden Teilfürstentümer nach Repräsentation in Szene zu setzen“, sagt der Forscher. Nicht zuletzt dadurch und durch den Einsatz regionaler Baumaterialien und Techniken seien in der Rus' eben keine Kopien byzantinischer Vorlagen entstanden, sondern Kathedralen und Kirchen eigener Prägung.

Eher säkularen Charakter hatten laut Schorkowitz jene Kulturgüter, die mit dem Einzug der Mongolen in Osteuropa zu Beginn des 13. Jahrhunderts in die Region flossen. „Ihr Erscheinen bedeutete für die Slavia Asiatica eine rapide Zunahme von Kulturformen asiatischer Herkunft, von neuen Orientierungen und vielfältigen Akkulturations- und Assimilationsprozessen“, so der Wissenschaftler über die nachhaltigen Auswirkungen des Mongolensturms und den anschließenden Frieden im Großreich des Dschingis Khan. „Die Pax Mongolica vermittelte damals einer mit hohem Eigeninteresse auftretenden Elite Kulturgüter aus China, Zentralasien und dem Iran und trug so entscheidend zur kulturellen Formgebung der Slavia Asiatica  und Osteuropas bei.“

Die quellenkritische Analyse von Erlassen der Goldenen Horde zeigt, dass es dabei keineswegs nur um Innovationen aus der Kriegskunst ging, sondern die Pax Mongolica auch ein Verwaltungs- und Kanzleiwesen einschließlich eines Steuer- und Abgabesystems mit sich brachte.

Sehr aufschlussreich sei auch der Seitenblick auf vergleichbare Kontaktzonen in der Geschichte Europas. „Multipler Kulturtransfer, Mehrsprachigkeit, interkulturelle Kompetenz und viele andere für die Slavia Asiatica festgestellte Charakteristika kommen genauso an der westlichen Peripherie Ostmitteleuropas, nämlich in der Germania Slavica oder der Polonia Ruthenica, aber auch im europäischen Südwesten auf der iberischen Halbinsel in Al-Andalus vor“, erklärt Schorkowitz.

Dass es also offenbar erprobte Praktiken gibt, die zur Integration führen, dürfte auch die Promovierenden und seine Kollegen von der International Max Planck Research School for the Anthropology, Archaeology and History of Eurasia tangieren, die sich mit den Entwicklungen in Gesellschaften und Kulturen der Alten Welt befassen.

Schließlich dreht sich schon das erste Projekt der im vergangenen Jahr gegründeten Graduiertenschule um kollektive Identitäten vor dem Hintergrund von Entwicklung und Kultur der Alten Welt. Letztlich reichen die wissenschaftlichen Schlussfolgerungen von der Geschichte in die Gegenwart hinein. Oder wie es Schorkowitz formuliert: „Solche Muster und Abhängigkeiten erklären uns auch die Prägung einer Region, die sich erst mit der Frühen Neuzeit nach Europa integriert.“

Glossar

Akkulturation: Umfasst im Sinne einer klassischen ethnologischen Begriffsdefinition Phänomene, die auftreten, wenn Gruppen von Menschen unterschiedlicher Kulturen in einen direkten und dauerhaften Kontakt zueinander treten und sich daraus Veränderungen in den ursprünglichen Kulturmustern einer oder beider Gruppen einstellen.

Kulturaustausch: Im Unterschied zum Kulturtransfer bezeichnet der Kulturaustausch einen Güterfluss, der bei Weitem nicht so zielgerichtet, absichtsvoll und eindimensional wie der Kulturtransfer abläuft, bei dem ganz bestimmte Güter in einem besonderen Zeitraum von einer speziellen Gruppe importiert werden. Vielmehr erscheint er als Form des Zufälligen, Wechselnden und Veränderlichen, wechselseitig, diffus und teilweise auch unverbindlich.

Slavia Asiatica: Der Begriff bezeichnet einen Raum zwischen Donau und Wolga innerhalb des mittelalterlichen Eurasiens. Die Region ist kulturelle Kontaktzone von Völkern in der Kiewer Rus‘ und der angrenzender Steppe mit Stämmen in Skandinavien, Zentralasien und Byzanz.

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