Der Turm in der Taiga
Eine Stahlkonstruktion fast so hoch wie der Eiffelturm und hochpräzise Messtechnik sorgen in Sibirien dafür, dass Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Biogeochemie den Klimawandel immer besser verstehen können. Die Forschung mit ZOTTO wäre ohne russische Partner undenkbar.
Text: Jens Eschert
Auf dem letzten Stück nimmt ihn der mächtige Uraltruck Huckepack, holpert über Sandpisten – Schneisen in der Wildnis Sibiriens. Dass der Wagen bei der nur gut 20 Kilometer langen Fahrt hinein in die Tiefen der Taiga ganze eineinhalb Stunden braucht, stört Jošt Lavrič längst nicht mehr. Schließlich ist der Arbeitsgruppenleiter vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena bereits drei Tage unterwegs, wenn sich seine längste Dienstreise nun dem Ziel nähert: ZOTTO, also das Zotino Tall Tower Observatory, benannt nach dem nächstgelegenen Ort Zotino.
Dort messen Wissenschaftler mit einem 304 Meter hohen Turm kontinuierlich die Menge an Treibhaus- und anderen Spurengasen sowie von Aerosolen in der Atmosphäre. „Klar sind das Strapazen, keine Frage. Aber die Forschung, die wir dort mit unseren russischen Partnern machen können, ist entscheidend, um die Mechanismen und Folgen des Klimawandels verstehen zu können“, sagt der Geochemiker Lavrič.
Schließlich handelt es sich bei den borealen und arktischen Landmassen Sibiriens um einen sogenannten Hotspot – einen Ort, der einen relativ starken Einfluss auf das globale Klimageschehen hat und wo sich gleichzeitig die Effekte des Wandels besonders stark auswirken können. „Es zeigt sich an solchen Orten besonders deutlich, dass das ganze Klimasystem mit all seinen Faktoren von positiven wie negativen Rückkopplungen abhängig ist“, sagt Lavrič.
Ein Beispiel: So binden die sibirischen Nadelwälder etwa zehn Prozent des weltweiten in der Vegetation und Böden gespeicherten Kohlenstoffs. Dazu kommt, dass mehr als die Hälfte der sibirischen Wälder im Permafrost liegen, in dem wiederum gewaltige Mengen an Kohlenstoff gespeichert sind. Dass die Durchschnittstemperatur in weiten Teilen Sibiriens in den vergangenen gut 45 Jahren im Sommer um bis zu zwei Grad Celsius gestiegen ist, zählt dabei zu den bekannten Fakten.
„Dann gibt es aber viele offene Fragen – etwa, wie sich der Temperaturanstieg auf die Kohlenstoffspeicher der Region auswirkt: Führt die Erwärmung durch längere Vegetationsperioden zur zusätzlichen Bindung von Kohlenstoff in stärker wachsenden Wäldern? Oder wird mehr Bodenkohlenstoff durch einen beschleunigten mikrobiellen Abbau in die Atmosphäre freigesetzt“, fragt Jošt Lavrič.
Wegen seiner besonderen Lage misst der ZOTTO-Turm, der gemeinsam vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie und den Partnern vom Sukachev Forstinstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften errichtet wurde, auf sechs verschiedenen Höhen. Die ersten Sensoren liegen unterhalb der Baumwipfel. „Damit ist es möglich, die lokalen Signale besser zu verstehen und zu beschreiben“, sagt Lavrič.
Weil es den Forschern aber um die Wechselwirkungen mit der Atmosphäre sowie den dort generell ablaufenden Prozessen geht, musste man sehr hoch hinaus: Erst in etwa 300 Meter Höhe erreicht man Luftschichten, die frei sind von lokalen Einflüssen und Rückschlüsse zu Klimaprozessen viel größerer Regionen zulassen. Es ist diese Bandbreite an hochpräzisen Messungen von Treibhausgasen wie Kohlendioxid oder Methan, aber auch des Sauerstoffgehalts und genereller meteorologischer Kennwerte, die der Forschung den entscheidenden Mehrwert bietet.
Um den Einfluss der Vegetation in der Wechselwirkung mit der Atmosphäre noch genauer zu erfassen, haben die Wissenschaftler vom Jenaer Institut in den vergangenen Jahren zudem zwei kleine Brüdertürme in der Taiga errichtet, die sogenannte Kohlenstoffflüsse zum einen der Wälder und zum anderen der Sumpfgebiete erfassen. „Beide Messansätze, der vom großen Turm und der von den kleineren Stationen, ergänzen sich. Nimmt man alle Daten zusammen, erhält man ein detailliertes Bild, kann lokale Prozesse in einen großen Kontext einordnen“, sagt Lavrič.
Seit 2006 ist ZOTTO in Betrieb. Erste Studien liegen vor: Sie liefern Fakten, die bisherige Mutmaßungen ersetzen. Etwa bei der Frage, ob die sibirischen Wälder im Jahresschnitt eher eine Kohlenstoff-Quelle sind oder eher eine Senke, also mehr Kohlenstoff aufnehmen als abgeben: „Die Daten zeigen, dass das Bild uneinheitlich ist. Bei großer Dürre im Sommer kann die Aktivität der Vegetation soweit zurückgehen, dass die Photosynthese fast gar nicht mehr stattfindet. Kommen dann noch Brände hinzu, haben wir Sondereffekte mit großem Einfluss“, sagt Lavrič.
Es gebe aber auch andere Jahre, wo die Wälder für eine positive Jahresbilanz sorgen, also mehr Kohlenstoff binden als abgeben. „Je länger die Aufzeichnungen laufen, desto kleiner werden die Fehlerbalken in dieser Rechnung“, so der Forscher.
Das nämlich ist der wissenschaftliche Kern der Hochpräzisionsmessungen: Die Zahlen bilden konkrete Klimasituationen ab. Für die Modellierer, die die verschiedensten Szenarien durchspielen, sind das wichtige Informationen. Schließlich lassen sich so die Ursachen des Klimawandels besser beschreiben, Prognosen werden exakter. Deshalb ist die stationäre Atmosphärenüberwachung weltweit etabliert, immer mehr Stationen werden aufgebaut. Das Ziel: Ein globales Messnetz, das alle relevanten Gebiete der Welt abgedeckt.
Das ist eine Aufgabe der gesamten Community, das Max-Planck-Institut für Biogeochemie ist da eingebunden. Jüngst hat das Jenaer Institut ein Observatorium in Namibia in Betrieb genommen, insgesamt betreut die Gruppe von Jošt Lavrič, die in der Abteilung von Max-Planck-Direktor Martin Heimann angesiedelt ist, weltweit fünf Messanlagen.
Bei einem anderen Max-Planck-Projekt, dem Bau von ATTO, einem ähnlich hohen Turm im Amazonasgebiet, hat das Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz die Federführung. Gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg und dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, bilden diese Einrichtungen den Kern der Partnerschaft Erdsystemforschung (ESRP) und knüpfen internationale Netzwerke mit führenden Forschungsinstituten.
ZOTTO ist ein deutsch-russisches International Science and Technology Center (ISTC) Projekt, der Aufbau wurde größtenteils von der Max-Planck-Gesellschaft finanziert, jetzt beim Betrieb sind beide Seiten beteiligt. „Unsere Forschung wäre ohne die Partner vor Ort nicht denkbar“, betont Lavrič – allein deshalb, weil das Team aus seiner Arbeitsgruppe oder die Institutstechniker um Olaf Kolle nur selten vor Ort sein können. Dagegen sind die russischen Partner vom Forstinstitut ständig an der Station. Sie betreiben eigene Forschung, warten aber auch die Messgeräte und stellen sicher, dass etwa die Dieselgeneratoren konstant Strom liefern, damit die Messdaten kontinuierlich einlaufen. Abrufbar sind diese für die Jenaer Wissenschaftler über einen Server in Krasnojarsk.
„Wir sind maximal zwei, dreimal im Jahr drüben“, sagt Lavrič, der aber regelmäßig mit dem Koordinator beim Forstinstitut, Alexey Panov, in Kontakt steht. Von russischer Seite finden zudem weitere Projekte statt – so hat das Moskauer Institut für Atmosphärenphysik der Russischen Akademie der Wissenschaften eine eigene Messanlage zur Erfassung von Ozon vor Ort.
Künftig soll es nach den Worten von Jošt Lavrič weitere Kooperationen geben. Ab dem Sommer baut die Arbeitsgruppe von Mathias Göckede vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie einen neuen Beobachtungsstandort in der Nähe von Tscherskii im Nordosten Sibiriens auf. Diese Region liegt über einem tiefen Permafrost nahe der arktischen Baumgrenze. In Zusammenarbeit mit der Northeast Scientific Station (NESS) von Sergey und Nikita Zimov wird untersucht, wie sich der Klimawandel auf die immensen Kohlenstoffvorräte in diesem Ökosystem auswirkt.
Dabei geht es nicht nur um steigende Temperaturen: Durch gezielte Entwässerung eines Teils der Messfläche soll auch der Einfluss von Änderungen im Wasserkreislauf erfasst werden. Die Forscher öffnen mit diesem Experiment also gleichsam ein „Fenster in die Zukunft“, um die mutmaßlichen Folgen des Klimawandels bereits jetzt messen zu können.
In diesem Jahr will Jošt Lavrič mit seinem Team im Herbst wieder aufbrechen zu seiner längsten Dienstreise. Die führt ihn von Jena nach Berlin, dort geht es mit dem Flieger nach Moskau, die nächste Maschine bringt ihn nach Krasnojarsk. Hier wechselt Lavrič in einen Minibus, fährt entlang des Jenissei-Flusses nach Norden. Nach einer Übernachtung steigt er dann um in ein Schnellboot, das ihn in acht Stunden bis ins Dorf Zotino bringt. Dort beginnt dann eben jene letzte Etappe mit dem Uraltruck.
Nein, auf die Reise selbst, freue er sich nicht sonderlich. Aber dann da zu sein, sei schon etwas Besonderes. Klar habe man immer viel Arbeit, die anstrengend ist. Das trifft ihn wie seine Kollegen, die in den vergangenen Jahren Leitungen mitten durch den Sumpf verlegen mussten, damit die kleinen Messtürme ihre Daten zur Station senden können. „Das ist ein Kraftakt mit dicken Kupferkabeln, vor allem bei 30 Grad Hitze, wenn überall Insekten sind“, sagt Lavrič. Die Bedingungen machen auch ihm zu schaffen – aber dennoch: „Die Landschaft ist ein Schatz. Ist man da, erlebt man ein ganz besonderes Gefühl von Weite.“