Quellcode des Lebens
Eine Biologievorlesung hat Eugene W. Myers nie besucht. Trotzdem hat er auf diesem Gebiet Karriere gemacht und mit einem Computerprogramm maßgeblich zur Entschlüsselung des menschlichen Erbguts beigetragen. Der Bioinformatiker ist Direktor am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik und am Zentrum für Systembiologie in Dresden.
Text: Elke Maier
Eugene W. Myers sitzt konzentriert vor dem Bildschirm, die Brille auf die Stirn geschoben. Eine Mail muss noch verschickt werden, dann ist Myers ganz für seinen Besuch da. Sein schlichtes Büro liegt im zweiten Stock des Dresdner Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik. Gemeinsam mit der Klaus Tschira Stiftung und der Max-Planck-Förderstiftung hat die Max-Planck-Gesellschaft darüber hinaus ein neues Zentrum für Systembiologie ins Leben gerufen, an dem Eugene – „Gene“ – W. Myers seit etwa vier Jahren Direktor ist. Das Zentrum ist ein Gemeinschaftsprojekt der Dresdner Max-Planck-Institute für molekulare Zellbiologie und Genetik sowie für Physik komplexer Systeme. Es soll Methoden entwickeln, die es erlauben, die vielschichtigen Abläufe in der belebten Natur besser zu verstehen.
Jeans, weißes Hemd, dazu ein schwarzes Jackett, grau melierte, gewellte Haare und dunkle Augen: Äußerlich erinnert Gene Myers ein wenig an den Hollywood-Schauspieler Richard Gere. Berühmt ist er auch – nicht auf der Leinwand, aber in der Bioinformatik. Der US-Amerikaner ist einer der Pioniere in dieser Disziplin. Er hat die Entschlüsselung des menschlichen Genoms um die Jahrtausendwende herum entscheidend vorangebracht. Die Software BLAST, die er 1990 mitentwickelte, benutzen Forscher in aller Welt, um DNA-Sequenzen miteinander zu vergleichen. Er wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Max-Planck-Forschungspreis 2004; außerdem hat ihn das Magazin Genome Technology zum einflussreichsten Bioinformatiker ernannt.
Von der Sequenzanalyse zur Mikroskopie
Gene Myers ist leidenschaftlicher Kaffeetrinker. Folgerichtig schlägt er die Cafeteria im Foyer des Instituts vor, wo er sich einen Cappuccino holt und an einem der metallenen Bistrotische Platz nimmt. In das Gesagte streut er hin und wieder deutsche Ausdrücke ein und betont es durch eine lebhafte Gestik, besonders dann, wenn er von etwas begeistert ist. Und das ist er oft – wenn er etwa erklärt, wie er, der sich jahrelang mit der Sequenzanalyse beschäftigt hatte, zur Mikroskopie gekommen ist. „Das war 2003 bei einem Besuch am Max-Planck-Institut“, sagt er und nippt an seinem Cappuccino. „Tony Hyman zeigte mir Filmaufnahmen einer sich teilenden Zelle. Ich konnte genau beobachten, wie sich der Spindelapparat ausbildete und die Chromosomenhälften gleichmäßig auf die beiden Tochterzellen verteilte. Ich fand das faszinierend“, schwärmt er. „Man konnte das Wachstum der röhrenförmigen Spindelproteine sehen, jeden einzelnen Mikrotubulus. Ich wusste bis dahin gar nicht, was man mit einem Mikroskop alles sehen kann!“ Solche Aufnahmen sind noch nicht so lange möglich. „Erst seit ungefähr zehn Jahren sind wir in der Lage, jedes beliebige Protein in einer Zelle mithilfe von Fluoreszenzfarbstoffen sichtbar zu machen“, sagt Myers. Die Wissenschaftler können damit im Mikroskop live verfolgen, was in einer lebenden Zelle passiert.
Für Gene Myers, der damals an der University of California in Berkeley arbeitete, war der Film der Dresdner Forscher ein Schlüsselerlebnis. Bis dahin hatte er sich vor allem mit dem Buchstabencode des Genoms beschäftigt und Computerprogramme für den Vergleich von Gensequenzen entwickelt. Von nun an richtete er seinen Fokus auf das, was in diesem Code festgeschrieben ist. „Ich will wissen, wie das Erbgut die vielfältigen Formen des Lebens hervorbringt“, sagt er. „Wie bestimmen etwa die Gene, wie das Gehirn der Fruchtfliege Drosophila verschaltet ist und wie es funktioniert?“
Das Fruchtfliegengehirn ist gerade mal einen drittel Millimeter groß. Trotzdem besteht es aus 100 000 Nervenzellen. Es erfordert einen enormen Aufwand, solche winzigen Strukturen zu untersuchen – spezielle, hochauflösende Mikroskope und ausgeklügelte Algorithmen, um unzählige Einzelaufnahmen zu einem dreidimensionalen Bild zu verrechnen.
Zwei Jahre waren beispielsweise notwendig, bis Gene Myers und seine damaligen Kollegen am Howard Hughes Medical Institute in den USA ein Multiphotonenmikroskop entwickelt hatten, um damit das Gehirn einer Maus komplett zu untersuchen. „Was früher eineinhalb Jahre gedauert hatte, ging nun in sechs Tagen – und noch dazu mit viel schärferen Bildern“, sagt Myers.
Mit dieser Erfahrung will er nun am Dresdner Institut gleich zwei hochauflösende Mikroskope entwickeln: eines, um die Vorgänge im Zellinnern sichtbar zu machen, und ein anderes, um Gruppen von Zellen zu untersuchen. „Damit können wir dann zum Beispiel ganz genau verfolgen, was im Drosophila-Embryo passiert“, erklärt der Wissenschaftler. „Wie kommunizieren die Zellen untereinander? Wie arbeiten sie zusammen, damit eine Fliege entsteht?“
Den Organismus als Ganzes verstehen
Es ist dieser interdisziplinäre Forschungsansatz, den Organismus als Ganzes zu verstehen, den Myers am Dresdner Institut so schätzt. „Außerdem bietet die Max-Planck-Gesellschaft ihren Wissenschaftlern die Freiheit, etwas Neues auszuprobieren und dabei auch Risiken einzugehen“, sagt er. Letztendlich ist es aber nicht allein das Forschungsumfeld gewesen, das ihn nach Deutschland gelockt hat. „Dresden ist wunderschön, und meiner Frau und mir gefallen die Kultur und die Lebensart.“
Lange Spaziergänge am Elbufer gehören für ihn genauso dazu wie der tägliche Weg mit dem Fahrrad zum Institut. Wichtig sind Gene Myers aber auch die Freundschaften zu seinen Dresdner Forscherkollegen, die sich im Laufe der Zeit über die Wissenschaft hinaus entwickelt haben.
Der Begriff Freundschaft taucht während des Gesprächs immer wieder auf – vielleicht das Erbe einer rastlosen Kindheit. Geboren wurde Gene Myers in Boise im Bundesstaat Idaho, doch schon bald ging es in die weite Welt. Sein Vater hatte eine Stelle beim Ölkonzern Exxon und arbeitete in verschiedenen Ländern Asiens. Die Familie – seine Mutter, eine gebürtige Französin, seine ältere Schwester und sein jüngerer Bruder – war immer dabei.
„Meinen ersten Geburtstag habe ich auf einem Schiff auf dem Weg nach Karatschi gefeiert, mein Bruder kam in Indien zur Welt“, beschreibt er seine abenteuerliche Kindheit zwischen Pakistan, Indien, Indonesien, Hongkong und Japan. „Wir blieben nie länger als zwei oder drei Jahre an einem Ort. Immer wieder die Brücken zu seinen Freunden abbrechen zu müssen, das war schon hart.“ Dafür hat er aber Einblicke in verschiedene Kulturen und Lebensweisen bekommen und gelernt, sich an neue Lebensumstände anzupassen.
Sehr früh schon zeigte der mittlere Spross der Familie eine ausgeprägte Vorliebe für Zahlen. Kaum beherrschte er im Alter von vier Jahren die Ziffern, begann er, die Zahlen von 1 bis 1000 aufzuschreiben. Das Talent des kleinen Gene blieb jedoch zunächst unerkannt. „In meinen Schulzeugnissen steht, ich hätte eine Begabung für Kunst. Von Mathematik ist keine Rede.“
Mathematik war sein Lieblingsfach, doch darüber hinaus entwickelte er ein vielseitiges Interesse für die Naturwissenschaften. „Ich habe alles Mögliche gelesen, zum Beispiel den Biochemiker und Science-Fiction-Autor Isaac Asimov“, erzählt er und rührt in seinem zweiten Cappuccino. Großen Eindruck machte auf ihn auch Gray’s Anatomy, ein Standardwerk der Anatomie. Mit zwölf wusste er, dass er Forscher werden wollte.
Als Mathematikstudent zwei Semester übersprungen
Gegen Ende seiner Highschool-Zeit kehrte die Familie zurück in die USA. Zum Studium schrieb sich Gene Myers am renommierten California Institute of Technology für Mathematik ein und übersprang gleich die ersten zwei Semester. Als weiteres Fach fiel die Wahl auf Elektrotechnik. Einer der Scheine, der dafür vorgesehen war, steht allerdings bis heute aus: „Ich hätte einen Kurs in Rhetorik belegen sollen, war aber zu schüchtern, um vor Publikum zu reden“, erzählt er und schmunzelt. „Außerdem dachte ich damals, dass ich das als Wissenschaftler später ohnehin nicht brauchen würde.“ Ein Irrtum, wie er inzwischen weiß. Aber auch ohne Rhetorikkurs gelingt es ihm heute mühelos, Menschen für seine Ideen zu begeistern.
Mit der Bioinformatik kam Gene Myers erstmals 1979 während seiner Doktorarbeit bei Andrzej Ehrenfeucht an der University of Colorado in Kontakt. „Damals gab es aber gar keinen Namen dafür, das Fach steckte noch in den Kinderschuhen“, sagt Myers. Er selbst sollte schon bald entscheidend dazu beitragen, dass sich das änderte. Im Jahr 1985 – Gene Myers war inzwischen Assistant Professor an der University of Arizona – entwickelte er ein Programm zum Vergleich von Textdateien, als ein Kollege auf die Idee kam, dass sich etwas Ähnliches auch für den Buchstabencode der DNA eignen könnte, und damit seine Begeisterung für die Bioinformatik weckte. Aber der Grund, an einem biologischen Thema zu arbeiten, war dabei nicht allein wissenschaftlicher Natur: „Anders als bei den Informatikern gab es bei den Biologen immer was zu feiern“, sagt Myers mit einem verschmitzten Lächeln. „Wir hatten viel Spaß!“
Er begann, eng mit Webb Miller von der Penn State University und David Lipman, Direktor am damals neuen National Center for Biotechnology Information, zusammenzuarbeiten. Die Kooperation legte den Grundstein für die Software BLAST. Seit deren Veröffentlichung im Jahr 1990 wurde das im Internet frei verfügbare Programm rund 40 000-mal zitiert und gehört damit zu den meistzitierten wissenschaftlichen Arbeiten. Sogar in die Laborsprache hat BLAST Einzug gehalten: Wenn Biologen damit am Rechner DNA-Sequenzen vergleichen, dann sprechen sie von „blasten“.
Über die DNA-Analyse landete Gene Myers schließlich bei dem bisher spannendsten Projekt seiner Forscherkarriere: der Sequenzierung des menschlichen Genoms. Allein dessen Größe von 3,2 Milliarden Basenpaaren stellte die Forscher vor eine riesige Herausforderung. Denn lange DNA-Stränge lassen sich nicht am Stück entschlüsseln. Meist wird die Sequenz schon nach etwa 800 Basen zu ungenau oder bricht ab. Die Wissenschaftler müssen sich daher Schritt für Schritt vorarbeiten.
Die Aufgabe: ein Puzzle mit 50 Millionen Teilen
Am schnellsten gelingt das mithilfe des sogenannten Shotgun Sequencing, bei dem die DNA vervielfältigt und anschließend – wie bei einem Schrotschuss – in kleine Schnipsel zerstückelt wird. Diese werden dann sequenziert und anschließend am Rechner wieder zusammengesetzt. Wie bei einem Puzzle ist aber auch hier die Aufgabe umso schwieriger, je mehr Teile vorhanden sind. Das Erbgutpuzzle des Menschen hatte rund 50 Millionen Teile.
„Als wir den Vorschlag machten, das menschliche Genom im Shotgun-Verfahren zu sequenzieren, hielten das die meisten für eine Schnapsidee“, erinnert sich Gene Myers. 2000 DNA-Schnipsel galten damals als Obergrenze, alles andere werde die Computerkapazität übersteigen. Ein Artikel, in dem er das Verfahren vorstellen wollte, fiel dementsprechend bei den wichtigsten Fachzeitschriften Nature und Science durch. Die Zeitschrift Genome Research war zwar zu einer Veröffentlichung bereit, allerdings nur unter der Bedingung, einen kritischen Artikel gegenüberzustellen.
Einer, der von Anfang an fest an das Shotgun-Verfahren glaubte, war Craig Venter. Als er 1998 seine Firma Celera gründete, die parallel zum öffentlich geförderten Human Genome Project an der Sequenzierung des menschlichen Erbguts arbeitete, bot er Gene Myers eine Stelle an. Nun musste Myers beweisen, dass seine Methode nicht nur in seinen Computersimulationen funktionierte, sondern auch in der Realität. „Das war die stressigste Zeit in meinem Leben, aber auch die aufregendste“, erinnert er sich.
Der Erfolgsdruck war enorm, denn viele Hundert Millionen Dollar standen auf dem Spiel. Gene Myers arbeitete wie besessen, endlose Zeilen Computercode mussten geschrieben werden. Aber er hielt durch. Dank seines Programms und der Shotgun-Methode konnte die Sequenzierung Jahre vor dem gesetzten Termin abgeschlossen werden und kostete nur ein Zehntel der geplanten Summe. Spätestens jetzt waren auch die letzten Zweifler verstummt.
Programmcodes schreiben aus Leidenschaft
Myers leitet nicht vom Schreibtisch aus die Geschicke seiner Mannschaft. Zu sehr ist er ein Macher, der gern selbst anpackt. Trotz seiner vielen Aufgaben programmiert er immer noch so oft wie möglich selbst: gleich morgens nach dem Aufstehen, bei der obligatorischen Tasse Cappuccino, zwischendurch auch mal nachts oder im Flugzeug. „Ich liebe es einfach, Programmcodes zu schreiben!“
(Der Artikel erschien zum ersten Mal am 13. Januar 2013 online, und wurde am 16. Mai 2017 aktualisiert)