„Dem Bewährten und Liberalen vertrauen“
Ein Beitrag von Ute Frevert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zu 100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland
„Sonntag. Wahltag. Zum ersten Mal gewählt … Hatte mich so gefreut auf diesen Tag.“ Das schrieb Käthe Kollwitz am 19. Januar 1919 in ihr Tagebuch. Der politisch wachen und engagierten Künstlerin bedeutete dieses Datum viel. 1867 geboren, gehörte sie einer Generation an, die mit der Forderung nach dem Frauenwahlrecht aufgewachsen war. Viele Frauen (und wenige Männer) hatten lange dafür geworben, mit starken Argumenten und großer Geduld.
Es fiel ihnen nicht leicht, die Vorbehalte der Gegner zu zerstreuen. Die ‚natürliche‘ Ordnung schien gefährdet, wenn Frauen sich in die Politik einmischen dürften. „Den Männern der Staat, der Frau die Familie“: So lautete der breite Konsens. Selbst unter Frauen waren die Meinungen geteilt. Konservativ Denkende hielten an der bewährten Arbeitsteilung fest, Linksliberale und Sozialistinnen wollten Frauen dagegen als stimmberechtigte Staatsbürgerinnen anerkannt wissen.
Noch während des Ersten Weltkrieges bewegten sich die innenpolitischen Fronten kaum. Zugleich erhielten die frauenbewegten Argumente neuen Zündstoff. Der Krieg erwies sich zwar nicht, wie anfangs erhofft, als großer Gleichmacher, der alle gesellschaftlichen Risse kittete. Aber er griff auch in das Leben der Frauen ein, die als Mütter und Ehefrauen von Soldaten ebenso wie als Hausfrauen und Erwerbstätige vom Kriegseinsatz unmittelbar betroffen waren. Ihnen dafür Respekt zu zollen, indem man ihnen das lang überfällige Wahlrecht verlieh, schien nicht zu viel verlangt.
Dennoch lagen bei Kriegsende keine entsprechenden Regierungspläne vor. Die einzige Partei, die sich (seit 1891) für das Frauenwahlrecht stark machte, waren die Sozialdemokraten. Als sie während der Novemberrevolution 1918 plötzlich die Macht und Regierungsverantwortung in den Händen hielten, schlugen sie alle Bedenken in den Wind und verfügten am 30. November 1918, alle „mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen“ seien fortan wahlberechtigt. Am 19. Januar 1919, bei der Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung, stimmten mehr als 14 Millionen Frauen ab – eine davon war Käthe Kollwitz. Die Wahlbeteiligung lag, ähnlich wie die der Männer, bei über 80 Prozent.
Käthe Kollwitz, davon kann man trotz geheimer Wahl ausgehen, schenkte ihre Stimme einer der beiden sozialistischen Parteien. Insgesamt jedoch votierten Frauen konservativer und kirchennäher als Männer (was viele Sozialdemokraten geahnt und befürchtet hatten). In Köln beispielsweise erhielt die katholische Zentrum-Partei ein Drittel der Männerstimmen, aber fast die Hälfte der Frauenstimmen; bei der SPD war das Verhältnis umgekehrt. Auch im weiteren Verlauf der Weimarer Republik hatten es radikale Parteien wie Kommunisten und Nationalsozialisten bei Frauen schwerer.
Die SPD schickte die meisten Frauen in die Nationalversammlung
Frauen durften 1919 aber nicht nur wählen, sie konnten sich auch wählen lassen – sofern Parteien sie als Kandidatinnen aufstellten. Erwartungsgemäß tat sich hier vor allem die SPD hervor, und sie schickte auch die meisten Frauen in die Nationalversammlung. Gleichwohl waren über 90 Prozent der Abgeordneten Männer, und sie ließen sich ihr Redemonopol nur ungern streitig machen. Sprechen durften Frauen zumeist nur dann, wenn soziale oder „Frauenthemen“ zur Diskussion standen.
An solchen Themen mangelte es keineswegs. Obwohl die Nationalversammlung den Grundsatz männlich-weiblicher Gleichberechtigung in der Weimarer Verfassung verankerte, blieb die gesellschaftliche Wirklichkeit weit dahinter zurück. Als Erwerbstätige erhielten Frauen weniger Lohn als Männer, was mit ihren angeblich geringeren finanziellen Bedürfnissen begründet wurde: Sie könnten sich, anders als Männer, ihr Essen schließlich selber kochen und ihre Wäsche selber waschen und ausbessern. Auch ihre Aufstiegschancen blieben begrenzt, denn sie seien, hieß es, ohnehin nur bis zur Ehe in ihrem Beruf tätig. Auf dem Verordnungswege sorgte der Staat dafür, dass sich seine Beamtinnen an dieses Muster hielten. Sobald sie heirateten, mussten sie aus dem Beruf ausscheiden. Unverheirateten Lehrerinnen legte die „Ledigensteuer“ nahe, in den Stand der Ehe zu wechseln.
Viele Diskriminierungen hielten sich bis in die 1950er Jahre. Die gröbsten Verzerrungen des Familienrechts wurden erst durch die Reformen der späten 1960er beseitigt. Seit den 1970ern trug der neue Feminismus, getragen von jungen, gutausgebildeten, wortmächtigen Frauen, dazu bei, traditionelle Geschlechterbilder ins Wanken zu bringen. Dem öffneten sich auch die Parteien. Dümpelte der Frauenanteil im Bundestag bis 1980 zwischen 6 und 9 Prozent – und lag damit konstant unter dem von 1919! –, schnellte er seit den späten 1980ern steil nach oben. 2013 wurde ein Höchststand von 36,5 Prozent erreicht.
Dass er 2017 auf 30,7 Prozent absank, geht auf das Konto der AfD. Unter ihren Abgeordneten befinden sich nur 11 Prozent Frauen (CDU 20 Prozent, SPD 42 Prozent, LINKE 54 Prozent, GRÜNE 58 Prozent). Dazu passt, dass sie fast doppelt so häufig von Männern wie von Frauen gewählt wurde. Angela Merkel hingegen, die erste Kanzlerin in der deutschen Geschichte, erfreute sich besonders bei älteren Wählerinnen großer Beliebtheit; fast jede zweite stimmte für sie und ihre Partei. Trotz aller tiefgreifenden Veränderungen über die letzten 100 Jahre hat sich damit eines erhalten: die relative Abneigung weiblicher Wähler gegen radikale und illiberale Parteien, verbunden mit der Bereitschaft, dem Bewährten und Liberalen zu vertrauen.