Auszeichnung für Erforschung des Rett-Syndroms

Huda Zoghbi und Adrian Bird erhalten den „International Prize for Translational Neuroscience“ der Gertrud Reemtsma Stiftung für ihre Erkenntnisse zur Entstehung des Rett-Syndroms

Das Gehirn gehört zu den komplexesten Strukturen in der Natur. Etwa 100 Milliarden Nervenzellen arbeiten zusammen, um überlebensnotwenige Funktionen, aber auch Denk- und Lernabläufe zu steuern. Bei Erkrankungen des Gehirns ist es oft sehr schwierig, die zugrundeliegenden Veränderungen aufzudecken. Die Gertrud-Reemtsma-Stiftung zeichnet in diesem Jahr eine Wissenschaftlerin und einen Wissenschaftler für ihre Arbeiten am Rett-Syndrom mit dem „International Prize for Translational Neuroscience“ aus. Huda Zoghbi vom Baylor College of Medicine in den USA hat das Gen MECP2 als Ursache des Rett-Syndroms identifiziert und seine Funktion in verschiedenen Typen von Nervenzellen untersucht. Adrian Bird von der Universität von Edinburgh hat die Rolle des Proteins MECP2 bei der Regulation von Genen aufgedeckt und Mäuse genetisch so verändert, dass an ihnen das Rett-Syndrom erforscht werden kann. Die beiden Forschenden haben dadurch maßgeblich dazu beigetragen, die Erkrankung besser zu verstehen und die Grundlage für neue Therapiemöglichkeiten zu schaffen. Der Preis wird am 16. Juni 2022 im Bucerius Kunst Forum in Hamburg verliehen.

Die Eltern merken meistens als erstes, dass etwas nicht stimmt: Ihr bisher gesundes Kleinkind scheint plötzlich das Interesse an seinen Mitmenschen und der Umwelt zu verlieren. Erste erlernte Wörter verschwinden und es bekommt Schwierigkeiten mit Laufen und Gleichgewicht.

Das Rett-Syndrom ist eine neurologische Störung, die eine Vielzahl von Symptomen wie Autismus, Epilepsie und Angststörungen umfasst. Jährlich erkranken in Deutschland etwa 50 Kinder daran, in erster Linie Mädchen. Nach einem normal verlaufenden ersten Lebensjahr verlieren Betroffene zunehmend ihre Sprach- und Bewegungsfähigkeit. Dadurch sind sie ein Leben lang auf Pflege angewiesen.

Charakteristisch für das Rett-Syndrom sind die sich immer wiederholenden Handbewegungen, die an Händewaschen erinnern. Die Patienten zeigen zeitweise starke autistische Züge, leiden unter Angststörungen und vielfältigen körperlichen Beschwerden wie Atemproblemen oder Wirbelsäulenverkrümmung. Eine Therapie dieser schwerwiegenden Erkrankung gibt es bisher nicht.

Huda Zoghbi entdeckte Auslöser der Erkrankung

Als Huda Zoghbi 1983 zu Beginn ihrer neurologischen Ausbildung innerhalb kurzer Zeit bei zwei Mädchen das Rett-Sydrom  diagnostizierte, war noch sehr wenig über die Erkrankung bekannt. Zoghbi  wollte den Auslöser dieser komplexen Erkrankung finden. Da in den betroffenen Familien immer nur ein Familienmitglied betroffen ist, schien es sich um spontan auftretende Veränderungen im Erbgut zu handeln. Das dafür verantwortliche Gen zu finden, war zur damaligen Zeit eine enorme Herausforderung – auch, weil Erbgutanalysen noch sehr zeitaufwändig und teuer waren.

Über zehn Jahre lang untersuchte Zoghbi das Erbgut der betroffenen Familien und grenzte die in Frage kommenden Gene immer genauer ein. Schließlich fand sie bei Menschen mit Rett-Syndrom auf dem X-Chromosom Veränderungen in einem Gen namens MECP2. Diese Mutationen haben die Produktion eines defekten MeCP2-Proteins zur Folge und sind Auslöser der Erkrankung.

Adrian Bird analysierte genetisch veränderte Mäuse ohne MECP2-Gen

Das MeCP2-Protein wurde einige Jahre zuvor von Adrian Bird entdeckt. Der Wissenschaftler fand heraus, dass MeCP2 an bestimmte Stellen der  DNA bindet, die mit Methylgruppen markiert sind, und so die Aktivität tausender Gene in Nervenzellen reguliert und optimiert.

Als bekannt wurde, dass bei Patienten mit dem Rett-Syndrom in vielen Nervenzellen kein funktionierendes MeCP2 hergestellt werden kann, wollte Bird dessen Rolle in diesen Zellen genau untersuchen. Er entwickelte dafür genetisch veränderte Mäuse mit ausgeschaltetem MECP2-Gen. Diese Mäuse besitzen typische Eigenschaften des Rett-Syndroms und bilden eine wichtige Grundlage für die Forschungen der Erkrankung.

Durch die grundlegenden Erkenntnisse von Zoghbi und Bird konnte das ungewöhnliche Krankheitsbild des Rett-Syndroms genauer untersucht werden. Die betroffenen Kinder entwickeln sich zunächst normal, da MeCP2 erst ab dem zweiten bis dritten Lebensjahr in höheren Konzentrationen in den Nervenzellen benötigt wird. Ein Fehlen wirkt sich deshalb in dieser Zeit nicht negativ aus. Mit zunehmendem Alter wird jedoch durch das fehlende MeCP2 die Reizweiterleitung in den Nervenzellen drastisch verändert und die ersten Beeinträchtigungen treten auf.

Die Erkrankung tritt vor allem bei Mädchen auf, da sie zwei Exemplare des X-Chromosoms besitzen. Eines davon wird schon früh in der Entwicklung ausgeschaltet. Dies führt dazu, dass die Hälfte ihrer Zellen das normale Gen ausschaltet, während die andere Hälfte das Chromosom inaktiviert, das das mutierte Gen trägt. Die letztgenannten Zellen produzieren also ausreichend MeCP2-Protein.  Weibliche Embryonen mit diesen Mutationen bleiben folglich dank der Inaktivierung des X-Chromosoms am Leben, allerdings um den Preis des Rett-Syndroms. Bei männlichen Babys sind dagegen alle Nervenzellen geschädigt, sie versterben daher meist vor oder kurz nach der Geburt.

Huda Zoghbi und Adrian Bird versuchen auch Therapien zu entwickeln, die die Lebensbedingungen von Rett-Patientinnen verbessern könnten. Zoghbi hat an den genetisch veränderten Mäusen herausgefunden, dass die Stimulation von Hirnregionen, wie sie auch bei der Parkinson-Therapie eingesetzt wird, Defizite bei Lernen und Gedächtnis beheben kann. Bewegungs- und Hirntraining der Mäuse vor Eintritt der Symptome mildert zudem den Verlauf der Erkrankung.

Adrian Bird wiederum schaltete in den genetisch veränderten Mäusen die Produktion von MeCP2 in den Nervenzellen wieder an. Mäuse, die bereits deutliche Beeinträchtigungen gezeigt hatten, erholten sich dadurch und wurden fast vollständig gesund. Dies zeigt, dass diese neurologische Erkrankung umkehrbar ist, und gibt Hoffnung, das Rett-Syndrom eines Tages heilen zu können.

Die Preisträger

Huda Zoghbi studierte Biologie und Medizin an der American University of Beirut, Libanon und promovierte 1979 am Meharry Medical College, Nashville, Tennessee in Medizin. Danach ging sie ans Baylor College of Medicine and Texas Children's Hospital, Houston, Texas, an dem sie eine Ausbildung in Pädiatrie und Neurologie absolvierte. Anschließend forschte sie als Postdoktorandin auf dem Gebiet der Molekulargenetik. 1994 wurde sie Professorin der Abteilung für Pädiatrie, Molekular- und Humangenetik, Neurologie und Neurowissenschaften in Baylor und 1996 Wissenschaftlerin am Howard Hughes Medical Institute. Seit 2010 ist sie außerdem Direktorin des Jan and Dan Duncan Neurological Research Institute des Baylor College of Medicine und Texas Children's Hospital.

Adrian Bird studierte Biochemie an der Universität von Sussex und erlangte 1971 den PhD an der Universität von Edinburgh. Anschließend ging er für Forschungsaufenthalte an die Universität von Zürich, Schweiz und die Yale Universität in den USA. Ab 1975 baute er seine eigene Forschung in Edinburgh auf, ging dann aber von 1987 bis 1990 an das Institut für molekulare Pathologie in Wien, Österreich. 1990 ging er zurück an die Universität von Edinburgh und hat dort seitdem den Buchanan Lehrstuhl für Genetik inne.

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