Ausgezeichnete Entschlüsselung des Denkens
Die Getrud Reemtsma Stiftung zeichnet die Hirnforscher Richard Andersen und Karl Friston mit dem International Prize for Translational Neuroscience aus
Eine Person steuert nur mit ihren Gedanken ein Auto durch den Großstadtverkehr, Maschinen denken und lernen wie Menschen – was wie aus einem Science-Fiction Roman klingt, könnte durch aktuelle Forschung bald Wirklichkeit werden. Die Getrud Reemtsma Stiftung zeichnet dieses Jahr zwei Forscher für ihre Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns aus. Richard Andersen vom California Institute of Technology arbeitet daran, wie das Gehirn sensorische Informationen verarbeitet und sie in Kommandos für Bewegungen umsetzt. Seine Forschung ermöglicht gelähmten Menschen, ihre Umwelt mit ihren Gedanken zu kontrollieren. Karl Friston vom University College London ist Begründer der Theorie des Prinzips der freien Energie. Diese besagt, dass das Gehirn ständig Vorhersagen über die Umgebung macht, um Überraschungen zu vermeiden. Aber nicht nur die Arbeit des Gehirns kann so in mathematischen Gesetzen ausgedrückt werden. Das Prinzip lässt sich auch auf maschinelles Lernen anwenden und könnte die Grundlage für eine künstliche Intelligenz bilden, die wie ein Mensch denken und lernen kann. Der Translational Neuroscience Preis wird am 20. Juni 2024 in Hamburg verliehen.
Ein Mann sitzt vor einem Bildschirm, der grüne Kreise zeigt. Wird ein Kreis rot, steuert er den Mauszeiger schnell und präzise dorthin. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches. Der Proband ist jedoch bei dem Test äußerlich völlig regungslos. Aufgrund eines Unfalls ist er seit Jahren ab dem Hals gelähmt, den Mauszeiger bewegt er allein durch seine Gedanken. Möglich gemacht haben dies der Neurowissenschaftler Richard Andersen vom California Institute of Technology und sein Team. Neurowissenschaftler erforschen, wie die 86 Milliarden Neuronen im Gehirn zusammenwirken und Verhaltensweisen hervorbringen wie die Planung und Ausführung von Bewegungen.
Für das Greifen nach einem Gegenstand ist ein komplexes Zusammenspiel von Nervenzellen nötig. Sehzellen im Auge werden angeregt und leiten das Bild des Gegenstandes als visuelle Information zum Gehirn. Dort werden zuerst Nervenzellen in Hirnarealen für das Sehen und dann in Bereichen für Bewegung aktiviert. Schließlich wird die Information vom Gehirn ins Rückenmark weitergeleitet, um die Muskeln in Arm und Hand zum Greifen zu aktivieren. Ist jedoch die Reizweiterleitung im Rückenmark wie bei Tetraplegikern unterbrochen, können sich die Betroffenen Bewegungen zwar noch vorstellen, diese aber nicht mehr ausführen.
Hier setzt die Idee einer Gehirn-Maschine-Schnittstelle an. Andersen und sein Team setzen einen nur vier mal vier Millimeter großen Chip mit 96 Elektroden ein. Dieser zeichnet auf, wenn Nervenzellen im Gehirn aktiv sind und elektrische Signale produzieren. Aus den Signalen der Nervenzellen entschlüsselt ein Computer, welche Bewegungen gemacht werden sollen und gibt ein entsprechendes Kontrollsignal weiter, mit dem externe Hilfsmittel bewegt werden.
Solche neuronalen Prothesen könnten die Lebensqualität von Tetraplegikern erheblich verbessern. Es ist nämlich viel mehr als das Steuern von Mauszeigern möglich. Menschen können mit dem Chip lernen, einen Roboterarm zu bedienen, der ihnen eigenständiges Greifen ermöglicht. Sogar Autofahren könnte für Tetraplegiker wieder möglich werden: In Computersimulationen steuerte eine Testperson mit ihren Gedanken problemlos ein autonomes Auto – und war dabei in Bremstests genauso schnell wie eine gesunde Person.
Auch Karl Friston vom University College London erforscht seit Jahren die Abläufe und Zusammenhänge im Gehirn. Dabei hat er eine einheitliche Hirntheorie entwickelt, die die komplexen Vorgänge im Gehirn mit einfachen Prinzipien erklärt. Seinem „Prinzip der freien Energie“ zufolge streben alle Lebewesen nach Konstanz und möchten Überraschungen vermeiden.
Auch das Gehirn mag keine Überraschungen und macht ständig Vorhersagen, was passieren kann. Das spart Energie. Treten unerwartete Ereignisse ein, werden die Prognosen angepasst und weiter verbessert. Durch die Überraschungen entsteht Bewusstsein, das als Lernen und Erfahrungen abgespeichert wird.
Mit dem Prinzip der freien Energie lassen sich jedoch nicht nur die Denk- und Lernvorgänge beim Menschen erklären. Das Prinzip lässt sich auch auf maschinelles Lernen anwenden. Aktuelle neuronale Netze künstlicher Intelligenz benötigen eine sehr große Menge an Daten, um die richtigen Muster zu erlernen. Künstliche Agenten, die nach dem Prinzip der freien Energie lernen, können auch in neuen und unbekannten Umgebungen agieren. Dabei handeln sie nach dem Ziel, Überraschungen zu vermeiden und lernen aus ihren Vorhersagefehlern. Auf dieser Basis könnten eines Tages Maschinen entwickelt werden, die ähnlich wie Menschen denken und lernen.
Die Preisträger
Richard A. Andersen studierte Biochemie an der University of California, Davis, und promovierte 1979 im Fach Physiologie an der University of California, San Francisco. Anschließend verbrachte er Forschungsaufenthalte als Postdoc an der Johns Hopkins Medical School und als Assistenzprofessor am Salk-Institut für biologische Studien, Kalifornien. 1987 wurde er erst außerordentlicher Professor, 1990 James G. Bowsell-Professor für Neurowissenschaften am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Seit 1993 ist er Professor für Neurowissenschaften am California Institute of Technology (Caltech), wo er seit 2017 zudem das T&C Brain-Machine-Interface Center leitet. Darüber hinaus ist Richard Andersen Mitglied der National Academy of Sciences, der National Academy of Medicine und der American Academy of Arts and Sciences.
Karl J. Friston studierte 1980 Naturwissenschaften am Gonville and Caius College, Cambridge UK und anschließend Medizin an der King's College Medical School, London University. 1988 schloss er seine Facharztausbildung im Bereich Psychiatrie an der Oxford University ab und ging anschließend für einen Forschungsaufenthalt an das Hammersmith Hospital, London in die Abteilung Neuroimaging. 1992 ging er für zwei Jahre an das Neurosciences Institute La Jolla CA, USA. Seit 1994 forscht er am Institute of Neurology, UK und ist seit 2001 wissenschaftlicher Direktor des Wellcome Trust Centre for Neuroimaging. Seit 2022 ist er außerdem leitender Wissenschaftler der Firma Verses, die sich auf die Entwicklung neuer Formen künstlicher Intelligenz spezialisiert hat.