Solidarisch im Stadion

In ehemaligen Kohlerevieren spielen Fußballvereine eine wichtige Rolle für den Zusammenhalt zwischen arbeitslos gewordenen Arbeitern

Der Kohlebergbau ist in weiten Teilen des Ruhrgebiets längst Geschichte ebenso wie in anderen europäischen Revieren. Doch der Verlust der Arbeitsplätze belastet die Menschen in den betroffenen Regionen weiterhin. Denn die Arbeit sicherte nicht nur den Lebensunterhalt, sondern schuf auch Gemeinschaft. Am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung geht Julia Wambach der Frage nach, was die Solidarität der Arbeiter ersetzt hat. Dabei ist sie auf zwei engagierte Fußballklubs gestoßen: den FC Schalke 04 und den französischen Verein RC Lens.

Text: Julia Wambach, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

In der Zeit der Industrialisierung waren die Förderung von Kohle und die Produktion von Stahl ein Wirtschaftsmotor und ein Garant für sichere Arbeitsplätze. Doch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann der Niedergang der dieser sogenannten Montanindustrie. Im Ruhrgebiet gingen zwischen 1976 und 1998 rund zwei Drittel der Arbeitsplätze im Kohlebergbau und in der Stahlindustrie verloren. Ähnliche Entwicklungen gab es in anderen Kohle- und Stahlregionen. In der Wissenschaft spricht man von Deindustrialisierung.

Die negativen sozialen Folgen dieser Entwicklung sind vielfach thematisiert worden. So beschreiben etwa Didier Eribon in seinem Bestseller „Rückkehr nach Reims“, Edouard Louis in dem Buch „Das Ende von Eddy“ und auch Darren McGarvey in „Poverty Safari“ die Atomisierung der Arbeiterschicht und die Folgen von Arbeitslosigkeit für die Familien, das soziale Umfeld sowie für die betroffenen Städte und Regionen.

In meinem Forschungsprojekt gehe ich einer anderen spezifischen Frage in diesem Kontext nach: Was passiert eigentlich mit dem sozialen Zusammenhalt – plakativ formuliert: mit der Solidarität –, wenn die Arbeit nicht mehr da ist, um die herum sich diese Solidarität entwickelt hat? Das ist natürlich eine gewisse Idealvorstellung, dass es vor der Deindustrialisierung diese Solidarität, diesen sozialen Zusammenhalt so gab, aber nehmen wir das mal so hin.

Als Fallbeispiele habe ich zwei Orte in Deutschland und Frankreich ausgewählt: die Stadt Lens in Nordfrankreich und Gelsenkirchen im Ruhrgebiet. Auch wenn die Städte unterschiedlich groß sind – Gelsenkirchen hat knapp 260.000 Einwohner, Lens nur etwas mehr als 30.000 Einwohner – befinden sich beide im Zentrum ehemaliger Kohle- und Stahlregionen. Sie stehen emblematisch für die postindustrielle Misere mit ihren Arbeitslosenzahlen. In Gelsenkirchen liegt die Arbeitslosenquote aktuell bei 13,7 Prozent und damit deutlich mehr als doppelt so hoch wie im bundesdeutschen Durchschnitt. In Lens sind es 11,5 Prozent und damit eine rund 50 Prozent höhere Quote als in Frankreich insgesamt. Die Bergwerke wurden in Lens allerdings schon um einiges früher geschlossen als in Gelsenkirchen. Das letzte stellte 1986 die Arbeit ein, während die letzte Gelsenkirchener Zeche Ewald-Hugo erst im Jahr 2000 stillgelegt wurde.

Schlechte Presse

Seither werden die beiden Städte häufig als im Verfall begriffenes Ödland auf der Landkarte Europas gesehen. Sie kommen vor allem dann in die Schlagzeilen, wenn es Negatives zu berichten gibt, etwa den hohen Anteil an Wählerstimmen für die extrem rechten Parteien Front National und Alternative für Deutschland. So hat die AfD in Gelsenkirchen bei der Bundestagswahl 2021 mit 14 Prozent doppelt so viele der Erststimmen erhalten wie im übrigen Nordrhein-Westfalen. Und bei der Stichwahl um das französische Präsidentenamt bekam Marine Le Pen vom Front National in Lens diesen April 58 Prozent der Stimmen.

Negative Klischees über die beiden Städte sind weit verbreitet: Als in Lens im Jahr 2012 ein Ableger des Pariser Louvre eröffnet wurde, erklärte der Leiter des Louvre Paris in einem Interview, es sei wichtig für das Museum an einem Ort präsent zu sein, der bisher keine Kultur besitze. Gelsenkirchen hat eine ähnlich schlechtes überregionales Ansehen. Bei einem Ranking aus dem Jahr 2018 im Auftrag des ZDF „Wo lebt es sich am besten? Die große Deutschland-Studie“ kam Gelsenkirchen auf den letzten Platz 401. Kritik an der Studie hagelte es von vielen Seiten, auch das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung nahm sie in seine Rubrik „Unstatistik des Monats“ im April 2019 auf. Die Gelsenkirchener reagierten darauf mit Selbstironie, kombinierten die Platzierung mit dem Autokennzeichen der Stadt zu dem Hashtag #401GE und ließen ihn auf T-Shirts und Sweatshirts drucken.

Die Anekdote zeigt, dass es doch weiterhin ein gewisses Selbstbewusstsein und einen Zusammenhalt in der Stadt geben muss. Tatsächlich finden sich noch mehr Hinweise, dass die Solidarität während der Deindustrialisierung nicht einfach verschwand, sondern den Ort wechselte. Zentral waren und sind dabei die Fußballvereine der zwei Städte: der FC Schalke 04 und der Racing Club de Lens. Sie haben das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Praxis von Solidarität aus der Arbeitswelt übernommen und in den Bereich der Freizeit übersetzt. Die Spieler auf dem Platz wurden so zu Stellvertretern für die Bergleute und deren harten Alltag. Der Erfolg der Klubs half, eine Gemeinschaft und ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl wiederherzustellen, als traditionelle Formen von Solidarität am Arbeitsplatz wegfielen.

Enge Verbindung zwischen Bergbau und Fußball

Das funktioniert auch deshalb so gut, weil die Fußballklubs in Lens und Gelsenkirchen bereits vor dem Ende der Kohle eng mit diesem Industriezweig verbunden waren. Beide Vereine wurden etwa zur selben Zeit gegründet, Schalke 04 im Jahr 1904 und RC Lens im Jahr 1906. Dort übernahm Ende der 1920er-Jahre die Compagnie des Mines de Lens, die lokale Bergbaugesellschaft, den Klub. Schalke 04 wurde von einer Gruppe Jugendlicher aus dem Stadtteil Gelsenkirchen-Schalke gegründet, einige von ihnen waren Auszubildende in der örtlichen Zeche Consolidation.

Das Erbe des Bergbaus ist bis heute in den Wappen der beiden Mannschaften präsent: Der RC Lens hat seit 1955 die Grubenlampe im Wappen, Schalke seit 1958 einen stilisierten Bergwerksschlägel. Die Farben des RC Lens, Blut und Gold (sang et or) sollen das schwarze Gold (also die Kohle) und das Blut der Bergleute darstellen. Bei Schalke 04 tragen die Stadien den Bezug auf die Zechen im Namen: Die „Glückauf Kampfbahn“ beinhaltet den Bergbaugruß und das „Auf“ der 2001 eröffnete Arena „Auf Schalke“ verweist ebenfalls auf die Zeche. Der Spielertunnel in der neuen Arena ist einem Flöz nachempfunden und die Spieler werden wie die ausgelernten Bergmänner nach wie vor Knappen genannt. Das Stadion in Lens, das Stade Bollaert, lag ursprünglich auf dem Firmengelände der Compagnie des Mines, bis es in den 1970er Jahren von der Stadt gekauft wurde

In den goldenen Jahren des Bergbaus profitierten die Klubs von ihren Verbindungen mit den örtlichen Zechen. In Zeiten, in denen die Spieler noch nicht vom Fußball leben konnten, sondern ihren Lebensunterhalt mit Lohnarbeit verdienen mussten, konnten die Zechen lukrative Stellen im Bergbau bieten. Viele der bekannten Spieler hatten allerdings nur geringe Erfahrungen unter Tage oder waren Söhne von Bergleuten. Das Bild der kickenden Kumpel blieb jedoch in den Köpfen der Fans.

Die Position eines Underdog-Klubs, die aus der Zeit der Zechen herrührt, half den Fans sich gegen Ereignisse zu wappnen, die außerhalb ihrer Kontrolle lagen, wie eben die Deindustrialisierung. Die Klubs präsentierten sich als letzter Strohhalm für diejenigen, die ihre Arbeit verloren haben und stellen bis heute eine Gemeinschaft her. Auf der Internetseite erklärt Schalke 04: „In Kombination mit der einzigartigen Solidarität unter Tage, wo die Kumpel einander ihr Leben anvertrauen, entsteht die Keimzelle der königsblauen Kraft: das Jetzt-erst-recht, das Sich-nicht-unterkriegen-lassen. Ohne Bergbau kein Kuzorra, kein Szepan, kein Tibulsky, kein Urban.” – Das waren die Schalker Helden und Fußballer-Bergmänner.

Solidarität durch harte Arbeit

Im Ruhr-Dialekt bedeutet das aus dem Jiddischen kommende Wort „malochen“ körperlich hart arbeiten. Das Idealbild ist der Fußballer, der auf dem Platz so hart arbeitet wie der Bergmann unter Tage. Schalke nennt sich immer noch der „Kumpel- und Malocher-Klub“ und hat sich dazu entschlossen (auch im Vergleich zu anderen Vereinen), die Tradition beizubehalten und darüber ein Gemeinschaftsgefühl mit den Fans herzustellen.

In Lens gibt es einen Begriff, der ähnlich funktioniert: „mouiller le maillot“. Das heißt wörtlich „das Hemd nassmachen“, also schwitzen, und stellt ebenfalls die Verbindung zwischen dem hart arbeitenden Bergmann und dem Spieler auf dem Platz her. Die harte Arbeit und der Stolz, sich für eine gute und gemeinsame Sache anzustrengen, hat durch Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit nicht an Attraktion eingebüßt. Die Arbeiter, die ihre Stellen im Bergbau verloren hatten, konnten sich weiterhin mit dem Konzept identifizieren, da sie selbst in der Vergangenheit hart gearbeitet haben. Wie der Sozialgeograph Anoop Nayak für die englische Stadt Newcastle gezeigt hat, können selbst arbeitslose Jugendliche sich mit dieser strammen Arbeitsethik identifizieren. Das hat natürlich viel mit einem Männlichkeitsideal zu tun, dem Ideal des hart arbeitenden Brotverdieners der Familie, das in Zeiten der Deindustrialisierung nicht mehr funktioniert.

Solidarität in einer großen Familie

Besonders Schalke 04 benutzt den Ausdruck „Familie“ um die Beziehung zwischen Klub und Fans nach der Deindustrialisierung zu beschreiben. Von einem Paternalismus, der sicherlich aus der Zeit des Bergbaus kommt, leitete Schalke 04 ein Handlungsbedürfnis ab. Im August 1983 veröffentlichte der Verein im offiziellen Klub-Magazin einen Aufruf, in dem er arbeitslosen Jugendlichen, die Mitglieder sind oder dem Verein nahestehen, Hilfe bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz oder einer Stelle anbot. Gleichzeitig appellierte der Klub an andere Mitglieder, Lehrstellen und Arbeitsplätze anzubieten. Der Grund für diese Aktion sah der Verein in der Schalke Familie und der Solidarität unter den Mitgliedern des Klubs. Das ist vor allem in einer Zeit interessant, in der die Mitgliederzahlen von Gewerkschaften und politischen Parteien schwinden. In der Vergangenheit war Gelsenkirchen – wie auch Lens – eine Hochburg der Sozialdemokraten und auch der Kommunisten. Mit der Deindustrialisierung ist die Solidarität vom Arbeitsplatz und aus dem politischen Bereich, in die Freizeit gerückt. In Lens hat das Stade Bollaert 38.000 Plätze bei nur 31.000 Einwohnern. Schalke 04 hat zurzeit 160.000 Mitglieder, davon allein 10.200 in Gelsenkirchen selbst. Die SPD hat in der Stadt gerade mal 3.500 Mitglieder.

So sind der FC Schalke 04 oder des RC Lens durch die imaginierte oder inszenierte Solidarität zwischen Bergmännern und Fußballspielern zu einem Markenzeichen für die Region geworden. Man geht ins Stadion, um einen Ort zu haben, an dem man Gemeinschaft erwartet und findet einen Raum, in dem man positive Emotionen wie Solidarität, Anerkennung, Begeisterung und Nostalgie erfährt. Der Vorteil ist, dass es – wie in der Kirche – eine gewisse Regelmäßigkeit des Treffens, eine Ritualisierung gibt (etwa samstags 15:30 Uhr) und damit auch eine stete Aktualisierung der Verbindung. Damit hat sich ein Sammlungsort erhalten, den es bereits vor der Deindustrialisierung gab. Er steht weiterhin offen, wenn andere Orte der Solidarität wie Arbeitsplatz, Partei und Gewerkschaft mit der Deindustrialisierung wegfallen.

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