Deindustrialisierung als Fakt und Fiktion
Ob es in den reichen westlichen Nationen einen Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft gibt oder geben soll, ist umstritten
Mit dem Bedeutungsverlust der Industrie in westlichen Gesellschaften sind weitreichende Befürchtungen verbunden, aber auch die Hoffnung, neue Arbeitsmöglichkeiten zu erschließen. Vorhersagen über einen Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft wurden somit immer wieder zum Gegenstand politischer Konflikte. Ein historischer Blick darauf, von wem und auf welche Weise die postindustrielle Gesellschaft in öffentlichen Debatten thematisiert wurde, kann verständlich machen, wie gesellschaftliche Machtstrukturen und Konfliktkonstellationen solche Zukunftsszenarien beeinflussen.
Text: Timur Ergen, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung
Die Diagnose ist nicht neu: Seit den späten 1970er-Jahren gilt die industrielle Güterproduktion in reichen Ländern als Auslaufmodell. Was nicht in Länder mit günstigeren Lohnkosten verlagert wird – so ein einflussreiches Narrativ –, wird stückweise automatisiert, bis sich in reichen Industrieländern langsam, aber sicher eine postindustrielle Gesellschaft herausbildet. Mit der Deindustrialisierung – dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutungsverlust der fertigenden Industrie – werden in den Sozialwissenschaften zahlreiche gesellschaftliche Probleme im frühen 21. Jahrhundert in Verbindung gebracht – unter anderem der mehrheitsfähige Rechtspopulismus in England und den USA, sich verschärfende interregionale Unterschiede, wachsende Einkommensungleichheiten, sinkende Produktivitätsentwicklung und politische Blockaden in der Klimapolitik. Auf die ein oder andere Weise gilt die Deindustrialisierung mit ihren Flurschäden als zentrale Ursache für viele der gegenwärtig diskutierten Herausforderungen, wenn es um die Stabilität demokratisch-kapitalistischer Gesellschaften geht.
Bevor er seit 2008 zunehmend als Geißel der reichen Demokratien Europas und Nordamerikas beschrieben wurde, war der wirtschaftliche Strukturwandel durchaus positiv besetzt – eine Art postkapitalistische Utopie. Historisch ist die Theorie vom quasi zwangsläufigen Strukturwandel von der manuellen Feldarbeit über den Karosseriebau zur Softwareprogrammierung geprägt von einem aus heutiger Sicht schlicht naiven Fortschrittsglauben. Der Historiker Jan-Otmar Hesse hat sie treffend als einen letzten „Dinosaurier des modernisierungstheoretischen Mesozoikums” beschrieben. Mit ihr verbunden waren nicht selten Versprechen, dass mit dem Verschwinden der Industriearbeit Klassenkonflikt, Ressourcenknappheit und manuelle Arbeit überwunden würden.
»Mit der Deindustrialisierung werden zahlreiche gesellschaftliche Probleme im frühen 21. Jahrhundert in Verbindung gebracht.«
Dass mit dem Strukturwandel derart weitreichende Hoffnungen und Befürchtungen verbunden wurden, hat ihn zu einem stark politisch umkämpftem Zukunftsentwurf werden lassen. Seit den 1970er-Jahren gibt es kaum einen Handelskonflikt, in dem die jeweils bedrohte Industrie nicht versucht hat, sich mit einem Verweis auf die „Zukunft des Industriestandorts“ für unverzichtbar zu erklären. Und in so gut wie jeder größeren wirtschaftspolitischen Reform haben Befürworter von den Segnungen bald wachsender „moderner“ Branchen geschwärmt. In den Untergangserzählungen und Erneuerungsversprechen, die um die Deindustrialisierung kreisen, drücken sich gesellschaftliche Konflikte um die Deutung der Zukunft aus. Für den Umgang demokratisch-kapitalistischer Gesellschaften mit ihrer Zukunft ist das Wechselspiel typisch, in dem verschiedene Interpretationen tatsächlicher Erfahrungen, wissenschaftliche Beobachtungen und politisch-ökonomische Konflikte um die Bestimmung der postindustriellen Gesellschaft ringen.
Deindustrialisierung als Fakt
Wissenschaftliche Kritik an der Theorie sektoralen Wandels existiert zuhauf. Um nur einige wenige oft wiederholte Kritikpunkte zu nennen: Viele Länder folgten historisch nicht dem Dreitakt, hatten etwa eine lange dominante Beschäftigung im Agrarsektor (Japan), einen Überhang bei Dienstleistungsbeschäftigung in der Phase ihrer Hochindustrialisierung (USA) oder eine in den letzten Jahrzehnten überraschend stabile Industriebeschäftigung (BRD). Die sektorale Zuordnung wirtschaftlicher Aktivitäten ist notorisch problematisch. Das Drei-Sektoren-Schema ist keine empirische Beschreibung wirtschaftlicher Realität, sondern ein hoch abstrakter Deutungsrahmen, der so gut wie immer zu wünschen übrig lässt, wenn man genauer hinsieht. Wohin gehört etwa die Buchhaltung eines Turbinenherstellers?
Und selbst wenn es halbwegs gelingt, Aktivitäten schlüssig zuzuordnen, bleibt das Problem, dass wirtschaftliche Aktivitäten über ihre Zuordnung hinweg funktional verflochten sind. Man denke an die vielfältigen Aktivitäten, die mit der heutigen Landwirtschaft verwoben sind, aber überwiegend nicht auf einem Hof stattfinden. Solche und zahlreiche weitere Überlegungen haben viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu gebracht, die einfachen Muster postindustriellen Wandels grundsätzlich anzuzweifeln.
Seit den späten 1990er Jahren ist es in den Sozialwissenschaften üblich, Deindustrialisierung als einen langsamen, aber stetigen relativen Bedeutungsverlust der Fertigungsindustrie für Beschäftigung und Wertschöpfung anzuerkennen, der weitgehend auf veränderte Konsumgewohnheiten, die Globalisierung sowie auf Produktivitätssteigerungen im verarbeitenden Gewerbe in den OECD-Mitgliedstaaten (und seit kurzem auch in ärmeren Ländern) zurückzuführen ist. Dieser Interpretation zufolge - bei der die Erfahrungen mit der Schocktherapie in den postsozialistischen Transformationsstaaten häufig übergangen werden - sind viele der Diagnosen über einen raschen Niedergang der Fertigungsindustrie in den wohlhabenden Ländern übertrieben. Ein Auf und Ab in den Geschicken einzelner Firmen, Cluster, Industrien oder Regionen ist für die Geschichte des Kapitalismus charakteristisch – und zwar im 19. und 20. wie im 21. Jahrhundert. Der englische Nordosten, der amerikanische mittlere Westen und das deutsche Ruhrgebiet sind nicht die ersten Regionen in der Geschichte des Kapitalismus, die mit einem rapiden Niedergang ihrer lokalen Wohlstandsquellen zu kämpfen haben. In der mittleren Frist – so das häufig beschwichtigende Argument – sollten Kapitalverschiebungen zwischen oder innerhalb von wirtschaftlichen Aktivitätsbereichen nicht mit strukturellen Verschiebungen verwechselt werden.
Deindustrialisierung als Fiktion
Für die soziologische Analyse gesellschaftlicher Reaktionen auf Deindustrialisierung sind Argumente über die eigentliche Tiefenstruktur des Phänomens allerdings nur bedingt von Nutzen. Insoweit Unternehmensverlagerungen geografisch und historisch „geklumpt“ auftraten und von gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren als strukturelle Brüche wahrgenommen wurden, waren solche Interpretationen sinnstiftend und handlungsleitend – auch wenn sie „objektiv falsch“ sein mögen. Anders ausgedrückt: Wenn Regionen wie das Ruhrgebiet oder die Stahlcluster in Ohio innerhalb weniger Jahre zehntausende Arbeitsplätze verloren, hat man Deindustrialisierung selbstverständlich als einschneidenden Bruch wahrgenommen. Aus solchen Brüchen entsteht oft ein soziales Klima für Interpretationen über die Zukunft von Industriegesellschaften und sie prägen politisch-ökonomische Konflikte.
Die Karriere des postindustriellen Wandels als gesellschaftlich konstituiertem Zukunftsentwurf lässt sich historisch verfolgen und erlaubt Einblicke in die Dynamiken gesellschaftlicher Erwartungsbildung. Anschauliche Beispiele dieser Dynamiken finden sich in der US-amerikanischen Unternehmenssteuerpolitik der 1980er-Jahre. Die Regierung Ronald Reagans hatte 1981 die größte Steuersenkung der amerikanischen Geschichte verabschiedet – den Economic Recovery Tax Act –, hauptsächlich um in der Krise steckende Fertigungsindustrien zu Neuinvestitionen anzuregen. Neben ihrer obszönen Höhe war an der Steuersenkung vor allem bemerkenswert, dass sie im Kongress weitgehend von beiden Parteien getragen wurde. Das Ziel, das industrielle Kernland in den turbulenten frühen 1980er-Jahren zu stabilisieren, verband unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen.
Diese Allianz ist in den Folgejahren zerbrochen. Im Jahr 1986 beendete die US-Regierung die seit dem Zweiten Weltkrieg überall in der OECD übliche Bevorzugung kapitalintensiver Betriebe im Unternehmenssteuerrecht und wandte sich damit offen gegen wichtige Interessen der Fertigungsindustrie. Getragen wurde diese Abkehr von einer neuartigen Allianz aus Kleinunternehmen, dem Handel und industriell spärlich besiedelten Bundesstaaten sowie Expertinnen und Experten, die die amerikanische Gesellschaft als blockiert von überkommenen Industriestrukturen darstellten. Deindustrialisierung wurde auf Basis dieser Allianz von einer Einheit stiftenden kollektiven Bedrohung zu einer Verheißung für die Verlierer des alten Konsenses.
Gewerkschaftsvertreter warnten indes nachdrücklich davor, dass die USA zu einer „nation of hamburger stands“ verkommen würden – eine rhetorische Figur, die in der bundesdeutschen Debatte ihre Entsprechung in folgender Warnung fand: „Wir können nicht davon leben, uns gegenseitig die Haare zu schneiden.“ Gegen alle Warnungen bewarb Ronald Reagan dagegen den Pfadbruch im Unternehmenssteuerrecht 1986 mit dem Versprechen: „Die alte müde Wirtschaft ... ist von einer jungen, kräftigen Lokomotive des Fortschritts beiseite geräumt worden, die eine Zugladung neuer Jobs, höherer Einkommen und Möglichkeiten mit sich bringt“ (eigene Übersetzung). Die tatsächlich relativ konstanten Beschäftigungs- und Wertschöpfungsanteile verschiedener wirtschaftlicher Aktivitätsbereiche waren für diese Auseinandersetzungen weitgehend irrelevant.
»Der Konflikt zwischen der gezielten Stärkung ›alter‹ Industrien und der Bevorteilung ‹neuer› Branchen durchzieht seit den 1970er-Jahren viele Politikfelder.«
Ähnliche Dynamiken, in denen Verschiebungen von Machtstrukturen und gesellschaftlichen Allianzen mit interpretativen Verschiebungen einhergingen, finden sich zuhauf in vielen Feldern der Wirtschaftspolitik. Der Konflikt zwischen der gezielten Stärkung „alter“ Industrien und der Bevorteilung „neuer“ Branchen durchzieht seit den 1970er-Jahren nicht nur die Steuerpolitik sondern auch die Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, die Handelspolitik, die Forschungs- und Technologiepolitik sowie die Wettbewerbspolitik.
Gesellschaftliche Konflikte um die Zukunft des verarbeitenden Gewerbes sind im letzten Jahrzehnt erneut äußerst relevant geworden. Seit der Finanzkrise von 2008 hat sich in allen reichen westlichen Demokratien vermehrt die Frage nach dem Einfluss des Staats auf die strukturelle Verfassung von Wachstumsmodellen gestellt. Kann und soll der Staat die Anpassung von Industriestrukturen an technologischen Wandel forcieren? Inwieweit sollen gesellschaftliche Ressourcen dafür aufgewendet werden, bestehende Industriestrukturen zu konservieren? Und inwieweit muss Raum für den Anschluss an neue Branchen und Betätigungsfelder geschaffen werden? Derartige Fragen führen auch gegenwärtig zu gesellschaftlichen Konflikten um die Deutung der Zukunft.
Dieser Artikel wurde zuerst im Forschungsmagazin Gesellschaftsforschung (Ausgabe 1/2021) des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung veröffentlicht.
Timur Ergen
ist seit 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Im Rahmen seines Forschungsprojekts untersucht er Deindustrialisierung in komparativer Perspektive. Seine weiteren Forschungsinteressen sind Wirtschaftssoziologie, Innovation, Energiepolitik, Fiskalpolitik, Wettbewerb und Wettbewerbsrecht.