Wie das Gehirn Gebärdensprache verarbeitet
Zum Verstehen von Gebärden wird das gleiche Hirnareal aktiviert wie bei gesprochener Sprache
Über 70 Millionen gehörlose Menschen auf der ganzen Welt verwenden eine Gebärdensprache. Obwohl sie im Gehirn auf ähnliche Strukturen wie Lautsprachen zugreifen, war es bislang schwierig, die Hirnregionen zu identifizieren, die beide Formen von Sprache gleichermaßen verarbeiten. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften haben nun in einer Meta-Analyse herausgefunden, dass das Broca-Areal in der linken Hirnhälfte, das sich bereits als zentraler Knotenpunkt für Lautsprachen herausgestellt hat, auch für die Gebärdensprachen die entscheidende Hirnregion ist.
Die Sprachfähigkeit ist eines der wesentlichen Merkmale, das den Menschen von anderen Tieren unterscheidet. Viele Menschen würden wohl intuitiv Sprache und Sprechen gleichsetzen. Die kognitionswissenschaftliche Forschung zu Gebärdensprachen seit den 1960er-Jahren zeichnet jedoch ein anderes Bild: Heute ist klar, Gebärdensprachen sind vollwertige autonome Sprachen und verfügen über eine komplexe Organisation auf mehreren sprachlichen Ebenen wie Grammatik und Bedeutung. Vorangegangene Studien zur Verarbeitung von Gebärdensprache im menschlichen Gehirn hatten bereits einige Ähnlichkeiten und auch Unterschiede zwischen Gebärden- und Lautsprachen gefunden. Bislang war es jedoch schwierig, daraus ein einheitliches Bild über die Verarbeitung beider Formen von Sprache im Gehirn abzuleiten.
Forschende des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig wollten nun wissen, in welchen Hirnregionen tatsächlich über verschiedene Studien hinweg die Verarbeitung von Gebärdensprache nachgewiesen wurde – und wie groß dabei die Überschneidung mit Hirnregionen ist, die Hörende für die Lautsprachverarbeitung nutzen. In einer Meta-Studie bündelten sie Daten aus auf der ganzen Welt durchgeführten Experimenten zur Verarbeitung von Gebärdensprache. „Eine Meta-Studie gibt uns die Möglichkeit ein Gesamtbild der neuronalen Grundlagen von Gebärdensprache zu bekommen. Wir konnten also erstmals statistisch robust die Hirnregionen identifizieren, die über alle Studien hinweg an der Verarbeitung von Gebärdensprache beteiligt waren“, erklärt Emiliano Zaccarella, Letztautor der Publikation und Gruppenleiter in der Abteilung Neuropsychologie Leipziger Institut.
Das Forschungsteam fanden heraus, dass vor allem das sogenannte Broca-Areal im Stirnhirn der linken Hirnhälfte eine der Regionen ist, die bei der Verarbeitung von Gebärdensprache in fast jeder der ausgewerteten Studien involviert war. Von dieser Hirnregion ist bereits lange bekannt, dass sie eine zentrale Rolle in der Lautsprache spielt und unter anderem für Grammatik und Bedeutung zuständig ist. Um ihre Ergebnisse aus der aktuellen Metastudie besser einordnen zu können, glichen die Wissenschaftler ihre Ergebnisse mit einer Datenbank ab, die mehrere tausend Studien mit Hirnscans enthält.
Und tatsächlich: Die Leipziger Studie konnten bestätigen, dass es eine Überschneidung zwischen Laut- und Gebärdensprache im Broca-Areal gibt. Außerdem konnten die Forschenden zeigen, welche Rolle das rechte Stirnhirn – das Pendant zum Broca-Areal, das sich links befindet – spielt. Dieses trat in vielen der ausgewerteten Studien zur Gebärdensprache ebenfalls immer wieder auf, weil es nicht-sprachliche Aspekte wie räumliche oder soziale Informationen des Gegenübers verarbeitet. Das heißt, Bewegungen von Händen, Gesicht und Körper, aus welchen Gebärden bestehen, nehmen Gehörlose und Hörende zwar prinzipiell ähnlich wahr. Nur bei Gehörlosen aktivieren sie jedoch zusätzlich das Sprachnetzwerk in der linken Hirnhälfte, inklusive des Broca-Areals. Sie nehmen die Gesten demnach als Gebärden mit sprachlichem Inhalt wahr – statt als pure Bewegungsabläufe wie es bei Hörenden der Fall wäre.
Die Ergebnisse zeigen: Das Broca-Areal in der linken Hirnhälfte ist ein zentraler Knotenpunkt im Sprachnetzwerk des menschlichen Gehirns. Es arbeitet – je nachdem ob Menschen Sprache in Form von Gebärden, Lauten oder Schrift verwenden – mit anderen Netzwerken zusammen. Das Broca-Areal verarbeite damit nicht nur, wie bislang bekannt, gesprochene und geschriebene Sprache, sondern generell abstrakte sprachliche Informationen in jeder Form von Sprache. „Das Gehirn ist also auf Sprache an sich spezialisiert, nicht auf das Sprechen“, erläutert Patrick C. Trettenbrein, Erstautor der Publikation und Doktorand am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. In einer Folgestudie will das Forscherteam nun herausfinden, ob auch bei Gehörlosen, ähnlich wie bei Hörenden, die unterschiedlichen Teile des Broca-Areals entweder auf die Bedeutung oder die Grammatik von Gebärdensprache spezialisiert sind.