„Musik könnte systemrelevant sein“
Musiker und Musikbegeisterte haben es schwer in Zeiten von Corona. Denn Musik braucht Gemeinschaft, doch Kontaktsperren verhindern Proben und Konzerte. Vielerorts werden nun kreative Wege genutzt, um diese Lücke zu schließen, vor allem via Internet. Musik schafft so neue, virtuelle Gemeinschaften. Für die Musikwissenschaften ist das ein spannendes Phänomen. Melanie Wald-Fuhrmann, Direktorin am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, hat daher gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus fünf weiteren europäischen Ländern eine Online-Umfrage initiiert. Im Interview spricht sie über die Ziele und die Idee dahinter.
Frau Wald-Fuhrmann, was hat Sie zu der Online-Umfrage „Musik in Zeiten von Corona“ inspiriert?
Ich habe zum ersten Mal aufgehorcht, als die Medien darüber berichteten, dass Menschen in Italien abends auf ihren Balkonen miteinander singen. Dann schickte mir mein Mann ein Video des Bach-Chorals „Befiehl du deine Wege“, das malaysische Musikerinnen und Musiker aufgenommen hatten unter dem Motto „Through music we are connected“ – das fand ich sehr berührend. Und dann erhielt ich zahllose Coronasongs durch eine Mailingliste für Musikethnologen. Coronasongs sind meist Coversongs populärer Lieder, deren Text auf die Corona-Krise hin verändert wurde, die derzeit mit Hashtags wie #coronasongs in den sozialen Medien verbreitet werden. Spätestens da dachte ich, dass wir darüber unbedingt ein Forschungsprojekt starten sollten.
Was möchten Sie und Ihr Team mit dieser Forschung herausfinden?
Wir wissen generell, dass Musik sehr stark auf Menschen wirken kann, und dass sie Musik auch dazu benutzen, um ihre eigenen Gefühle zu beeinflussen, oder um Situationen angenehmer zu gestalten. Zum Beispiel hören manche morgens schnelle, rhythmische Musik, um wach zu werden, oder Teenager verstärken häufig die momentane Stimmung mit entsprechender Musik. Da wir derzeit in unseren Kontakten eingeschränkt sind, stellt sich die Frage, ob und wie diese Beeinflussung durch Musik auch jetzt stattfindet. Knapp ausgedrückt: Inwieweit kann das Musikhören oder Musizieren den Menschen helfen, mit Gefühlen wie Angst, Einsamkeit, Stress oder Niedergeschlagenheit besser zurechtzukommen, die durch die Pandemie und den Lockdown ausgelöst werden?
Welche Fragen stellen Sie den Studienteilnehmenden, um genau das zu ergründen?
Beispielsweise wollen wir erkunden, welche Musikformate genutzt werden, und inwiefern Corona-spezifische Musikformate (neu) entdeckt werden – etwa die Wohnzimmer-Konzerte, die in den sozialen Medien live gestreamt werden. Gleichzeitig untersuchen wir, ob Musik auch als ein Ersatz für direkte soziale Kontakte genutzt wird. Dann interessiert uns auch der Vergleich zwischen dem Musikhören und dem Musizieren: Wirken beide gleich? Machen die Menschen beides aus denselben Motivationen oder aus unterschiedlichen? Um diese Effekte unmittelbar zu erfassen, läuft die Studie solange, wie die Kontaktsperren in den sechs europäischen Ländern andauern.
Eine Hauptfrage Ihrer Studie lautet: „Hat sich Ihr Musikverhalten seit Einführung der Corona-Maßnahmen geändert?“ Was ist Ihre persönliche Antwort auf diese Frage?
In gewisser Weise ja. Ich nehme mir vor allem mehr Zeit zum konzentrierten, neugierigen Musikhören, einfach, weil mein Tagesablauf weniger stressig ist und ich dann abends den Kopf dafür noch frei habe. Als Musikwissenschaftlerin bin ich nämlich weniger eine Entspannungshörerin. Allerdings bin ich in der privilegierten Situation, weder beruflich noch privat negativ von der Krise betroffen zu sein, so dass ich Musik nicht als ein Hilfsmittel brauche – was ja eine Vermutung in unserer Studie ist.
Angenommen die Studie zeigt, dass Musik bei der Bewältigung von Angst und Einsamkeit hilft. Wie könnten diese Ergebnisse genutzt werden?
Zum einen könnte das zeigen, dass vielleicht auch Kultur im Allgemeinen und Musik im Speziellen systemrelevant sein können. Diese Systemrelevanz könnte es wichtiger machen, dass viele freiberuflichen Musikerinnen und Musiker gegenwärtig um ihre Existenz bangen. Zum anderen könnten aus den Resultaten Vorschläge für zukünftige, ähnliche Situation entwickelt werden.
Zum Beispiel?
Zunächst einmal müssten wir dreierlei genauer wissen: Bei welchen Menschen und unter welchen Umständen wirkt welches Musikverhalten positiv? Dann könnten relativ konkrete Empfehlungen aufgestellt werden, etwa: Hören Sie mehr Musik, suchen Sie sich bewusst Musik, die Ihnen gegen negative Gefühle, wie Einsamkeit, hilft. Oder: Fangen Sie an zu singen, beispielsweise gemeinsam in einem Online-Chor. Es ist ja so leicht und fast kostenlos, Musik zu hören und zu singen, und doch könnte beides bedeutende stabilisierende Effekte haben.
Interview: Annika Eßmann
Linktipps
- Der Online-Sender detektor.fm hat Wohnzimmerkonzerte verschiedener Musikerinnen und Musiker zusammengestellt.
- "MPhil Dahoam" heißt das Angebot der Münchner Philharmoniker mit einer Reihe kurzer Online-Videos, in denen sich Orchestermitglieder der Münchner Philharmoniker aus ihrem "Home Office" melden.
- Die Elbphilharmonie in Hamburg bündelt unter dem Titel "Elphi at Home" ihr digitales Programm und stellt täglich neue Streams und Live-Aktionen zur Verfügung.
- Die Chorplattform "Singen in München" bündelt Informationen und Angebote für Singbegeisterte.
- Wer selbst gerne singt, kann sich mit Stimmaufnahmen am Online-Chor beteiligen.