Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften
Inverse Probleme – indirekte Messung, Detektion und Rekonstruktion in naturwissenschaftlichen Problemen
Ist es möglich, die Gestalt einer Trommel zu hören? Aus der Erfahrung wissen wir, dass große, kleine, runde oder eckige Trommeln jeweils anders klingen. Können wir umgekehrt, die Gestalt einer Trommel identifizieren und rekonstruieren, wenn wir lediglich (alle) Töne, die die Trommel produzieren kann, gehört, das entsprechende Instrument jedoch nicht gesehen haben? Oder gibt es Trommeln von unterschiedlicher Form, die dieselben Töne produzieren?
Diese in der mathematischen Literatur klassische, auf Mark Kac zurückgehende Frage [1], ist ein prototypisches Beispiel eines inversen Problems. Dabei handelt es sich um eine Klasse von Fragestellungen, die in unzähligen Prozessen in der Natur, in medizinischen Messverfahren, den (Ingenieurs-)Wissenschaften und unseren alltäglichen Erfahrungen auftreten. So navigieren Tiere wie Fledermäuse oder Delfine indirekt mit Hilfe von Echoortung, Röntgenmethoden werden routinemäßig zur nicht-invasiven Diagnose von Knochenbrüchen eingesetzt und Spektroskopie-Verfahren geben wichtige Aufschlüsse über die Zusammensetzung von ganz unterschiedlichen Materialien. In all diesen Verfahren ist es das Ziel, durch indirekte, nicht-invasive Messungen auf Parameter oder Eigenschaften des zugrundeliegenden Systems zu schließen. .
Drei wichtige Fragestellungen hierbei sind:
Die Eindeutigkeit von Lösungen zum inversen Problem. Liegen genügend Daten vor, um die gesuchte (physikalische) Größe eindeutig zu identifizieren? Obwohl diese Frage möglicherweise zunächst als rein theoretischer, akademischer Aspekt erscheint, verbirgt sich hier auch aus praktischer Sicht ein zentraler Gesichtspunkt. So ist es z.B. beim Röntgen eines gebrochenen Arms sehr wichtig, ein eindeutiges Bild des gebrochenen Knochens zu erhalten.
Die Stabilität von Lösungen des inversen Problems. Da in den meisten Messverfahren kleine Messfehler und Störungen auftreten, ist es sehr wichtig, zu verstehen, wie sehr die gesuchte Information von diesen Fluktuationen abhängt. Wie sehr unterscheiden sich beispielsweise zwei Röntgenbilder, wenn die Röntgenquelle leicht wackelt?
Die algorithmische Rekonstruktion der Lösung eines inversen Problems. Aus praktischer Sicht ist es eines der Hauptziele bei einem inversen Problem, das gesuchte Objekt algorithmisch zu rekonstruieren. So werden beispielsweise bei der Röntgentomographie die bekannte Intensität und Position der Röntgenquelle sowie die gemessenen Intensitäten hinter dem zu untersuchenden Objekt zu einem Bild des gesuchten Objekts zusammengefügt.
Im Allgemeinen stellt sich die Analyse dieser Aspekte als kompliziert heraus, da es sich bei inversen Problemen um (nichtlineare) "Umkehrungen" von mathematisch wohlgestellten Problemen handelt und diese daher oft in einem mathematisch präzisen Sinn schlecht gestellt sind. Dies kann sich beispielsweise darin niederschlagen, dass diese Probleme keine Lösungen, mehrere uneindeutige Lösungen oder nur sehr instabile Lösungen besitzen, die sich bereits bei sehr kleinen Störungen qualitativ stark verändern. In Anbetracht der Bedeutung von Verfahren wie der Röntgentomographie ist es deshalb von zentraler Relevanz, diese Klasse von Problemen sowohl theoretisch als auch von einem praktischen Gesichtspunkt genau zu untersuchen.
Das Calderón Problem – ein prototypisches inverses Problem
Ein sowohl in Bezug auf Anwendungen als auch aus theoretischer Sicht prototypisches inverses Problem ist das Calderón Problem. Dabei handelt es sich um ein von Alberto Calderón eingeführtes, ursprünglich durch seine geologischen Arbeiten zur Erdölexploration bei der argentinischen Ölgesellschaft motiviertes inverses Problem. Hierbei wird ausgenutzt, dass unterschiedliche Materialien (z.B. Gesteine oder Öleinlagerungen) unterschiedliche elektrische Leitfähigkeitseigenschaften besitzen. Diese Leitfähigkeiten können im Allgemeinen sowohl inhomogen als auch anisotrop sein, d.h. sie können sich einerseits von Punkt zu Punkt ändern und andererseits richtungsabhängig sein.
Um dadurch indirekt die Position des Öls zu bestimmen, werden an der Erdoberfläche elektrische Spannungen angelegt. Diese induzieren wiederum im Erdinneren ein, dem Messenden unbekanntes, von der Leitfähigkeit des Materials abhängiges elektrisches Feld. Die dadurch resultierenden Ströme an der Oberfläche werden dann für viele unterschiedliche Spannungen gemessen.
Es ist nun das Ziel, mit Hilfe der Spannungs- nach Strommessungen an der Erdoberfläche (oder mathematisch idealisiert mit Hilfe aller möglichen Spannungs- nach Strommessungen an der Erdoberfläche) die Leitfähigkeit des Materials und damit die Position des Öls im Erdinneren zu rekonstruieren [2].
Auch wenn das von Calderón vorgeschlagene Verfahren heute weniger in seinem ursprünglichen Kontext eingesetzt wird, haben dieses und eng verwandte inverse Verfahren breite Anwendungen, die von der Medizintechnik bis hin zur Korrosionsdetektion reichen.
Trotz seiner Bedeutung als prototypisches inverses Problem sind viele wichtige Fragen für das Calderón Problem noch immer ungelöst. Es ist daher einer der Forschungsschwerpunkte der Max-Planck Forschungsgruppe „Rigidität und Flexibilität in partiellen Differentialgleichungen" am MPI MiS dieses Problem sowie seine in der Natur auftretenden nichtlokalen Analoga genauer zu analysieren [3], (In-)Stabilitätsmechanismen zu identifizieren [4] und Bezüge zu verwandten inner-mathematischen und anwendungsbezogenen Problemen aufzuzeigen [5]. So konnten wir beispielsweise für eine nichtlokale Version des Calderón Problems, das unter anderem Kristalldefekte modelliert, trotz der Anwesenheit sehr irregulärer Strukturen das "partielle Datenproblem" lösen und Eindeutigkeit und Stabilität zeigen. Dort ist nicht die gesamte Spannungs-nach-Stromabbildung sondern – realistischer – nur ein lokaler Ausschnitt dieser gegeben. Hierbei wurden neuartige, quantitative Approximationsmethoden entwickelt, die auch in anderen mathematischen Problemen von Relevanz sind.