„Es gibt noch die Chance, einen No-Deal-Brexit abzuwenden“
Venki Ramakrishnan, Präsident der Royal Society, über die Austrittspläne der Briten aus der EU und deren Folgen für die Wissenschaft
Unter welchen Bedingungen Großbritannien die Europäische Union verlässt, ist völlig offen, seit das britische Parlament den mit Brüssel ausgehandelten Austrittsvertrag abgelehnt hat. Venki Ramakrishnan, Nobelpreisträger und Präsident der renommierten Royal Society kämpft seit Monaten gegen den Worst Case: den ungeordneten Brexit. In einem solchen Fall befürchtet er massive Nachteile für die Wissenschaft im Land. Auf der Hauptversammlung der Max-Planck-Gesellschaft beteiligt sich Ramakrishnan diese Woche an einer Podiumsdiskussion zur Zukunft Europas. Zuvor erläuterte er im Interview seine Sicht auf den Brexit und dessen Auswirkungen.
Herr Ramakrishnan, vor drei Jahren haben die britischen Bürger für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Spüren Sie seither schon Veränderungen für die Forschung?
Es gibt vereinzelt Berichte, dass Leute gehen, gehen wollen oder wegen des Brexit nicht kommen. Wenn wir uns jedoch die Zahlen ansehen und sie mit den Vorjahren vergleichen, lässt sich eigentlich kein konkreter Unterschied erkennen. Wir befürchten allerdings, dass es zu spät ist, wenn sich tatsächlich spürbar etwas geändert hat. Dann hat sich vermutlich die Einstellung der Leute gegenüber Großbritannien schon negativ entwickelt. Wir tun alles, damit Großbritannien in der wissenschaftlichen Community weiterhin als offen und kooperativ gilt.
Die konservative Partei sucht gerade einen Nachfolger für Premierministerin Theresa May. Die Kandidaten befürworten einen schnellen Austritt. Kommt jetzt möglicherweise der Brexit ohne Vertrag?
Es besteht immer noch die Chance, einen No-Deal-Brexit abzuwenden, weil die meisten Leute erkennen, dass keiner daran ein Interesse haben kann. Das Parlament ist dagegen, ebenso die meisten Interessensverbände, einschließlich Wirtschaft und Gewerkschaften sowie die Wissenschaft. Derzeit kommt jeder sechste Forscher aus einem anderen EU-Land. Und viele andere Bereiche wie das staatliche Gesundheitssystem sind ebenfalls auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Ein Brexit ohne Vertrag würde die Möglichkeiten begrenzen, solche Mitarbeiter zu rekrutieren, und er wäre ein negatives Signal an diejenigen, die bereits in Großbritannien leben und arbeiten.
Falls Großbritannien ohne Vertrag aus der EU austreten sollte, welche finanziellen Konsequenzen erwarten Sie für die Forschung?
Der finanzielle Verlust würde etwa eine halbe bis eine Milliarde Euro betragen. Dazu kommt, dass es nicht nur Universitäten und wissenschaftliche Institutionen trifft. In kleinen und mittleren Unternehmen stammen etwa 17 Prozent der Mittel für Forschung und Entwicklung aus der EU. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass es hier nicht nur ums Geld geht. Es geht uns darum, Kooperationen und Netzwerke zu erhalten. Wir wollen bei Großprojekten und bei der zukünftigen Gestaltung der Wissenschaft in Europa mitreden. Und wir möchten weiterhin einen wirklich europaweiten Pool an Talenten zur Verfügung haben.
Theresa May kündigte an, bis 2020 zusätzlich zwei Milliarden Pfund pro Jahr in Forschung und Entwicklung zu investieren. Könnte das nicht ein Vorteil für die Wissenschaft sein?
Das ist begrüßenswert. Insgesamt hat sich Großbritannien verpflichtet, bis 2027 2,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung zu investieren. Der nächste Schritt muss eine längerfristige Verpflichtung sein. Bemerkenswert ist, dass wir derzeit deutlich unter dem OECD-Durchschnitt liegen. Wenn wir durch den harten Brexit die Finanzierung verlieren, könnte das einen Großteil dieses Anstiegs zunichtemachen. Es ist paradox, dass wir über alle Parteien hinweg eine starke Unterstützung für Wissenschaft und Technologie haben, während gleichzeitig der Brexit der Wissenschaft schaden würde.
Welche weiteren Konsequenzen hätte ein Brexit ohne Vertrag für die britische Wissenschaft?
Die Wissenschaft war schon immer ein internationales Unterfangen. Sie floriert, wenn der Austausch von Ideen und Fachwissen durch Freizügigkeit erleichtert wird. Großbritannien hat sich durch seine Offenheit wissenschaftlich hervorragend entwickelt: Es steht als internationales Wissenschaftsland gleich nach den USA an zweiter Stelle. Eine der Hauptfolgen eines No-Deal-Brexit wäre, dass er dem Ruf Großbritanniens als aufnahmebereites und offenes Land schaden würde.
Interview: Mechthild Zimmermann