Earth Day 2019: „Wir können Tiere nicht in Schutzgebiete sperren“

Interview mit Martin Wikelski darüber, wie der Mensch den Bewegungsraum von Tieren immer weiter einschränkt

Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) zeigt mit seinem alljährlichen Bericht „Environment Frontiers“ auf, welche Herausforderungen die natürlichen Lebensgrundlagen auf unserem Planeten künftig maßgeblich mitbestimmen werden. "Ökologische Vernetzung: Brücken für mehr Artenvielfalt" nennen die Autoren eine der großen Herausforderungen der Zukunft in ihrem Report 2018/2019.

Die meisten Schutzgebiete liegen heute wie Inseln in einem Ozean aus menschengemachten Landschaften. Intensiv genutzte Agrarlandschaft und Siedlungen wirken für viele Tiere und Pflanzen wie unüberwindbare Barrieren, die jeglichen Austausch zwischen den Schutzgebieten verhindern. Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell hat durch seine Forschung gelernt, dass viele Tiere weite Reisen unternehmen.

Warum reicht es für den Artenschutz nicht, einfach nur genügend Naturschutzgebiete und Nationalparks auszuweisen?

Fast alle Tiere bewegen sich fort – die einen mehr, die anderen weniger. Durch unsere Forschung wissen wir, dass sehr viel mehr Tiere auf Wanderschaft gehen, als wir lange Zeit dachten. Vor allem Jungtiere müssen häufig das elterliche Revier verlassen und ziehen weg.

Wir werden das Überleben solcher Arten nicht sichern können, wenn wir sie in Schutzgebieten einsperren.

Deshalb müssen wir auch über dynamische Schutzgebiete nachdenken. Wenn also ein Ort zu einer bestimmten Jahreszeit ein wichtiger Stützpunkt für eine Art ist, sollte dieser für eine begrenzte Zeit geschützt werden. Die übrige Zeit im Jahr kann er dann wieder vom Menschen genutzt werden.

Warum müssen Schutzgebiete miteinander verbunden sein?

Heute leben viele Tiere und Pflanzen in voneinander isolierten Populationen, das heißt, sie können sich nicht mehr untereinander austauschen. Mit Austausch meine ich Gene, damit die Populationen nicht genetisch verarmen, aber auch Kultur, denn Tiere geben auch Wissen untereinander weiter. Wenn zum Beispiel unterschiedliche Storchenpopulationen nicht mehr zusammenkommen, können sie ihr Wissen über verschiedene Flugrouten in die Überwinterungsgebiete nicht mehr weitergeben.

Ist dieses Thema schon im öffentlichen Bewusstsein angekommen?

Viel zu wenig – ökologische Vernetzung ist noch immer ein Randthema für Spezialisten. Wir sperren Wildtiere in Schutzgebieten weg und denken, alles ist gut. Im Anthropozän brauchen wir ein völlig neues Verhältnis zwischen Mensch und Tier: Die Beziehung muss enger werden.

Dazu kennen wir die Bedürfnisse der verschiedenen Arten aber noch zu wenig. Mit unserem Icarus-Projekt können Tiere auf ihren Reisen begleiten. Sie erzählen uns dann förmlich, was sie brauchen. Dieses Wissen können wir dann nutzen, um die richtigen Lebensräume unter Schutz zu stellen.

Mit welchen Maßnahmen können Lebensräum miteinander verbunden werden?

Schutzgebiete können durch Korridore miteinander verbunden, Straßen mittels Wildbrücken überquert werden. Oft braucht es aber gar keine aufwändigen Maßnahmen. Viel wäre zum Beispiel schon gewonnen, wenn wir eine strukturreiche Landschaft erhalten würden, die Tiere durchwandern können, oder wenn wir unsere Gartenzäune für Tiere durchlässig machen würden.

Wie steht es denn in Deutschland um die Vernetzung von Schutzgebieten?

Ein auch im internationalen Maßstab herausragendes Beispiel ist das Grüne Band. Weite Strecken der ehemaligen innerdeutschen Grenze sind nach der Wende unter Schutz gestellt worden. Diese Flächen sind heute sehr wertvolle Lebensräume und bieten vielen Tieren und Pflanzen die Möglichkeit zur Ausbreitung.

Bei uns in Baden-Württemberg gibt es einen Fachplan „Landesweiter Biotopverbund“. Er soll ökologische Wechselbeziehungen in der Landschaft wiederherstellen und die Ausbreitung von Tieren und Pflanzen ermöglichen. Luchse aus der Eifel wandern entlang dieser Korridore zum Beispiel immer wieder in den Schwarzwald. Wir sind zum Beispiel gerade dabei, einen Luchs ausfindig zu machen, der in der Eifel mit einem Signalsender ausgestattet worden und nun in den Schwarzwald gezogen ist.

Das Gespräch führte Harald Rösch

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