Zur Transformation der globalen Energiesysteme

Jürgen Renn, Robert Schlögl, Christoph Rosol und Benjamin Steininger stellen eine Forschungsinitiative der Max-Planck-Gesellschaft zu sozio-technischen Aspekten der Energiewende vor

Die Welt verändert sich, aber nicht schnell genug. Die Erderwärmung, die durch die Zunahme von Treibhausgasen weiter fortschreitet, bereitet den politischen Entscheidungsträgern weltweit offenbar genug Sorgen, um endlich tätig zu werden. Die Pariser Vereinbarung, die im Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UNFCC) inzwischen von 168 Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde, hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, die Treibhausgasemissionen bis Mitte dieses Jahrhunderts drastisch zu senken. Dabei soll der Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperaturen auf höchstens 2°C und nach Möglichkeit sogar auf 1,5°C über dem vorindustriellen Niveau begrenzt werden. Forscher machen jedoch darauf aufmerksam, dass die Treibhausgasemissionen nach wie vor weiter steigen und sich diese Entwicklung noch einige Jahre fortsetzen wird – möglicherweise so stark, dass sich die Höchstgrenze von 2°C unmöglich aufrechterhalten lässt und erheblich höhere Durchschnittstemperaturen erreicht werden.

Wie auch immer die Menschheit ihren unhaltbaren Lebensstil verändert und welche Lösungen sie auch entwickelt und umsetzt: Eines ist klar - wir leben in einer Zeit des Übergangs. Aus einer wirtschaftlichen und technologischen Perspektive betrachtet und unter Berücksichtigung der geohistorischen Folgen leben wir im Beginn des Anthropozäns, eines Zeitalters also, in dem das menschliche Handeln dauerhafte planetarische Einflüsse entfaltet und das deshalb heute als neues geologisches Zeitalter diskutiert wird. In den nächsten Jahrzehnten sind in der industriellen Produktion drastische Veränderungen mit neuen Stoffkreisläufen, neuartigen Arbeitsformen, notwendig werdenden globalen Kooperationen, Technologieaustausch und insbesondere neuen Wegen in der Energiegewinnung zu erwarten. Insbesondere das Energiesystem der Zukunft ist von entscheidender Bedeutung für alle anderen Prozesse und deren Auswirkungen auf das Erdsystem.

Welche gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen die Entwicklungen im Energiesektor und im Bereich der natürlichen Ressourcen haben werden, ist weitestgehend unbekannt. Allzu oft wird deutlich, dass sich die Geisteswissenschaften einerseits und die Natur- und Technikwissenschaften anderseits in verschiedenen Welten bewegen; viel zu selten beschäftigen sich Wissenschaftler mit den Entwicklungen außerhalb der Sphäre ihrer eigenen Disziplin. Dies mag in vielen Fällen, rein technisch gesehen, funktionieren. Wenn es allerdings um Herausforderungen in historischen und geohistorischen Maßstäben geht, kann eine fehlende, breiter angelegte historische Perspektive unter Umständen die Möglichkeiten für einen sachgerechten Umgang mit dem Übergangsprozess in schwerwiegender Weise einschränken. Ein tieferes Verständnis des historischen Hintergrundes von Prozessen, die diese Energietransformation begleiten, ist damit nicht nur von akademischem Wert, sondern auch der einzige Weg, die Dimension der laufenden Entwicklung wirklich zu begreifen.

Aus diesem Grund prüft die Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaftliche Sektion der Max-Planck-Gesellschaft die Möglichkeit, eine neue Forschungsinitiative ins Leben zu rufen – ein Pilotprojekt, eine Abteilung oder sogar ein eigenes Institut. Forschungsleitend könnte eine einfache, aber weitreichende Frage sein: Wie gestalten sich die Wechselwirkungen zwischen technologischen Veränderungen bei den Energiesystemen und den gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, insbesondere auch den Wissenssystemen? Die neue Forschungsinitiative der Max-Planck-Gesellschaft ist als breit angelegte historische und systematische Perspektive auf Szenarien zwischen dem Neolithikum und der Gegenwart angedacht. Sie will Experten aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen einbeziehen, um neuartige Methoden für eine historische Erforschung von Energiewendeprozessen zu entwickeln. Die Bedeutung einer umfassenden historischen Perspektive wird das erste Grundprinzip sein. Das zweite Grundprinzip ist die Überzeugung, dass Energieregime mit Kernfragen von Gesellschaftssystemen interagieren. Das erfordert eine breit angelegte, systemische Perspektive etwa daraus, inwiefern sich  für die Moderne grundlegende Konzepte wie die Freiheit des Einzelnen, Wohlstand und Fortschritt gemeinsam mit dem technischen System der Nutzung fossiler Energieträger entwickelt haben. Das dritte Prinzip betrifft die Materialität von Energieträgern und entsprechenden Energietransformationsprozessen. Zu analysieren sind die konkreten Kontexte von insbesondere chemischen Industrieanlagen, Rohstoffdistrikten sowie die globalen Zyklen der Produktion, des Verbrauchs und der Umweltverschmutzung.

Neue Formen der Analyse und Beschreibung müssen sich auf die historischen Interaktionen zwischen verschiedenen Mikrosphären und der planetarischen Makrosphäre konzentrieren. Nicht zuletzt sind das Anthropozän und die dazugehörige Anthropozän-Forschung ein Leitmotiv der interdisziplinären wissenschaftlichen Arbeit im Rahmen der neuen Forschungsinitiative.

Gemäß der Tradition der Max-Planck-Gesellschaft, werden die an dieser Initiative beteiligten Wissenschaftler viel Raum erhalten, eigenen Forschungsperspektiven zu entwickeln und an Problemen der Grundlagenforschung zu arbeiten. Eine solche Arbeitsumgebung trägt dazu bei, die gesellschaftlichen Herausforderungen zu verstehen, die aus der mit dem Klimawandel verbundenen Energie- und Ressourcendynamik hervorgehen. Junge Wissenschaftler erhalten hier ausgezeichnete Möglichkeiten und Spielräume, sind aber gleichzeitig auch Teil einer wirklich interdisziplinären Arbeitsatmosphäre.

Energiewende und gesellschaftlichen Wandel verstehen

Mit Blick auf  den Beginn des Zeitalters der Industrialisierung wird greifbar, dass auch die nächsten Jahre und Jahrzehnte tiefgreifende Veränderungen mit sich bringen werden. Um 1800 hat die Erfindung der Dampfmaschine nicht nur die Welt der Technik, sondern langfristig das Gesicht der Erde verändert. Die Möglichkeit, mit Wärmekraft Dinge in Bewegung zu setzen, die vorher praktisch als unbeweglich galten, und die damit verknüpfte Möglichkeit,  die Fabrikproduktion auf ein vorher nie dagewesenes Niveau zu heben, hat einen neuen Typ menschlicher Geschichte eröffnet. Mit Anbruch des industriellen Zeitalters galt Kohle als der zentrale Energieträger, der zunächst die Dampfmaschinen und dann ganze Kraftwerke antrieb. Zusammen mit Stahl ermöglichte die Kohle den Bau von Verkehrswegen und industriellen Großanlagen sowie später die Elektrifizierung der Städte.

Seitdem haben neue Materialien und neue Technologien kontinuierlich dazu beigetragen, das Erscheinungsbild der Welt – und der Menschen – zu verändern. Man nimmt an, dass bis zu jedes dritte Stickstoffatom in unseren Körpern aus industriellen Haber-Bosch-Verfahren für die Herstellung von Ammoniak und Düngemitteln stammt. Die Prozesse der chemischen Industrie haben damit seit Beginn des 20. Jahrhunderts globale Effekte auf landwirtschaftliche, biologische, gesellschaftliche und damit auch gesamtpolitische Prozesse.

Nach der Kohle kam das Öl, dann Kunststoff und später Silizium. Integrierte Schaltkreise, , die auf den elektronischen Eigenschaften dieses chemischen Elements basieren, rüsteten unsere Rechner mit beispielloser Leistungsfähigkeit aus, mit der sich alle möglichen Arten von Problemen berechnen und simulieren lassen. Das Computerzeitalter mündete im Internetzeitalter mit all seinen erstaunlichen kulturellen Phänomenen, die wir heute erleben können. Aber obwohl wir die globalen kulturellen Auswirkungen, die das Internetzeitalter mit seinem weltweiten Austausch von Ideen, Meinungen, Mode oder Musikkultur hervorruft, noch nicht verstehen, sind wir auch mit der Dringlichkeit konfrontiert, unsere Erkenntnisse in ein größeres Gesamtbild darüber zu integrieren, wie menschliche Gesellschaften in Zukunft leben wollen. Das Wohlergehen künftiger Generationen hängt von unseren Entscheidungen darüber ab, wie wir unser Wissen teilen und produktiv nutzen wollen.

Wir stehen an einem Scheideweg, aber die Landkarten der vor uns liegenden Gebiete sind zum Teil noch leer. Und das hängt nicht nur mit dem Bedarf an weiterer Forschung über grundlegende chemische, physikalische und biologische Prozesse im Erdsystem zusammen. Wir wissen auch zu wenig über die Interaktion der menschlichen Gesellschaften mit diesem System und über ihren Umgang mit den Herausforderungen des Klimawandels und anderer Umwälzungen für unser planetarisches Umfeld. Wir wissen nicht, welche politischen, wirtschaftlichen und technologischen Maßnahmen uns in eine nachhaltigere Zukunft führen können. Forschung wird uns dabei helfen, die schnellsten und effizientesten Möglichkeiten der Einführung von sicheren und zuverlässigen Netzen aus erneuerbaren Energieträgern zu finden, die weniger schwankungsanfällig sind als die konventionellen fossil oder atomar betriebenen Kraftwerke. Mit diesen Problemen sind viele politische Fragen verknüpft. Betrachtet man eine gut vernetzte, regionale Organisation wie die Europäische Union mit all ihren verschiedenen Meinungen und Interessen, kann man sich vorstellen, wie schwierig es erst sein wird, globale Vereinbarungen in Richtung auf eine nachhaltige Zukunft in der Energieerzeugung zu erzielen.

Paris ist nur der Anfang

Zur Vermeidung einer übermäßigen Klimaerwärmung sind weltweit massive Investitionen in die regenerative Energiegewinnung erforderlich. Die Höchstgrenze von 2°C ist keine willkürliche Festlegung. Die Wissenschaftler sind sich einig, dass bei noch höheren Temperaturen für viele Regionen weltweit dramatische Folgen zu erwarten sind, die zum Teil schon heute beobachtet werden können. Die Niederschlagsverteilungen werden sich verändern und in einigen Regionen zu extremer Dürre und in anderen zu heftigen Regenfällen führen. Die veränderten Wetterlagen werden Umwälzungen in der Landwirtschaft zur Folge haben und die Wahrscheinlichkeit von Hungersnöten erhöhen. Das wiederum wird in vielen ärmeren Teilen der Erde Migrationsbewegungen und bewaffnete Konflikte auslösen. Die Temperaturerhöhung der Atmosphäre wird sich nicht gleichmäßig verteilen, sodass es in einigen Gebieten sogar kälter werden könnte. Andere Regionen, wie etwa die Region des Persischen Golfs und Teile von Afrika, werden insbesondere in den Sommermonaten wesentliche höhere Temperaturextreme erleben – mit der Folge, dass Menschen während Zeiten extremer Hitze sogar in geschlossenen Räumen leben müssen. Am stärksten werden Entwicklungsländer unter der globalen Erwärmung zu leiden haben. Gleichzeitig sind sie am schlechtesten darauf vorbereitet – und haben das Problem nicht verursacht. Der bei weitem größte Anteil der erzeugten Treibhausgase stammt von den Industrieregionen, hier insbesondere Europa und den USA, wobei aber auch China und andere Schwellenländer inzwischen zu den großen Verursachern zählen.

Der Pariser Vereinbarung kommt eine zentrale Bedeutung zu, sie hat aber auch ihre Kehrseiten. Sie ist nicht bindend und die Länder, die ihre Zusicherungen zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen nicht einhalten, haben keine Sanktionen zu befürchten. Zudem wurden von vielen Regierungen keine eindeutigen Verfahren zur Messung von Kohlendioxidemissionen festgelegt. Darüber wird weiter diskutiert.

Die Erzeugung, Speicherung und Verteilung von Strom ist nur eines der zentralen Probleme bei der Bekämpfung des Klimawandels. Die Emissionen, die durch die verschiedenen Formen des Verkehrs entstehen, sei es nun zu Lande, zu Wasser oder in der Luft, lassen sich noch viel schwerer durch die Nutzung nachhaltiger Energiequellen vermeiden, als dies bei der Stromerzeugung der Fall ist. Das gleiche gilt für Emissionen, die in der Landwirtschaft, durch Heizungsanlagen und im Zusammenhang mit industriellen Verfahren anfallen.

Die derzeitige Lage in der Klimapolitik

Und doch gibt es auch Grund zu Optimismus. In einer globalen Wettbewerbswirtschaft tragen die Energiepreise wesentlich zur Wettbewerbsfähigkeit einer Nation bei. Dank jahrzehntelanger entschlossener Arbeit von Wissenschaftlern weltweit liegen die Kosten für die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern inzwischen fast auf dem Niveau der fossilen Brennstoffe. In windreichen Regionen sind die Preise für Windenergie seit einiger Zeit wettbewerbsfähig. Auch die Kosten für Photovoltaik-Strom sind in den letzten Jahren enorm gesunken. In einigen Regionen mit intensiver Sonneneinstrahlung gelten Photovoltaikanlagen inzwischen bereits als preisgünstigste Energiequelle – solange die Sonne scheint. Die Speicherung von Wärme oder Strom für die Nacht oder für Regentage ist teuer und bringt grundlegende wissenschaftliche und technologische Herausforderungen mit sich.

Um im Prinzip flüchtige elektrische Energie in ein Energiesystem zu integrieren, das aktuell aus elektrischen, aber an zentraler Stelle auch aus chemischen, molekularen Energieträgern besteht, also aus Kraftwerken und Stromnetzen, aber eben auch aus Kraftstoffen oder wie im Fall von Kunstdünger anderweitigen, chemischen Energieressourcen, reicht es nicht aus, erneuerbare Energien und ihre Speicherung als zwei ‚Drop in‘-Lösungen zu diskutieren. Wir müssen das gesamte Energiesystem und die Rohstoffversorgung umgestalten. Dieser Umgestaltungsprozess umfasst technische, wirtschaftliche, regulatorische und gesellschaftliche Aspekte und sollte auf einem angemessenen Verständnis der wechselseitigen Beziehungen zwischen technischen und gesellschaftlichen Interaktionen basieren, die über wirtschaftliche und regulatorische Maßnahmen vermittelt werden. Mit dieser Perspektive im Blick ist es an der Zeit, eine ganzheitlich orientierte Betrachtung der Strukturen und Konzepte unserer Energiesysteme in Angriff zu nehmen. Die Energiemärkte bewegen sich mit wachsender Geschwindigkeit. Vielleicht war es kein Zufall, dass die Pariser Vereinbarung im Jahre 2015 unterzeichnet wurde, dem Jahr also, in dem die neu installierte elektrische Leistung aus regenerativer Stromerzeugung erstmals in der Geschichte die Neuerrichtung fossil befeuerter Kraftstoffwerke übertraf. Die Bedeutung dieser technologischen und wirtschaftlichen Fortschritte kann nicht oft genug betont werden. Investoren und Versicherungsgesellschaften beginnen, in großem Maßstab über Investitionen in Maßnahmenpakete für erneuerbare Energien nachzudenken.

Zur Reduzierung von Anlagerisiken suchen Finanzmarktakteure nach den besten Möglichkeiten, riesige Investitionspakete zu implementieren, bei denen der technische oder politische Ausfall eines Riesenprojekts nicht die gesamte Investition gefährdet. Solche Überlegungen sind deshalb so wichtig, weil viele Investitionsmöglichkeiten in Teilen der Welt entstehen, die politisch, sozial und wirtschaftlich nicht stabil sind. Die Verhandlungen in Paris drehten sich überwiegend darum, eine Einigung zu erzielen, zu deren Unterzeichnung nahezu alle Länder bereit sind. Beim Klimagipfel, der ein Jahr später in Marrakesch, Marokko, stattfand, konzentrierten sich dagegen viele Diskussionen auf neue technologische Lösungen und Geschäftsmöglichkeiten.

Es kann und soll jedoch nicht die Aufgabe der hier beschriebenen Aktivität der Max-Planck Gesellschaft sein, unmittelbar in den politischen Diskurs einzugreifen. Vielmehr ist dieser Gegenstand der geplanten Studien. In Umsetzung der vorgesehen systemischen Betrachtung von Transformation wäre eine Betrachtung ohne Einbeziehung der politischen Realitäten unvollständig und würde vielfältige Zusammenhänge in sozio-technischen Systemen ignorieren.

Kultur als Innovationsmotor

In welcher Weise und mit welchem Tempo sich all diese Probleme spürbar auf gesellschaftliche Entwicklungen übertragen werden, lässt sich nicht leicht vorhersagen. Die neue Forschungsinitiative der Max-Planck-Gesellschaft wird viele dieser offenen Fragen angehen – und bei ihrem Versuch, Antworten zu finden, wahrscheinlich neue Fragen aufwerfen. Die Initiative wird von einer interdisziplinären Zusammenarbeit innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft vorangetrieben. Am Max-Planck-Institut für chemische Energiekonversion arbeiten Naturwissenschaftler an der Entwicklung neuer Methoden, mit denen sich Energie effizient in speicherbare und nutzbare Formen umwandeln lässt. Aus der Perspektive der Geisteswissenschaften kann das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte seine Forschungskompetenz. Die breite, auch gesellschaftliche Bedeutung der Veränderung von Wissenssystemen und technischen Systemen wird hier erforscht. Wissenschaftler des Instituts sind mit vergleichenden Untersuchungen unterschiedlicher Kulturen und Wissenssysteme in Nord und Süd, Ost und West vertraut, die große Zeiträume wissenschaftlicher, sozialer und technischer Entwicklungen umspannen. Für ein vertieftes Verständnis der grundlegenden Herausforderungen unserer Zeit wird neues Wissen benötigt. Beispiele zukünftiger Forschung könnten menschliche Interventionen in Zyklen des Erdsystems sein, Schlüsselressourcen  für die bestehenden sozio-technischen Systeme oder auch Interaktionen zwischen gesellschaftlichen Netzwerken auf der Makroebene und den Netzwerken auf der Mikroebene der industriellen, etwa chemischen Stoffkreisläufe. Selbst abstrakte Informationstechnik ist materiell geerdet, selbst digitale soziale Netzwerke sind ohne Ressourcen und deren Kontexte undenkbar.  In jedem Fall muss die künftige Forschung ein breites Spektrum an Erdsystemwissenschaften einbeziehen, schon um die planetarischen Auswirkungen menschlich technischen Tuns immer mitzureflektieren.

Für eine befriedigende Beurteilung der Probleme unserer Zeit wird es nicht ausreichen, alle grundlegenden chemischen Reaktionen, die Verteilung von Treibhausgasen, ihre Produktions- oder Konversionsmethoden und die Möglichkeiten des Ersatzes einer Energiequelle durch eine andere zu verstehen. Denn gesellschaftliche Veränderungen und kulturelle Entwicklungen sind nicht nur das Ergebnis von technologischen Revolutionen, sondern zugleich auch deren Ursache. Das Zusammenspiel von Wissenschaft, Technik und Kultur gestaltet sich komplex. Zuweilen führen neue Technologien – Erfindungen wie beispielsweise der Buchdruck, Radio und Fernsehen oder das Internet – im historischen Effekt zu einer Neuordnung der Gesellschaft.

Und oft ist es Kultur selbst, die technologische Entwicklungen vorantreibt. Ohne die Nachfrage nach Büchern und ohne breite gesellschaftliche Debatten wie etwa die Reformationsbewegungenhätte es in der frühen Neuzeit wohl wenig Anreiz gegeben, den Buchdruck zu entwickeln bzw. auszubauen. Und in den aktuell vergangenen Jahrzehnten hat zunehmend ein Nachdenken über nachhaltige Lebensweisen eingesetzt und zu einem weltweit spürbaren Trend hin zu gesünderer Ernährung sowie Natur- und Umweltschutz geführt. In den Großstädten rund um den Globus erleben wir eine Renaissance des Fahrrads – ein altes, aber praktisches, umweltfreundliches und gesundes urbanes Transportmittel. Aber oft genug zahlen sich technische Lösungen allein nicht aus. Die Verbrennungsmotoren sind effizienter geworden. Das hat zwar die Treibstoffkosten für den Warentransport reduziert, aber keine spürbaren Auswirkungen auf einen reduzierten Treibstoffverbrauch im Privatsektor gehabt. Die Verbraucher kaufen größere Autos, weil der Kraftstoff für sie immer noch bezahlbar ist.

All diese kulturellen Entwicklungen beeinflussen unsere Lebensweise, unseren Städtebau, unsere Mobilität sowie unsere Arbeitswelt und sind umgekehrt von diesen Faktoren abhängig. Darum ist die Zusammenführung von Kenntnissen und Fähigkeiten aus den Geistes- und Naturwissenschaften für eine Analyse der derzeitigen Lage von entscheidender Bedeutung. Die Probleme, denen wir gegenüberstehen, sind vielfältig – in Wirklichkeit so umfassend, dass die Aussichten zuweilen bedrohlich erscheinen. Vor dem Hintergrund der Auswirkungen der Verhaltensweisen der modernen Menschheit auf unseren Planeten kann man sich leicht der Definition einer neuen geologischen Epoche – des Anthropozäns – anschließen, die heute als eine neue geologische Zeitperiode diskutiert wird, deren Kennzeichen der globale Einfluss der Menschheit ist.

Während bei den Geologen die akademische Debatte darüber noch geführt wird, ob das Anthropozän offiziell als neues Erdzeitalter ausgerufen werden sollte, ist eines auch ohne den geologischen Fachterminus klar: menschliches Handeln hat zahlreiche chemische und metereologische Parameter unseres Planeten verändert. Wir erleben die Folgen unserer Lebensweise bereits im planetarischen Ausmaß. Das schafft eine Reihe von Problemen, die von der globalen Erwärmung über die Versauerung der Ozeane bis zur Verschlechterung der Böden und zum Verlust von landwirtschaftlicher Nutzfläche reichen. Zu den Folgen solcher Veränderungen zählen auch wachsende Schwierigkeiten bei der Nahrungsmittelerzeugung sowie Migrationskonflikte.

Lehren aus der Vergangenheit

Die Geschichte hat uns gelehrt, wie dramatisch sich viele Klimaveränderungen in der Vergangenheit – größtenteils durch natürliche Ursachen – auf menschliche Gesellschaften ausgewirkt haben. Einige alte Hochkulturen sind verschwunden. Übrig geblieben sind Ruinen ihrer Steingebäude, die von Regenwäldern überwuchert oder unter Sanddünen begraben wurden. Einige dieser Gesellschaften betrieben ausgefeilte Bewässerungs- und Trinkwasserversorgungssysteme, die nach klimatischen Veränderungen zusammenbrachen. Heute sind selbst Teile der industrialisierten Welt von Wassermangel betroffen. Wie wird sich unsere Gesellschaft weiterentwickeln und wie wird sie mit den möglicherweise drastischen Veränderungen umgehen, die es so in der Geschichte unseres Planeten noch nie gegeben hat?

Aus den industriellen Entwicklungen in der Vergangenheit gibt noch immer viel zu lernen. Die fossile Grundlage der Moderne ist für uns allzu selbstverständlich geworden und entgeht deshalb der Aufmerksamkeit vieler Kulturtheorien. Während die Anfangsphase der Industrialisierung etwa in sozialgeschichtlicher Hinsicht vielfach analysiert wurde, fehlen Perspektiven auf das technisch-soziale, materiell-kulturelle Gesamtsystem noch immer. Die Sozial- und Geschichtswissenschaften haben sich stärker auf die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen konzentriert als auf die neuartigen Stoffkreisläufe, die mit den neuen Methoden der Energie- und Warenerzeugung einhergingen. Eine der Hauptaufgaben der Forschungsinitiative der Max-Planck-Gesellschaft wird darin bestehen, diese Entwicklungen zu untersuchen und unser Verständnis der Dynamik neuer technologischer Konzepte zu erweitern.

Die Industrielle Revolution war kein singuläres Ereignis, das zu einem neuen gesellschaftlichen Zustand geführt hat. Vielmehr umfasste sie mehrere bedeutende Übergänge, wobei auf das Zeitalter der Kohle das Zeitalter des Öls folgte. Aufgrund seiner flüssigen Form lässt sich Öl wesentlich einfacher in Verbrennungsmaschinen verwenden. Es kann in Pipelines transportiert werden, von Tankern auf Raffinerien umgepumpt werden und zur Herstellung einer großen Bandbreite von Brennstoffen, Schmiermitteln und Materialien, von den bekannten, weltweit überall anzutreffenden, weißen Kunststoffstühlen bis zu Arzneimitteln, chemisch umstrukturiert werden. Die Verfügbarkeit von Benzin hat zudem in riesigen Teilen unserer modernen Welt den Individualverkehr ermöglicht – ein wichtiger Beitrag zur persönlichen Freiheit, die jeder schätzt.

Als das Öl Einzug in industrielle Verfahren hielt, war dafür noch keine spezielle Infrastruktur vorhanden. Im Laufe der Zeit wurden entsprechende Technologien und Infrastruktureinrichtungen für eine erdölabhängige Gesellschaft entwickelt. Der Umstellung von Kohle auf Öl mag aus heutiger Sicht  fast zwangsläufig erscheinen, brachte aber enorme Umwälzungen für die bestehende industrielle und städtische Infrastrukturen mit sich. In der Folge entstanden auch neue Unternehmen, neuartige Möglichkeiten und neue Freiheiten – aber gleichzeitig waren viele Arbeitsplätze in Gefahr. Was jetzt vor uns liegt, wird in keiner Weise weniger aufregend sein. Die technologischen Entwicklungen haben zudem einschneidende Veränderungen in der Mentalität und im Selbstbild der Menschen hervorgerufen. Persönliche Freiheiten, Wertesysteme, die Gesamtheit an Überzeugungen und Normen, auf denen sich Gesellschaften gründen, haben enorme Veränderungen erlebt, die sich nicht von der materiellen Grundlage ihrer Kultur trennen lassen.

In jeder zeitgenössischen Industriekultur, die auf fossilen Energieträgern basiert und Waren in Hülle und Fülle und oft im Überfluss herstellt, haben die einzelnen Menschen viel mehr Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und zu Wort zu kommen als in älteren Agrarwirtschaften. In diesen älteren Wirtschaftssystemen waren dagegen bereits die Selbstversorgung, die Vermeidung von Nahrungsmittelmangel und die Versorgung mit grundlegenden Gütern ein wichtiges Ziel.

Eine weitere Periode des raschen gesellschaftlichen Wandels ist die Epoche der im Zusammenhang mit der Anthropozän-Forschung sogenannten ‚großen Beschleunigung‘. Diese Ära setzte in den 1950er-Jahren ein und ist durch eine globale Zunahme der Bevölkerung und des Energieverbrauchs, steigende Konzentrationen von Kohlendioxid, Stickstoffdioxid, Kunstdüngerverbrauch, Aufstauung der Flüsse, Verlust von ursprünglichen Ökosystemen, Artensterben und viele weitere Auswirkungen der globalen Industrialisierung gekennzeichnet. Heute wird diese Entwicklung durch das globale Bestreben vorangetrieben, an der westlichen Kultur des materiellen Überflusses mit all seinen Annehmlichkeiten und Nachteilen teilzuhaben.

Aber auch andere Umwälzungen in den Wirtschaftssystemen lohnen aus interdisziplinärer Perspektive eine intensivere Analyse. Eine historisch bedeutsame Veränderung vollzog sich beispielsweise zur Zeit der Kolonisierung durch bedeutende europäische Mächte, als die Nutzung riesiger Segelschiffe einen interkontinentalen Handel und Transport ermöglichte. Diese Entwicklung veränderte die Produktionsmethoden und führte vom System einer lokalen landwirtschaftlichen Produktion zu einem globalen kolonialen System. In dieser Zeit entwickelte sich erstmals in der Menschheitsgeschichte ein wahrlich globales Wirtschaftssystem.

Lehren für die Zukunft

Weitere Fortschritte im Verständnis der historischen Entwicklungen mit ihrer ganzen Komplexität und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen erfordern neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Geisteswissenschaften, Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften. Zu untersuchen ist ja eine tatsächlich interdisziplinär zu begreifende Koevolution von menschlichen, biologischen und geohistorischen Prozessen. Eine derartige Zusammenarbeit ist auf historiographische Perspektiven angewiesen, die sich im Kontext aktueller Ansätze der Welt- und Umweltgeschichte und der Geschichte des Anthropozäns entwickelt haben. Demzufolge muss sie sich einerseits mit globalen Konstellationen und langfristigen Prozessen und anderseits mit Ereignissen und Prozessen beschäftigen, die nur über mikrohistorische Sichtweisen zugänglich sind. Die Kombination aus Analysen auf planetarischer Makroebene auf der Grundlage von großen Datenvolumen mit detaillierten historischen Untersuchungen auf Mikroebene kann zu einem neuen, empirisch basierten Ansatz für gesellschaftliche Transformationen beitragen.

Wichtige Fragen, die im Rahmen künftiger Untersuchungen zu stellen sind, lauten: Wie können wir langfristige und weitreichende Transformationsprozesse im Bereich der Energieressourcen identifizieren? Wie können historische Methoden das Erkennen kausaler Zusammenhänge zwischen der technischen Nutzung verschiedener Energieträger und sozialen Prozessen unterstützen? Welche Art der Analyse historischer Epochen liefert nützliche Erkenntnisse zur aktuellen Übergangssituation bei den Energiesystemen? Wie kann man die Informationsdichte und die Nähe zu den mikrohistorischen Ereignissen mit grundsätzlichen Aussagen über die Makroprozesse historischer Transformationen kombinieren? Welche historische Fallstudien sind besonders vielversprechend für Überlegungen zur aktuellen Energiewende? Wie lassen sich theoretische Modelle aus unterschiedlichen Disziplinen methodisch in die historische Reflexion über Ressourcen- und Energietransformationsprozesse integrieren? Welche neuen Arten von Quellen und Daten sollten in solche Forschungsbemühungen einfließen?

Um eine Analyse all dieser Entwicklungen zu ermöglichen, müssen viele verschiedene Theoriemodelle aus unterschiedlichen Disziplinen zusammengeführt werden. Zur Identifizierung genereller Merkmale in verschiedenen historischen Epochen sind große Datenmengen erforderlich. Den Naturwissenschaften ist der Umgang mit großen Datenvolumen zwar vertraut. Ihre Eingliederung in die historische Forschung bedeutet jedoch das Beschreiten neuer Wege. Und es müssen neue Methoden entwickelt werden, um neue Erkenntnisse aus den Datensätzen zu extrahieren.

Die Energie zählt zu den wesentlichsten und allgemeinsten Konzepte der Naturwissenschaften. Alle Prozesse in der Natur haben mit der Umwandlung verschiedener Formen von Energie zu tun. In ähnlicher Weise hängt auch fast jede Ausdrucksform des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens mit dem Konzept der Energie zusammen. In der Moderne sind Wohlstand, Freiheit und Fortschritt fast automatisch mit einem hohen individuellen Energieverbrauch verbunden. Und diese Fülle ist nicht nur für moderne Wirtschaftssysteme signifikant. Seit der prähistorischen Bändigung des Feuers für Kochen und Kult, für Feuerstelle und Altar haben die Umwandlung von Energie zahllose Kulturen angetrieben. Brandrodungen, handwerkliche und industrielle Verfahren, Transport, Kommunikation, Kriegsführung und sogar religiöse Praktiken basieren auf Formen der Energieumwandlung. Aber die historiographische Analyse dieser weitreichenden Rolle der Energie ist noch vergleichsweise wenig ausgeführt.

Wenn man über die materielle Kultur von heute nachdenkt, beschäftigt man sich unweigerlich auch mit dem maßgeblichen Einfluss der Menschheit auf die Bedingungen, die unser Lebensstil dem globalen Ökosystem aufzwingt. Die Erde ermöglicht als System von Stoffkreisläufen die Entwicklung von menschlichen Hochkulturen, ist aber zugleich auch anfällig für eine Übernutzung und eine kurzsichtige Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Die Menschheit muss nicht nur Lösungen für viele technische Aspekte unserer Energie- und Industrieproduktion sowie unserer Verkehrs- und Heizungsprobleme finden. Es bleibt auch die Frage, ob wir unsere Wertesysteme schnell genug ändern können. Die Mitte dieses Jahrhunderts liegt ungefähr eine Generation entfernt. Es bleibt also nur noch wenig Zeit für eine gründliche Bewusstseinsänderung. Auch in der Vergangenheit waren geschichtliche Veränderungen mit rasanten Wandlungen in unserer Denk- und Handlungsweise verbunden. Heute haben moderne Informations- und Kommunikationstechnologien unsere Möglichkeiten der gemeinsamen Entwicklung und des Austausches von neuen Ideen und Erkenntnissen drastisch verbessert.

Wir werden Antworten auf die Frage finden müssen, wie eine Gesellschaft unter Berücksichtigung der Grenzen des Erdsystems zu einem Leben in persönlicher Freiheit befähigt werden kann, während sie gleichzeitig auf das unverkennbare Bestreben schwächer entwickelter Länder reagiert, zumindest Anteile am ressourcenintensiven, luxuriösen Leben der  Industriegesellschaften zu genießen. Dieser Wunsch nach Teilhabe kann wohl kaum verwehrt werden, zwingt aber die industrialisierte Welt umso mehr, sich für eine schnelle Energiewende einzusetzen. Dieser Übergang erfordert neues Wissen, das nur über eine Grundlagenforschung gewonnen werden kann, die frei von wirtschaftlichen und politischen Zwängen ist und die Bereitschaft zeigt, die aktuelle Situation neu zu überdenken. Und zu dieser grundlagenorientierten Forschung will die Forschungsinitiative der Max-Planck-Gesellschaft beitragen.

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