Im unsteten Spiegel des Meeres
Die Meereshöhe – geografischer Referenzpunkt und Indikator für den Klimawandel – ist eine überraschend wechselhafte Größe
Jede Messung beginnt bei null. Diese schlichte Tatsache ist alles andere als trivial, wenn es darum geht, geografische Höhen zu messen. Denn an der Definition der sogenannten Normalhöhennull scheiden sich seit langem die Geister. Der Referenzpunkt, die Meereshöhe, ändert sich nicht nur mit den Gezeiten, sondern unterscheidet sich auch je nach Messort. Dass sich zusätzlich der Meeresspiegel mit der Klimaerwärmung wandelt, macht die Sache nicht einfacher. Am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte befasst sich Wilko Hardenberg mit dem schwankenden Maß und seiner Historie.
Wie hoch ist das Meer? Auf den ersten Blick erscheint die Antwort einfach: null Meter. Vor rund 200 Jahren begannen die Bemühungen, diesen Nullpunkt exakt zu bestimmen, genauer gesagt einen Durchschnittswert der Meereshöhe als Referenzgröße. Um 1830 wurden in Großbritannien die ersten selbstaufzeichnenden Pegel konstruiert. Diese Messinstrumente konnten den Wasserstand regelmäßig und über lange Zeitspannen festhalten, sodass sich daraus eine mittlere Meereshöhe bestimmen ließ. 1831 schlug der britische Bauingenieur John Augustus Lloyd vor, den Wert als Referenzpunkt für die Höhenmessung zu verwenden. Die Idee kam ihm, als er daran arbeitete, den Höhenunterschied zwischen der London Bridge und Sheerness, dem Mündungsort der Themse zu berechnen.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts errichteten mehrere Länder ihr eigenes Netz von selbstaufzeichnenden Pegeln. Aus den Daten ermittelten sie einen mittleren Meeresspiegel und begannen diesen als Nullpunkt für die Landesvermessung zu nutzen. Ein Vorgehen, das von vornherein Unsicherheiten birgt, meint Wilko Hardenberg vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Der Geograf und Historiker erforscht die Herkunft der Vergleichswerte, die heute herangezogen werden, um menschengemachte Umweltveränderungen zu bestimmen. „Eigentlich ist das Meer als Referenzpunkt unzuverlässig, es ist ja ständig in Bewegung. Mit der Festlegung auf einen Nullpunkt setzt man künstlich einen Maßstab, eine Grenze zwischen Meer und Land, die von den realen Verhältnissen abgekoppelt wird.“
Meer ist nicht gleich Meer
Doch bald holte die Realität die Vermesser wieder ein. In den 1860er-Jahren begannen die Vermessungsspezialisten in Mitteleuropa zusammenzuarbeiten mit dem Ziel, die Breiten- und Längengrade in Europa exakt zu bestimmen. Auf Vorschlag des preußischen militärischen Landvermessers Johann Jakob Baeyer wurde die Mitteleuropäische Gradmessungs-Kommission gegründet, in der man sich auch auf einen gemeinsamen Referenzpunkt für die Höhenmessung einigen wollte. „Damals ging man davon aus, dass alle Meere, die Europa umgeben, das gleiche Oberflächenniveau hätten“, erzählt Hardenberg. „Man war zuversichtlich, dass man mit Leichtigkeit einen gemeinsamen Referenzpunkt würde bestimmen können. Doch als man die präzisen nationalen Messungen verglich, wurden deutliche Unterschiede zwischen den Daten der einzelnen Staaten sichtbar.“
Land unter null am Mittelmeer
Es folgten lange Debatten, doch keine Einigung. Die nationalen Referenzpunkte blieben bestehen, Ende der 1920er-Jahre wurde diese Lösung noch einmal bestätigt. Die Höhendifferenzen sind durchaus deutlich: Im Deutschen Reich wurde 1879 der Amsterdamer Pegel übernommen. Österreich legte sich auf den Pegel in Triest von 1875 fest, der 34 Zentimeter tiefer liegt. Der von den osteuropäischen Ländern genutzte Kronstädter Pegel, gemessen zwischen 1825 und 1839, setzt den Nullpunkt 14 Zentimeter über den Amsterdamer, während der in Belgien festgesetzte Pegel Ostende 230 Zentimeter darunter liegt.
Seit den 1990er-Jahren versucht die Europäische Union zu einem gemeinsamen Pegel zu kommen. Als Referenz des Europäischen Höhensystems (EVRS) wählte man den Amsterdamer Pegel als europaweiten Bezugspunkt. Ziemlich willkürlich, wie von Hardenberg meint: „Die Ironie ist, dass dieser Pegel gar keinen mittleren Meeresspiegel definiert, sondern eigentlich einen Hochwasserpunkt.“ Dazu kommt, dass der Pegel bereits in den Jahren 1683/84 festgehalten wurde, also deutlich vor den präzisen Messungen. „Weil das Mittelmeer tiefer liegt, landet man dort mit dem Amsterdamer Pegel teilweise unter null. Das möchten die Länder vermeiden, weswegen sie an ihren Bezugspunkten festhalten“, erläutert der Wissenschaftshistoriker. „Und in den USA und Kanada gibt es sowieso ganz andere Referenzsysteme.“
Heute lässt sich die Meereshöhe mithilfe von Satellitendaten noch präziser bestimmen. Am Problem der Vereinheitlichung ändert das freilich nichts. Schon die Temperaturunterschiede, verschiedener Salzgehalt und kontinuierliche Luft- und Meeresströmungen verursachen Abweichungen von bis zu zwei Metern.
Perspektivenwechsel vom Land zum Meer
Unabhängig von der Vermessung von Höhenstrukturen hat die Bestimmung der Meereshöhe Ende des 20. Jahrhunderts neue Bedeutung erlangt. Der Klimawandel wurde zu einem zentralen Thema der Forschung und damit auch die Frage, wie sich die Erderwärmung auf die Wasserpegel an den Küsten auswirkt. In Sachen Meereshöhe hat sich damit der Fokus der Wissenschaft vom Land zum Wasser verlagert. Wie sich dieser Perspektivenwandel vollzogen hat, steht im Zentrum von Wilko Hardenbergs Forschungsprojekt. „Tatsächlich wurden bereits im 19. Jahrhundert Veränderungen des mittleren Meeresspiegels untersucht“, sagt der Wissenschaftshistoriker. „Damals schrieb man sie aber in der Regel nicht einem Anstieg des Wassers zu, sondern einem Absinken der Küste. Die erste Aufforderung, die Veränderungen des Meeresspiegels zu analysieren, stammt aus dem Jahr 1948.“
Heute gilt es als erwiesen, dass der Meeresspiegel in den vergangenen 150 Jahren im weltweiten Durchschnitt gestiegen ist. Um den Anstieg genau zu bestimmen, sind die Daten aus vergangenen Jahrhunderten äußerst wertvoll. „Dafür ist es wichtig zu wissen, wie sie gewonnen wurden“, betont Wilko Hardenberg.
Die lange Diskussion um ein gemeinsames Nullniveau ist bei der Analyse der historischen Veränderungen in den Hintergrund gerückt. Aus Satellitendaten der vergangenen 20 Jahre ist bekannt, dass sich der Meeresspiegel regional sehr unterschiedlich entwickelt. So geraten die regionalen Pegel wieder in den Fokus. Kein langjähriger Durchschnittswert, sondern die ersten verlässlichen Daten markieren einen neuen Nullpunkt für die Forschung.
MEZ