Sprechende Seide

Was uns Textiletiketten über eine Gesellschaft erzählen können

17. Oktober 2014

Während der gesamten chinesischen Geschichte nutzten dynastische Staaten Kennzeichnungen auf Textilien, um Informationen über den Hersteller, den Auftraggeber, den Besitzer oder das Datum und die Produktionsstätte zu verbreiten. Seide, die in den staatlichen Manufakturen der Qing hergestellt wurde, trug als Markierung den Namen der Regierungsperiode. Heute dient dies im globalisierten Handel dazu, Kunst und Handwerk etwas „Chinesisches“ zu verleihen.

Text: Dagmar Schäfer

Aber Markierungen auf Textilien können uns viel mehr erzählen. Zunächst änderte sich die Stelle, an dem die Zeichen eingestickt wurden. Die Handelsmarken auf Baumwollstoffen aus Manchester zum Beispiel waren im 18. Jahrhundert auf der Webkanten am Ende platziert und garantierten Standardlänge und –breite. Die Inschriften der chinesischen Seidenstoffe befanden sich in der Webkante am Anfang des Ballens und weisen auf ein Quotensystem hin, in welchem der Weber die ihm zugeteilten Rohmaterialien (d.h. sie wurden ihm im Voraus ausgehändigt) verarbeitete. Schon mit dem ersten Durchschuss des Weberschiffchens wurde der Ballen auf seinen staatlichen Verwendungszweck verpflichtet. In den 300 Jahren der Ming-Herrschaft zum Beispiel änderten sich die Techniken der Beschriftung. Sie spiegelt eine zunehmende Bemühung wider, solche Informationen sicherer am Artefakt zu befestigen. Während die Seide zunächst gestempelt oder mit dem mit Tusche geschriebenen Namen versehen wurde, webten die Weber in der späten Qing-Zeit Informationen über Produktion, Finanzierung oder Geldmittel direkt in die Webkante. Die Veränderungen in diesen Techniken offenbaren ein Wandel in der Art und Weise von Vertrauen und Zuständigkeiten und weisen auf neue Formen der Arbeits- und Produktionstechniken hin.

Solche Veränderungen resultierten oft aus institutioneller Umstrukturierung und aus der variierenden Rolle, die Seide im Alltag und als Ritualgegenstand, als Tribut- und Handelsware spielte. Über die verschiedenen Gewerbe hinweg bezogen sich Kaufleute und Handwerker der späten Ming-Zeit auf einen kaiserlichen Symbolismus, um Vertrauen in die Qualität ihrer Waren zu erzeugen und begannen gleichzeitig diese Symbole kreativ zu übernehmen, um ihre Fähigkeiten und Waren anzupreisen. Solche Kennzeichnungen stellen somit in Frage, welche Rolle schriftliche Regeln als verpflichtende Standards für die Aneignung von materieller Kultur innerhalb des Staates spielten.

Stoffe können uns daher eine Menge über Veränderungen in einer Gesellschaft erzählen. Sie verdeutlichen, wie neue Gewerbe aufgebaut wurden. Während die Vorfahren des Huang Sheng Clans all ihre Seidengewänder wohl in ihren eigenen, privaten Werkstätten hergestellt haben oder sie von privaten Werkstätten anderer lokaler Oberschichtsfamilien erworben haben, so hatte sich die Situation, als Frau Huang Shen 1235 beerdigt wurde, dramatisch verändert. Nun hatte der Staat begonnen, die Seidenproduktion in der Region zu übernehmen. Der Staat der Song war sich des Seidenhandels in Quanzhou wohl bewusst und entsandte bereits regelmäßig Beamte, um den regionalen Markt nach außergewöhnlichen Stücken abzusuchen. Bald entschieden sich die Herrscher der Song dies ökonomischer zu gestalten und richteten ein lokales Büro ein, um Seide als jährliche Steuerware einzutreiben. Im einem nächsten Schritt händigten Beamte rohe oder gehaspelte Seide aus und nahmen Weber unter Vertrag, die auf Anfrage produzierten. Schließlich etablierten die Song im 12. Jahrhundert die erste Säule eines staatlichen Systems aus lokalen Werkstätten, welche sich jeweils auf die eine oder andere (bereits lokal etablierten) Produktion spezialisierten. Auf diesem Wege profitierte der Staat von der regionalen Dichte an Expertise und Ressourcen und trug letztendlich aber auch zu ihr bei.

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