Fliegende Streitwagen und exotische Vögel
Wie die Fantasten des 17. Jahrhunderts zum Mond gelangen wollten
Seit Jahrhunderten, lange vor der Einführung der spektakulären Technologien der modernen Weltraumforschung, träumten die Menschen von der Raumfahrt – von mächtigen Maschinen, die Donner und Feuer spucken, oder glänzenden Metallfiguren, die durch die Weiten des Universums gleiten. Eines der beliebtesten Ziele dieser Fantasien war der Mond.
Text: Maria Avxentevskaya
Wir sind erst im vergangenen Jahrhundert in den Weltraum geflogen, aber die Sehnsucht der Menschheit, auf den Erdtrabanten zu gelangen, ist bei Weitem nicht neu. Bereits im zweiten Jahrhundert nach Christus beschrieb Lukian von Samosata in seiner parodistischen Reiseerzählung Wahre Geschichten eine Gruppe von Abenteurern, die ein Sturm sieben Tage lang durch die Luft wirbelt und schließlich auf den Mond schleudert – mitten hinein in die Turbulenzen der lunaren Politik, in eine militärische Auseinandersetzung. Denn der König des Mondes führt mit dem der Sonne einen Kolonialkrieg um den Morgenstern.
Und bereits lange vor dem ersten Piepton eines Satelliten aus dem All träumten die Menschen nicht nur von Mondreisen, sondern sie stellten auch ernsthafte Überlegungen an, auf welche Weise sie zum Erdtrabanten gelangen könnten. Die ersten technischen Konzepte dafür datieren aus dem 17. Jahrhundert.
Diese Ideen waren von astronomischen Entdeckungen inspiriert worden. Lange Zeit dachte man, dass die Erde in ätherischen oder Kristallkugeln verkapselt sei, in denen die Himmelskörper eingebettet waren. Dann gelang es jedoch Galileo Galilei, ausreichend Beobachtungsdaten zu sammeln, um das heliozentrische Weltbild von Nikolaus Kopernikus zu unterstützen, der die Sonne ins Zentrum des Planetensystems rückte. Dies bedeutete gleichzeitig, dass der Mond zum ersten Mal als lichtundurchlässiges, erdähnliches Objekt betrachtet wurde.
Der neue Blick auf das Sonnensystem ist eng gekoppelt an den Gebrauch des Fernrohrs. Das Instrument lieferte buchstäblich eine veränderte Sicht auf das Weltall und verwandelt es gleichsam in ein durch Regeln und Gesetze erfahrbares und erforschbares Objekt irdischer Wissenschaft. Galileo Galilei baute das vermutlich im Jahr 1608 in Holland erfundene Teleskop nach und richtete es zum Himmel. Dabei beobachtete er den Mond, die Sterne und die Milchstraße. Und er entdeckte die vier Monde des Jupiter – was ihn zu dem kühnen Schluss veranlasste, dass diese ihren Mutterplaneten genauso umlaufen wie die Planeten (und eben auch die Erde) ihre Sonne.
Im Mond sieht Galilei so etwas wie eine „zweite Erde“. Sein im Jahr 1610 veröffentlichtes Werk Sidereus Nuncius („Sternenbote“ oder „Nachricht von den Sternen“) beinhaltet einige Zeichnungen des Mondreliefs mit den zuvor schon bekannten „großen oder alten Flecken“, wie Galilei sie nennt, und den von ihm entdeckten „kleinen Flecken“, den Kratern.
Diese Erkenntnisse schlugen sich auch in der Literatur nieder. Im Jahr 1620 etwa wurde Ben Jonsons Maskenspiel News from the New World Discovered in the Moon vor dem englischen König James I. aufgeführt und unterhielt den Hof mit Satire, daneben aber auch mit Erläuterungen der neuesten astronomischen Perspektiven. Im Zusammenhang mit dieser Leidenschaft für den Mond veröffentliche John Wilkins, ein 24-jähriger Absolvent der Universität Oxford, im Jahr 1638 die erste Ausgabe seines Buchs The Discovery of a World in the Moone. Das Werk machte Galileis Beschreibung des Mondes als stabile und bewohnbare Welt populär.
Bei der Vorbereitung der stark bearbeiteten und verlängerten zweiten Ausgabe der Discovery, die schließlich 1640 veröffentlicht wurde, ließ sich Wilkins von Francis Godwins Geschichte The Man in the Moone beeinflussen, die ebenfalls 1638 erschien und in der eine Figur namens Domingo Gonzales in einem von einer Gänseschar gezogenen Streitwagen auf den Mond befördert wird.
Nachdem er dieses Science-Fiction-Werk des 17. Jahrhunderts gelesen hatte, ging Wilkins davon aus, dass nicht nur Reisen zum Mond möglich sein würden, sondern irgendwann auch regelmäßige Besuche des Himmelskörpers und sogar seine Besiedelung. Der Mond war das ultimative Reiseziel seiner Zeit, und Mondreisen galten als technische Errungenschaft, welche die historischen und vorbestimmten Grenzen der Menschheit erweiterten.
Nach Einschätzung verschiedener fiktiver Szenarien verfolgte John Wilkins das Ziel „den für neue Versuche und seltsame Erfindungen offenen Geist zu fördern“ und praktische Möglichkeiten zu untersuchen, mithilfe von Reisen durch den Weltraum „den Mond näher zu bringen“. Im pragmatischen Ton eines Handwerkers sinniert die zweite Ausgabe der Discovery über technische Einzelheiten: „Ich bin ernsthaft und aus gutem Grund davon überzeugt, dass es möglich ist, einen fliegenden Streitwagen zu bauen.“
Wilkins beschreibt und entwirft verschiedene Fluggeräte, die durch Menschenkraft angetrieben oder von exotischen Vögeln gezogen werden. Ja, er stellt sich sogar einen Motor vor, der nach dem gleichen Prinzip konzipiert ist wie die legendären mechanischen Tauben und Adler.
Der Autor war sich auch den Herausforderungen von Mondreisen bewusst und brachte sogar einen gewissen Ärger darüber zum Ausdruck, dass die göttliche Vorsehung den Menschen nicht mit der natürlichen Gabe des Fliegens ausgestattet hat. Bei der Aufzählung der zahlreichen Hindernisse für einen Flug von der Erde aus weist Wilkins humorvoll darauf hin, dass es „in der Luft keine Schlösser gibt, die arme Pilger oder umherziehende Ritter aufnehmen können”. Er erörtert das Wesen der Schwerkraft und wie schwierig es sein würde, Nahrungsmittel und Wasser mit auf den Mond zu nehmen und in der kalten und dünnen Luft des Trabanten zu überleben.
John Wilkins ist sich jedoch auch absolut sicher, dass irgendwann Möglichkeiten zum Transport durch den Weltraum entdeckt werden würden. Er sagt voraus, dass die Menschen „die erste Kolonie in dieser anderen Welt errichten werden, sobald die Kunst des Fliegens erfunden wird“ und verklärt auf diese Weise die Zukunft der Flugreisen.
Die Discovery endet mit Wilkins Prophezeiung, dass die Nachwelt wahrscheinlich von der Ignoranz seines Zeitalters überrascht sein wird. Allerdings werden heutige Leser diese Einschätzung nicht teilen, obwohl zahlreiche seiner Schlussfolgerungen über den Mond tatsächlich falsch sind. Auch wenn seine Antworten nicht ausgereift waren, beschäftigen sich unsere zeitgenössischen Untersuchungen in Bezug auf den Mond noch immer mit der gleichen Fragestellung wie Wilkins` Space Odyssey im Jahr 1640: Vorhandensein von Wasser, Möglichkeiten regelmäßiger Reisen und Kolonisierung. Der junge John Wilkins wollte die Neugier der Leser in Bezug auf „geheime Wahrheiten“ über die Natur wecken – was ihm durchaus gelang.
Die Weltraumforschung wird hauptsächlich als Manifestation spektakulärer und damit kostenaufwändiger Technologien betrachtet. Ist dies nicht der Grund, warum das Mondflug-Programm seit Jahren blockiert wird? Im 17. Jahrhundert war die Motivation zur Entwicklung der Möglichkeit für Reisen zum Mond ähnlich wie unsere zeitgenössischen Anreize zur Weltraumforschung, die zu Beginn des Apollo-Raumfahrtprogramms formuliert wurden.
Der Mensch träumte davon, seine Grenzen zu erweitern und viele nützliche Erkenntnisse lebendig werden zu lassen. Schließlich sind es nicht nur Maschinen, die Menschen ins Weltall befördern, sondern auch die Neugier und die Vorstellungskraft der Menschheit, die das Verlangen wecken, das Unmögliche zu wagen.
Bearbeitung: Helmut Hornung