Forschungsbericht 2008 - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften
Sprache wächst mit dem Gehirn
Neuropsychologie (Prof. Dr. Angela Friederici)
MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig
Eine besondere Gabe
Sprache ist ein komplexes System von Zeichen und deren Bedeutungen. Die Zeichen – gesprochene, geschriebene oder gestikulierte Buchstaben und Wörter – können in den verschiedensten Beziehungen zueinander stehen und in unterschiedlichen Kontexten und Satzzusammenhängen erscheinen, was wiederum ihre Bedeutungen, ihre Semantik, zu ändern oder zu nuancieren vermag. Dabei gibt es fundamentale Regeln, wie Wörter miteinander kombiniert werden dürfen, um einen Satz zu bilden. Dies ist die Syntax einer Sprache. Semantik und Syntax sind zwei bedeutsame Charakteristika einer jeden Sprache.
Es gibt Hypothesen und Theorien darüber, inwieweit die Sprache im Lauf der Evolution möglicherweise zu einem wichtigen Selektionsmerkmal des Menschen wurde, da sie sich als ein entscheidender Faktor für kooperatives Zusammenwirken mehrerer Individuen von großem Vorteil erwiesen haben könnte. In der Folge hat der Mensch wahrscheinlich eine angeborene Fähigkeit zur Sprache entwickelt. Dies scheint plausibel, wenn man bedenkt, wie vermeintlich mühelos Kinder dieses komplexe System innerhalb nur weniger Jahre erlernen und meistern – eine erstaunliche Leistung. Man kann davon ausgehen, dass unser Gehirn eine besondere Veranlagung hat, Sprache zu verarbeiten, und dass diese Anlage auch bei Kindern, die gerade erst beginnen, eine Sprache zu ergründen, schon zum Tragen kommt.
Wie Sprache wächst
Wenn ein Säugling beginnt, seine Muttersprache zu lernen, muss er schon im ersten Lebensjahr eine Reihe komplexer Aufgaben bewältigen. Denn bereits lange bevor ein Kind anfängt zu sprechen, arbeitet das Gehirn daran, Sprache zu entdecken. Um im Alter von etwa zwölf Monaten die ersten Wörter zu sprechen, muss ein Kind zunächst einmal gelernt haben, Sprache als solche wahrzunehmen und den einströmenden Sprachfluss sinnvoll zu zerlegen. Dabei besteht das Problem unter anderem darin, einzelne Bedeutungseinheiten wie Wörter oder Wortgruppen als solche zu erkennen und zu verarbeiten. Wir begegnen diesem Problem in ähnlicher Weise auch als Erwachsene, wenn wir eine uns völlig unbekannte Sprache hören und uns schwer damit tun zu erraten, wo einzelne Wörter anfangen oder aufhören.
Die Ergebnisse mehrerer Studien konnten zeigen, dass Säuglinge für diese Aufgaben insbesondere die sprechmelodischen Eigenschaften (Prosodie) ihrer Muttersprache nutzen, also Betonungsmuster, Variationen der Tonhöhe oder die Sprechgeschwindigkeit. Bereits Säuglinge sind in der Lage, die für ihre Muttersprache typischen Betonungsmuster zu identifizieren. Beispielsweise ist eine typische Akzentuierung für zweisilbige Wörter im Deutschen die Betonung der ersten Silbe („Pápa“), im Französischen hingegen die Betonung der zweiten Silbe („Papá“). In einer Studie wurden französische und deutsche Säuglinge im Alter von vier bis fünf Monaten untersucht, denen solche unterschiedlichen Betonungsmuster mit Akzentuierung der ersten oder zweiten Silbe vorgespielt wurden. Dabei zeigte sich, dass das Gehirn schon in diesem frühen Alter deutlich zwischen der bekannten muttersprachlichen und der unbekannten Betonung von Wörtern zu unterscheiden vermag (Abb. 1). Dies belegt, dass bereits bei Säuglingen im Alter von vier Monaten eine sprachspezifische Gedächtnisrepräsentation der muttersprachlichen Wortmelodie ausgebildet ist.
Solches Wissen kann den Kindern dabei helfen, Wortgrenzen in ihrer natürlichen Muttersprache zu erkennen, wobei die Sensibilität für sprechmelodische Betonungsmuster der Sprache für Kinder den Einstieg in die komplexeren Strukturen der Sprachsyntax erleichtern kann, denn auch syntaktisch relevante Grenzen, die zusammenhängende Satzteile markieren, werden vom Sprecher in der Regel prosodisch gekennzeichnet.
Der Blick ins Gehirn
Einen genaueren Einblick in die Hirnstrukturen, in denen sprachliche Informationen verarbeitet werden, bietet die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). Um zu erforschen, welches die Hirnareale sind, die an der Verarbeitung syntaktischer und semantischer Information beteiligt sind und welche Rolle diese Areale während der Sprachentwicklung bei Kindern spielen, wurden Vorschulkinder und Erwachsene untersucht. Sie hatten in einem fMRT-Experiment die Aufgabe, die Korrektheit gehörter Sätze einzuschätzen. Diese Sätze waren normale, korrekte Sätze („Die Biene summt“) oder aber sie waren inkorrekt, entweder hinsichtlich ihrer Semantik („Das Haus malt“) oder ihrer Syntax („Das Eis am schmeckt“). Die Verarbeitung einer solchen syntaktischen oder semantischen Verletzung im Satz verlangt einen erhöhten Prozessaufwand in den Hirnarealen, die für die Verarbeitung der syntaktischen Struktur oder des semantischen Gehalts verantwortlich sind.
Die Studie machte deutlich, dass Vorschulkinder und Erwachsene dasselbe Netzwerk von Hirnregionen nutzen, wenn sie gesprochene Sprache verarbeiten. Kinder jedoch zeigen eine insgesamt stärkere Aktivierung, die außerdem weniger zwischen den verschiedenen Aspekten der Sprache unterscheidet. Mit anderen Worten: Kinder nutzen sowohl für die Verarbeitung syntaktischer als auch semantischer Informationen das gesamte Netzwerk, wohingegen im Sprachnetzwerk von Erwachsenen eher bestimmte Hirnregionen auf Syntax- beziehungsweise Semantikverarbeitung spezialisiert sind. Darüber hinaus ist bei Kindern eine Hirnregion, die für aufwendigere Sprachverarbeitungsprozesse wichtig ist, stärker in das Netzwerk eingebunden, nämlich das Broca-Areal (Abb. 2).
Eine Analyse der zeitlichen Struktur der Verarbeitungsprozesse im Gehirn zeigt, dass die beteiligten Areale bei Kindern langsamer aktiviert werden als bei Erwachsenen (Abb. 3). Sowohl die stärkere und weniger spezialisierte wie auch die insgesamt spätere Aktivierung des Sprachnetzwerkes bei Kindern sprechen für einen erhöhten Verarbeitungsaufwand im sich noch entwickelnden Sprachverarbeitungssystem. Bei Kindern scheinen die relevanten Prozesse der Sprachverarbeitung noch nicht hinreichend automatisiert zu sein, und wahrscheinlich bedingt das noch nicht voll ausgereifte Gehirn von Kindern diesen erhöhten Aufwand in der Verarbeitung.