„Die Europäische Union muss entrümpelt werden“

8. Mai 2024

Quo vadis, EU? Wenige Wochen vor der Europawahl skizzieren Max-Planck-Forschende ihre Idee eines starken und prosperierenden Europas. Teil (1): Martin Höpner über die Kompetenzen der EU

Ein Meinungsbeitrag von Martin Höpner

Nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger sind die Betätigungen der Europäischen Union kaum zu durchschauen. Auch der Europaforschung quer durch die Disziplinen, vor allem in den Politik- und Rechtswissenschaften, fällt es schwer, noch durchzublicken. So hatte sich Robert Schuman das nicht vorgestellt.

Was die EU tatsächlich macht, geht weit über das hinaus, was die Verträge vorsehen. Das liegt teilweise in der Natur der Sache. Der Vertrag von Lissabon stammt von 2007. Den starren Vertragsgrundlagen stehen höchst dynamische Abläufe gegenüber. Man denke an die Eurokrise, die Pandemie und die Energiekrise. Auf solche Ereignisse müssen die Unionsorgane reagieren.

Der Ausweg besteht in einer bemerkenswert kreativen Vertragsauslegung durch die Kommission und den Europäischen Gerichtshof: Man liest beispielsweise die Befugnis zu Schuldenaufnahmen des EU-Haushalts proaktiv in die Verträge hinein. Aber so etwas geht nicht grenzenlos. Irgendwann muss die Lücke zwischen Recht und realen Betätigungen geschlossen werden. Sonst hört das Recht irgendwann auf, noch Recht zu sein.

Allgemein ist für die Union ein äußerst expansiver Drang kennzeichnend. Sie regiert in mitgliedstaatliche Belange auch dort hinein, wo beim besten Willen keine transnationale Problemkonstellation erkennbar ist. Man zähle einmal nach, wie viele Unionsvorgaben von den Bereitschaftszeiten bei der freiwilligen (!) Feuerwehr handeln.

Kommt es zu einer Vertragsrevision, sollten die vertragsschließenden Mitgliedstaaten prüfen, wo die Union bereits aus guten Gründen tätig ist, obwohl die Kompetenznormen wackelig sind. In solchen Fällen wären die Kompetenzen zu erweitern. Im Gegenzug sollten Bereiche identifiziert werden, aus denen die Union sich zurückziehen kann. Im Ergebnis entstünde eine verteilungsneutrale Vertragsrevision, für die sich dann tatsächlich Mehrheiten in den Bevölkerungen mobilisieren lassen.

Auf diese Weise könnte eine Fokussierung der Union auf Kernaufgaben erfolgen, die sich um flexible Integrationsprojekte in ausgewählten Ländergruppen ergänzen ließe. Die demokratischen Spielräume auf mitgliedstaatlicher Ebene würden besser geschützt als bisher, der Legitimationsbedarf europäischer Entscheidungen würde nicht mehr oder zumindest weniger überspannt. Im Ergebnis würde die Union nachvollziehbarer, effektiver, weniger angreifbar. Und müsste sich weniger als bisher in windigen Rechtskonstrukten verzetteln.  

 

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