Im Land der Mitternachtssonne

Clabe Wekesa vom Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena verbringt zwei Sommermonate nördlich des Polarkreises. An wildwachsenden Heidelbeeren untersucht er, wie sich arktische Lichtbedingungen auf die Resistenz von Pflanzen gegenüber Schädlingen auswirken.

Manche Leute joggen eine Runde, um von der Arbeit abzuschalten. Ich schnappe mir meinen Korb und gehe Heidelbeeren pflücken. Während ich umherschlendere, kann ich wunderbar nachdenken. Außerdem schmecken die kleinen Beeren, die hier sogar am Straßenrand wachsen, einfach köstlich – viel besser als die wesentlich größeren Kulturheidelbeeren aus dem Supermarkt. 

Seit sieben Wochen bin ich nun schon in Tromsø im Norden Norwegens, fast 350 Kilometer oberhalb des Polarkreises. Gerade sitze ich in meinem Büro an der Arctic University of Norway, der nördlichsten Universität der Welt. Vor mir liegt ein Stapel Veröffentlichungen über die Heidelbeere Vaccinium myrtillus, denn auch meine Forschung dreht sich um dieses Gewächs: Ich will herausfinden, welchen Einfluss die andauernde Helligkeit des arktischen Sommers auf das Abwehrsystem der Pflanze gegen Schädlinge hat. Mit dem fortschreitenden Klimawandel rückt diese Frage in den Fokus, denn wenn es wärmer wird, breiten sich viele Pflanzenschädlinge immer weiter nach Norden aus. In meinem Projekt, finanziell unterstützt von der Velux Stiftung, arbeite ich mit Forschenden der hiesigen Universität zusammen. Ich vergleiche Pflanzen, die hier auf 69 Grad nördlicher Breite wachsen, mit solchen aus Jena auf dem 50. Breitengrad. Für meine Analysen sammle ich Blätter meiner Versuchspflanzen und konserviere sie in flüssigem Stickstoff. Dank modernster Analyseverfahren kann ich später im Labor nicht nur Pflanzenhormone und Stoffwechselprodukte aufschlüsseln, sondern sogar nachweisen, welche Gene zum Zeitpunkt des Sammelns im Blatt aktiv waren.  

Dass ich Pflanzenforscher geworden bin, verdanke ich glücklichen Umständen: Ich bin in Kamukuywa im Bezirk Bungoma aufgewachsen, einer abgelegenen Ortschaft im Westen Kenias. Meine Eltern haben keine Schulbildung, legten aber sehr viel Wert darauf, dass meine drei Geschwister und ich die High School besuchen. Danach wollte ich eigentlich Pharmazie studieren, um neue Wirkstoffe für die Medizin zu erforschen. Weil die Zugangsvoraussetzungen der Universität für dieses Fach jedoch eine Hürde für mich waren, habe ich mich stattdessen für Biochemie eingeschrieben und meine Masterarbeit auf dem Gebiet der Pflanzenbiotechnologie verfasst. Das habe ich keine Sekunde bereut. Heute sind Pflanzen für mich das Spannendste überhaupt! Mein damaliger Professor hat mich ermuntert, einen Doktor zu machen. Ich wurde für ein DAAD-Stipendium ausgewählt und bin so nach Jena gekommen, wo ich im Rahmen einer International Max Planck Research School promoviert habe. Mittlerweile lebe ich dort gemeinsam mit meiner Frau, die ebenfalls aus Kenia stammt, und meiner dreijährigen Tochter. Während ich in Norwegen bin, schreiben wir uns jeden Abend über Whatsapp oder sehen uns im Video Call. Von meiner Familie getrennt zu sein ist nicht leicht, aber als Wissenschaftler muss man flexibel sein, was den Arbeitsort anbelangt.  

Ansonsten genieße ich meine Zeit in Tromsø. Mit dem Wetter habe ich Glück: Meist ist es sonnig, mit bis zu 25 Grad Celsius. Am Wochenende gehe ich wandern, oder sitze am Fenster meines Apartments im dritten Stock, lasse den Blick über das Meer und die Berge schweifen und programmiere am Laptop. Spätabends spaziere ich oft durch die Straßen oder am Stand entlang. Die immerwährende Helligkeit ist faszinierend. Manchmal stehe ich sogar mitten in der Nacht auf, um die Sonne zu fotografieren. Vielleicht schaffe ich es, einmal im Winter hierherzukommen. Zu gerne würde ich Polarlichter sehen! 

An der Arctic University of Norway gibt es drei Forschungsgruppen, die sich mit Heidelbeeren beschäftigen. Auch bei den Einheimischen ist das Gewächs sehr beliebt. Einmal hatte ich zehn meiner Heidelbeersträucher in einem kleinen Waldstück mit schwarzen Plastikhauben abgedeckt, um die Folgen von Lichtentzug zu testen. Als ich das nächste Mal dorthin kam, lagen alle Abdeckungen auf dem Boden verstreut, und eine Frau war gerade dabei, meine Versuchspflanzen abzuernten! Die Beeren seien Allgemeingut, daher sei es nicht in Ordnung, dass ich die Ernte für mich alleine beanspruchen wollte, so ihre Begründung. Zum Glück ließ sich das Experiment schnell wiederholen – im Gegensatz zu einem früheren Versuch: Damals hatten Kühe die Bohnenpflanzen gefressen, die ich für meine Doktorarbeit herangezogen hatte. Das Desaster hat mich drei Monate gekostet! 

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