Kurzfristig denken, kriminell handeln

Kurzfristig denkende – das heißt impulsive, sensationslüsterne und wenig zukunftsorientierte – Menschen begehen mit höherer Wahrscheinlichkeit Straftaten. In unserer Forschung befassen wir uns mit den Einflüssen und Erfahrungen, die solche Denkweisen formen. Demnach sind etwa ein raues und unberechenbares Umfeld, Viktimisierung, und ein früher erster Polizeikontakt mit kurzfristigen Denkweisen verbunden. Unsere Ergebnisse tragen dazu bei, den Zusammenhang zwischen kurzfristigem Denken bei Jugendlichen und späterer Kriminalität zu erklären.

Text: Jessica Deitzer, Sebastian L. Kübel, Jean-Louis van Gelder / Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht

Eine kurzfristige Denkweise, also die Entscheidung, die Gegenwart auf Kosten der Zukunft zu bevorzugen, bringt nachträglich tendenziell Nachteile. Sie kann kriminelles Verhalten trotz langfristig negativer Folgen attraktiv machen, da es oft direkt belohnt wird: zum Beispiel in Form von materiellen Gütern, sozialem Status oder Nervenkitzel. Das erklärt, warum kurzfristige Denkweisen eines der verlässlichsten Merkmale für die Prognose künftiger Straffälligkeit ist. Kurzfristige Denkweisen zu erforschen, ist daher wichtig für das Verständnis abweichenden Verhaltens.

Am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht tragen wir im Rahmen des vom European Research Council finanzierten Projekts CRIME­TIME zu dieser Forschung bei. Wir ermitteln Faktoren, die bei Jugendlichen eine solche Denkweise fördern. In mehreren Forschungsprojekten haben wir daher untersucht, welche Rolle eine raue, unberechenbare Umgebung und widrige Erfahrungen spielen können. Ebenso haben wir Polizeikontakte, Viktimisierung oder andere negative Lebensereignisse in den Blick genommen, die dazu führen können, dass Jugendliche ihre Zukunft negativer sehen. Wenn also Jugendliche die Zukunft als unbeständig und wenig aussichtsreich ansehen, passen sie sich möglicherweise an, indem sie sich auf die Gegenwart konzentrieren.

Die Versuchungen des Augenblicks

Vor gut 30 Jahren führten die Kriminologen Michael R. Gottfredson und Travis Hirschi das Konzept der Selbstkontrolle in die Kriminologie ein: „die Vorstellung, dass sich Menschen auch darin unterscheiden, wie anfällig sie für die Versuchungen des Augenblicks sind“. Darunter fallen unter anderem Impulsivität – die Unfähigkeit, unmittelbaren Versuchungen zu widerstehen – und sensation seeking – eine Vorliebe für aufregende Erfahrungen im Hier und Jetzt. In unserer Forschung berücksichtigen wir zudem weitere Variablen, die eine Priorisierung der Gegenwart einschließen – zum Beispiel mangelnde Zukunftsorientierung: die Tendenz, keine längerfristigen Pläne oder Ziele aufzustellen und zu verfolgen. Kurzfristig orientierte Denkweisen als Oberbegriff bündelt also mehrere Konstrukte, die eine Tendenz beschreiben, die Gegenwart zu fokussieren und die Zukunft außer Acht zu lassen oder abzuwerten, wie Jean-Louis van Gelder gemeinsam mit Forschenden aus Zürich und Cambridge 2018 in einer Studie dargelegt hat.

Unser erstes Forschungsprojekt hat gezeigt, dass ein raues und unvorhersehbares Umfeld die Kognition von Jugendlichen verändern kann. Ein raues Umfeld zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Betroffenen durch unzureichende Ressourcen oder Gewalt einem erhöhten Risiko für Tod, Verletzungen oder andere unerwünschte Folgen ausgesetzt sehen. Eine unberechenbare Umwelt wiederum verändert sich häufig. Jugendliche, die in einer Umgebung mit solchen Merkmalen aufwachsen, sehen die Welt und andere Menschen eher als unzuverlässig und unkontrollierbar an – und konzentrieren sich möglicherweise lieber auf die Gegenwart als auf eine ungewisse Zukunft. Wir überprüften diese Thesen an zwei Längsschnittdatensätzen aus den USA und der Schweiz. Unsere Ergebnisse zeigen, dass ein raues und unvorhersehbares Umfeld tatsächlich mit einer kurzfristigen Denkweise verbunden ist, was teilweise den Zusammenhang zwischen einem solchen Umfeld und Straffälligkeit erklären kann.

Ein zweites Projekt, zu dem wir erst kürzlich Ergebnisse veröffentlicht haben, konzentriert sich auf die sogenannte Viktimisierung: Ähnlich wie ein raues Umfeld kann die Erfahrung, Opfer von Gewalt zu werden, eine unsichere Zukunft signalisieren, und Jugendliche dazu bringen, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Gewaltopfer sind oft auch Straftäter; in der Kriminologie spricht man von Opfer-Täter-Überschneidung. Wir führen diese Überschneidung teils darauf zurück, dass nach einer Viktimisierung das kurzfristig orientierte Denken und später die Kriminalität zunimmt. Längsschnittdaten von Schweizer Jugendlichen stützen diese Annahme. Dies erklärt teilweise den Zusammenhang zwischen Viktimisierung und späterer Straffälligkeit.

In einem dritten Projekt untersuchen wir die Folgen von Polizeikontakt auf die Zukunftsperspektiven von Jugendlichen. Eine Verhaftung kann die Kriminalität erhöhen, anstatt abschreckend zu wirken. Wir vermuten, dass der Polizeikontakt dazu führen kann, dass Jugendliche für die Zukunft weitere Kontakte mit der Polizei oder dem Strafrechtssystem sowie Auswirkungen auf andere Lebensbereiche erwarten und sich aus diesem Grund eine Präferenz für die Gegenwartentwickeln. Längsschnittdaten Schweizer Jugendlicher zeigen, dass der erste Polizeikontakt tatsächlich mit einer Zunahme der Gegenwartsorientierung verbunden ist, insbesondere bei jüngeren Jugendlichen.

Frühzeitiges Eingreifen kann ein raues Umfeld vermeiden

Diese Forschung macht deutlich, wie Jugendliche in ihrer Entscheidungsfindung auf widrige Erfahrungen und Umwelten reagieren. Außerdem zeigt sie, wie kurzfristige Denkweisen dazu beitragen können, den Zusammenhang vieler bekannter Risikofaktoren mit Kriminalität zu erklären. Welche Konsequenzen sollten aus diesen Erkenntnissen folgen?

Idealerweise helfen politische Maßnahmen Jugendlichen, die beschriebenen negativen Erfahrungen und Umfelder zu vermeiden. Ein frühzeitiges Eingreifen in die elterliche Erziehung und das Umfeld kann dazu beitragen, raue und unberechenbare Umstände zu vermeiden. Strategien zur Kriminalitätsreduktion könnten zudem dafür sorgen, dass weniger Jugendlicher Opfer von Gewalt und Straftaten werden. Wann immer möglich, sollten Alternativen zum frühen Polizeikontakt erwogen werden. Ist die Vermeidung dieser Umstände jedoch schwierig oder unmöglich, sollte den Betroffenen geholfen werden, Perspektiven für eine positive Zukunft aufzubauen und zu lernen, die Konsequenzen ihres Handelns zu berücksichtigen. So kann zum Beispiel kognitive Verhaltenstherapie die Delinquenz verringern, indem sie impulsive, automatische Denkstile reduziert. Die Imagination des zukünftigen Selbst wird ebenfalls mit einer Abnahme von Delinquenz in Verbindung gebracht. Auf diese Weise könnten eine Verbesserung von Zukunftsaussichten und eine stärkere Zukunftsorientierung schädliche Auswirkungen von widrigen Umwelten und Erfahrungen eindämmen.

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