Hört sich anders an

21. Dezember 2022

Trommeln und Gesang, Rhythmus und Klang – Musik berührt und verbindet. Doch was genau wir wahrnehmen, wenn uns ein Lied entgegenschallt, wissen die meisten von uns kaum zu sagen. Zufriedengeben kann sich Nori Jacoby mit dieser Situation nicht: Am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main untersucht der Kognitionsforscher mit seinem Team unter anderem, wie Menschen weltweit Rhythmen und Tonhöhen wahrnehmen. Dabei generieren die Forschenden nicht nur Erkenntnisse über Musik.

Text: Nora Lessing

Von den Chimane, die am Amazonas leben, hört Nori ­Jacoby erstmals 2016 als Postdoc am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Hier, in der Forschungsgruppe von Josh McDermott, wollen er und seine Mitstreitenden herausfinden, wie Menschen aus Klängen Informationen gewinnen. „Eines Tages sprach mich Josh an“, erinnert sich Jacoby. „Er sagte: Ich reise mit dem Kulturanthropologen Ricardo Godoy ins Ama­zonasgebiet, um mit den Chimane zu arbeiten. Du interessierst dich für Musik, du reist gerne – hast du Lust mitzukommen?“

Binnen weniger Wochen tauscht der junge Wissenschaftler so den Straßenlärm und die urbane Geschäftigkeit Bostons gegen die Feuchtigkeit und das schrille Zirpen des Amazonasregenwalds ein. Hier, im Nordosten Boliviens, lebt das indigene Volk der Chimane in kleinen, dörflichen Gemeinschaften, jagt und fischt, baut Maniok und Bananen an. Handys oder Zugang zum Internet haben die meisten hier nicht. Die Forschenden führen ihre Experimente in den Dorfgemeinschaften durch, in denen die Chimane leben. Mit der Hilfe von Übersetzern verständigt sich Nori Jacoby mit seinen Gastgebern, bittet diese, Rhythmen für ihn nachzuklopfen und Töne nachzusingen. „In Bezug auf das Soziale war es nicht groß anders, als Testreihen in New York oder Boston durchzuführen“, erinnert sich der Forscher. „Aber in Hinblick auf die auditive Wahrnehmung war sofort klar: Diese Menschen machen vollkommen andere Erfahrungen als Testpersonen, die in der westlichen Welt sozialisiert worden sind.“

Ein paar Jahre zuvor hatte Nori Jacoby, der mehrere In­strumente spielt und auch für längere Zeit als Komponist gearbeitet hat, schon einmal etwas Ähnliches erlebt. Da war er in Indien unterwegs, auf einer Konzert­reise, und arbeitete mit einem indischen Tontechniker zusammen. „Dieser Mann hatte einen völlig anderen Zugang zu Klängen und Musik als ich. Die Art und Weise, wie er mit Klängen umging, war für mich absolut rätselhaft, das konnte ich einfach nicht nachvollziehen.“ Diese Erfahrung habe sich eingebrannt und sei am Amazonas bei den Chimane wieder hochgekommen. „Ich fragte mich: Ist es woanders genauso? Hören Menschen überall auf der Welt die gleichen Klänge, nehmen diese aber ganz unterschiedlich wahr?“ Um Antworten zu finden, reiste der Wissenschaftler für Studien unter anderem nach Mali und Uruguay, begann Kooperationen mit Forschenden auf der ganzen Welt aufzubauen. Seit 2018 leitet er eine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main. Eines der Ziele: die menschliche Wahrnehmung von Musik systematisch und kultur­übergreifend zu erforschen.

Ohne Worte verstehen, was im Kopf passiert

Konkret treibt Nori Jacoby um, welche Ideen Menschen von musikalischen Elementen haben – von Rhythmen, Tonhöhen, Intervallen. Er untersucht, wie unterschiedliche Gehirne solche musikalischen Elemente repräsentieren. „Was ich mit meinen Experimenten aus den Köpfen der Menschen herausholen will, sind die mentalen Repräsentationen der Bausteine, aus denen Musik besteht“, erläutert der Wissenschaftler. Interessant zu untersuchen ist das auch deshalb, weil die musikalische Welt im Kopf keineswegs eine exakte Kopie der musikalischen Welt „da draußen“ ist: Über welche mentalen Repräsentationen ein Mensch verfügt, was er wahrnehmen und wiedergeben kann, das hängt mit seinen Vorerfahrungen zusammen. Zudem sind solche Repräsentationen nicht statisch, sondern verändern sich mit jeder neuen auditiven Erfahrung. Eine knifflige Situation für Forschende, die noch durch den Umstand verschärft wird, dass die meisten Menschen keine Sprache für das haben, was sie beim Hören wahrnehmen. „Die Frage, die ich mir unablässig stelle, lautet also: Wie kann ich ohne direkten Zugang zum Gehirn und möglichst ohne Worte verstehen, was im Kopf passiert, wenn jemand etwas hört? Wie schaffe ich es, Gedanken zu lesen?“

Die Antwort, die der Forscher gefunden hat, ist überaus kreativ: Er macht sich die menschliche Fähigkeit zur Imitation zunutze. „Wie reagieren Menschen weltweit auf Musik? Sie beginnen mitzusingen, stampfen den Rhythmus, bewegen sich dazu“, sagt Jacoby. „Dazu braucht es keine Worte – nur den Klang. Also haben wir Probandinnen und Probanden gebeten, sich Dinge anzuhören und das Gehörte zu imitieren.“ In einem Experiment spielte der Forscher Testpersonen computergenerierte Rhythmen vor, die nachgeklopft werden sollten. Was die Testpersonen nicht ahnten: Sie spielten gerade eine Variante von „Stille Post“ – und zwar mit sich selbst. Bei „Stille Post“ flüstert eine Person einer anderen ein kompliziertes Wort zu. Diese gibt das Verstandene flüsternd einer dritten Person weiter. Zuletzt wird das Wort, das sich im Laufe des Spiels immer mehr verändert, laut ausgesprochen. Analog dazu hörten Versuchspersonen einen Rhythmus, den sie nachklopfen sollten. Danach wurde ihnen erneut ein Rhythmus vorgespielt – eine gemittelte Audio­kopie dessen, was sie zuvor selbst geklopft hatten. Über mehrere Runden klopften die Versuchspersonen so immer wieder ihre eigenen Rhythmen nach, die sich dabei stetig ein wenig veränderten. Was genau hofften Nori Jacoby und sein Team, auf diese Weise herauszufinden?

Die Erwartung bestimmt die Wahrnehmung

„Das Interessante an ,Stille Post‘ ist, dass man mit einem obskuren Wort startet, das Spiel am Ende aber meistens mit einem banalen Wort endet“, erklärt der Wissenschaftler. „Menschen geben also regelhaft nicht das Wort weiter, das sie tatsächlich gehört haben, sondern ein Wort, von dem  sie glauben, es gehört zu haben.“ Mithilfe von Experimenten, die nach diesem Schema konzipiert sind, können Forschende also etwas über die Hörerwartungen von Menschen lernen, genauer: herausfinden, welche Wörter Testpersonen so vertraut sind, dass sie mit ihnen rechnen – und auf welche Wörter das eher nicht zutrifft. Genau diesen Mechanismus machten sich Nori Jacoby und sein Team zunutze, um etwas über die Rhythmuserwartungen der Versuchspersonen herauszubekommen. Sie spielten ihnen einen computergenerierten, „obskuren“ Startrhythmus vor und bekamen „banale“ Zielrhythmen zurück: Entsprechungen der mentalen Repräsentationen der Teilnehmenden.

„Es ist tatsächlich wie Magie: Wir spielen einen zufälligen, computergenerierten Rhythmus vor, und ohne dass sie uns explizit etwas dazu sagen müssen, nähert sich das, was die Leute imitierend klopfen, nach und nach ihren musikalischen Wahrnehmungskategorien an“, freut sich Nori Jacoby. Unzählige Male und in mittlerweile fünfzehn Ländern haben er und seine Mitstreitenden das Experiment wiederholt – in Korea etwa, in Uruguay und in den Vereinigten Staaten. Heatmap-Darstellungen der kumulierten Ergebnisse machen deutlich: Was die Menschen da klopfen, ist hochgradig geordnet und folgt klaren Prinzipien. „Als wir die Verteilungen zum ersten Mal sahen, waren wir tief beeindruckt: Die mentalen, musikalischen Repräsentationen von Menschen mit demselben kulturellen Hintergrund gleichen sich aufs Haar. Viele der Versuchspersonen können nichts über die Rhythmen sagen, die sie da klopfen – und doch sitzen diese in ihren Köpfen und bestimmen, was diese Menschen wahrnehmen, wenn sie etwas hören, und was sie dann entsprechend im Experiment wiedergeben.“

Nicht zwangsläufig ließ sich dabei vom Wohnort und der Muttersprache der Teilnehmenden auf die Rhythmen schließen, die sie klopfen würden. „Unter unseren Versuchspersonen waren zum Beispiel viele Studierende. Und obwohl diese aus so unterschiedlichen Ländern wie Korea und den USA kamen und sehr unterschiedliche Sprachen sprachen, klopften sie in unserem Experiment am Ende häufig ganz ähnliche Rhythmen.“ Woran genau das liegt, können die Forschenden nicht sicher sagen. Sie vermuten jedoch, dass ähnliche Hörgewohnheiten auf ähnliche Erfahrungen schließen lassen – dass Studierende weltweit also ähnlichen Einflüssen ausgesetzt sind und vielfach wohl auch ähnliche Musik hören. Im Kontrast zu den recht gleichförmigen Ergebnissen der Studierenden waren die Rhythmen, die Bewohnerinnen und Bewohner von Großstädten wie Bamako in Mali oder La Paz in Bolivien klopften, enorm vielfältig. „Unsere Analysen lassen vermuten, dass unter anderem sozioökonomische Faktoren und die Art der Bildung, die ein Mensch durchlaufen hat, Einfluss darauf haben, welche Rhythmen er oder sie klopft.“

Die Studie zeigt: Ob am Amazonas, in Seoul oder auf der Hochebene von La Paz – Menschen auf der ganzen Welt haben ein Rhythmusempfinden. Welche Rhythmen sie jedoch konkret wahrnehmen, ist unterschiedlich. So kann selbst der musikalisch umfassend gebildete Nori Jacoby keine rhythmische Struktur heraushören, wo Schlagzeuger aus Mali unmittelbar den Grundrhythmus des örtlichen Tanzes Maraka ausmachen – zwei, drei, sieben Schläge. Und das, so berichtet der Forscher, ist nur eines von zahlreichen Beispielen, die die Experimente zutage gefördert haben und die den großen Reichtum an Hörgewohnheiten und musikalischen Traditionen auf der Welt erahnen lassen. Dass Rhythmen so unterschiedlich gehört werden, legt die Vermutung nahe, dass die Musikwahrnehmung entscheidend von kulturellen Prägungen abhängt. Zugleich zeichnen sich Rhythmen und andere musikalische Elemente oft durch einfache mathematische Beziehungen aus. Spricht das nicht im Gegenzug dafür, dass die Musikwahrnehmung auf einer allgemeineren Ebene universell ist, dass in ihr eine Art mathematisches Gespür zum Ausdruck kommt?

Oktaven klingen nicht für alle gleich

„Tatsächlich ist das westliche Denken tief geprägt von dieser Idee, die auf Pythagoras zurückgeht“, kommentiert Nori Jacoby. Diesem seien mathematische Beziehungen als grundlegend für die Welt und somit auch für die Musikwahrnehmung erschienen. „Viele physikalische Phänomene zeichnen sich in der Tat dadurch aus, dass sie sich durch einfache mathematische Beziehungen beschreiben lassen – schwingende Saiten etwa. Die Annahme ist weit verbreitet, dass auch die Funktionsweise des menschlichen Geistes pythagoreische Ideen widerspiegelt.“ Ein prominentes Beispiel für ein physikalisches Phänomen, das ganzzahlige Verhältnisse mit einem oft als harmonisch empfundenen Klang verbindet, ist die Oktave. Viele Menschen in der westlichen Welt beschreiben das Intervall als gleich klingend – sie hören die beiden Töne so, als ob derselbe Ton zweimal angeschlagen würde, nur einmal mit einer tieferen und einmal mit einer höheren Frequenz. Dies spiegelt sich in unserem Notationssystem wider, das für Noten, die eine Oktave auseinanderliegen, die gleichen Buchstaben verwendet – zum Beispiel g und g’. Physikalisch zeichnet sich die Oktave dabei dadurch aus, dass die höhere Note genau doppelt so schnell schwingt wie die tiefere. Ein weiteres Phänomen, das die Ideen des Pythagoras zu bestätigen scheint: Mit jedem angeschlagenen Ton schwingen die ganzzahligen Vielfachen seiner Frequenz mit, was die Obertonreihe ergibt. Wird die menschliche Klangwahrnehmung bei aller rhythmischen und klanglichen Vielfalt am Ende also von ganzzahligen, mathematischen Verhältnissen bestimmt? „Wenn hier tatsächlich ein biologischer Mechanismus am Werk wäre, müsste dieser sich überall auf der Welt nachweisen lassen“, kommentiert Nori Jacoby.

Um zu testen, ob das der Fall ist, entwarf der Forscher ein weiteres Experiment, das auf Nachahmung beruht. Er spielte Versuchspersonen vom Volk der Chimane und aus den USA zwei hohe Töne außerhalb ihres Gesangsbereichs vor und bat sie, das Gehörte nachzusingen. „Die Teilnehmenden ahmten den Abstand zwischen den beiden Tönen sehr genau nach“, erinnert sich der Forscher. In Hinblick auf die Frequenz der nachgesungenen Töne zeigten sich jedoch beträchtliche Unterschiede: „Wenn wir das Experiment mit Musikerinnen und Musikern aus der westlichen Welt durchführen, dann singen sie uns dieselben Töne drei oder vier Oktaven tiefer vor – ein Ausdruck der Oktavenäquivalenz.“ Menschen aus den USA, die nicht Musik machen, taten das jedoch nur in etwa der Hälfte der Fälle. Und im Amazonasgebiet war von der Oktavenäquivalenz nichts mehr zu merken. „Auch die Chimane sangen das Intervall zwischen den beiden Tönen sehr genau nach. Auf welcher Höhe der Tonleiter sie die Töne im Verhältnis zum Klangbeispiel platzierten, war unabhängig vom ursprünglichen Beispiel“, erzählt Nori Jacoby. In einem Folgeexperiment konnte er zeigen, dass auch in der Wahrnehmung der Chimane zwei Töne im Oktavverhältnis klanglich gut miteinander verschmelzen. „Das bedeutet für diese Testpersonen aber nicht, dass die beiden Töne äquivalent sind. Sie bewerten das Phänomen anders als Musikerinnen und Musiker aus der westlichen Welt.“

Mit seiner Forschung will Nori Jacoby der Klangwahrnehmung auf die Spur kommen. Doch seine Ergebnisse sagen nicht nur etwas über unser Hörerleben aus. Vielmehr wird hier die menschliche Wahrnehmung im Allgemeinen untersucht, zeigt sich empirisch als Produkt eines Interpretationsprozesses, den unser Gehirn immer wieder neu auf Basis bisheriger Erfahrungen und aktueller Sinneseindrücke vornimmt. „Was das Ganze noch spannender macht, ist, dass diese Prozesse simultan in uns allen ablaufen und ungeheuer dynamisch sind: Im größeren Maßstab ist das die Basis der Kulturentwicklung“, zeigt sich Nori Jacoby überzeugt. Für Menschen, die die Tradition hochhalten, ist das vielleicht nicht die allerbeste Nachricht. „Selbst wenn ich mich als traditionellen Musiker begreife und immer wieder dasselbe Stück spiele: Mein Gehirn und somit meine Wahrnehmung dieses Stückes verändern sich stetig“, sagt der Kognitionsforscher. So habe man etwa den frühen Bebop zu der Zeit, in der er aufkam, als sehr innovativ wahrgenommen und Elvis Presleys Rock ’n’ Roll als Skandal empfunden. „Heute finden viele Bebop und Rock altmodisch. Das zeigt: Unsere Wahrnehmung ist immer im Fluss – und mit ihr unsere Kultur.“

Auf den Punkt gebracht

  • Anders als oft behauptet ist Musik keine universelle Sprache – das zeigen Studien mit Menschen in unterschiedlichen Ländern.

  • Wie eine Person musikalische Elemente, etwa Rhythmen oder Intervalle, wahrnimmt, ist unter anderem von ihrer Kultur und ihren Hörgewohnheiten geprägt.

  • Die Verarbeitung von Musik im Gehirn wird von jeder neuen Erfahrung beeinflusst und ändert sich auf diese Weise ständig.

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