Heimweh, das in den Genen liegt

Miriam Liedvogel und ihr Team wollen herausfinden, was das Zugverhalten von Vögeln steuert

Diesen Herbst brechen auf der Nordhalbkugel wieder Millionen Vögel in ihre Winterquartiere auf. Einigen davon wird Miriam Liedvogel besonders fest die Daumen drücken, dass sie im nächsten Frühjahr heil zurückkehren. Die Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön hat ihnen nämlich ein wenig Gepäck mitgegeben: sogenannte Geolokatoren. Die winzigen Sensoren sollen ihr verraten, wo die Vögel den Winter über waren.

Durch die geöffneten Fenster dringt ein vielstimmiges Konzert. Laut und selbstbewusst, als verstünden die Musiker genau, dass es hier im Hause nur um sie geht. In den Bäumen und Büschen des Wäldchens, welches das Institut für Vogelkunde in Wilhelmshaven umgibt, sitzen Singvögel aller Art. Auch etliche Mönchsgrasmücken-Männchen, leicht erkennbar an ihrer schwarzen Federkappe, zwitschern da mit. Die Weibchen sind unterdessen noch mit der Aufzucht ihrer Jungen beschäftigt.

Es ist Mitte Juli, und die Jungvögel ahnen nicht, dass es bald auf große Reise gehen wird: gen Süden, bis nach Nordafrika, wo es im Winter angenehm warm ist und es jede Menge Insekten gibt. Sie werden nachts unterwegs sein – allein, denn ihre Eltern fliegen oft schon zwei Wochen früher los. Trotzdem werden die Jungen genau wissen, wo es langgeht und wo ihr Winterquartier sein wird. Seit zwei Jahren ist Miriam Liedvogel Direktorin der außeruniversitären Forschungsein­richtung, die mit der renommierten Vogelwarte Helgoland über einen zweiten Standort verfügt. Hier und am Max-Planck-Institut für Evolutionsbio­logie in Plön, wo ein Teil ihrer Arbeitsgruppe forscht, untersucht die 44-Jährige die genetischen Grundlagen des Orientierungs- und Navigationsvermögens von Zugvögeln.

Stipendien für die Erforschung des Vogelzugs

Liedvogels Interesse für den Vogelzug erwachte während eines freiwilligen ökologischen Jahres, das sie nach dem Abitur an der Küste Ostfrieslands verbrachte. Danach studierte sie Biologie und promovierte an der Universität Oldenburg. Zunächst hat sie als Marie-­Curie-Stipendiatin Gene erforscht, die den Biorhythmus von Tieren steuern. So ist sie als Stipendiatin der Alex­ander von Humboldt-Stiftung im schwedischen Lund zur Genetik des Vogelzugs gekommen. Und diese Stiftung hat sie schließlich mit einem Rückkehrer­stipendium wieder zurück nach Deutschland geholt. Seit 2014 leitet Liedvogel ihre eigene Forschungsgruppe am Max-­­Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön.

Die Lust am Ziehen – sei es über Land, durchs Wasser oder durch die Luft – ist im Tierreich weit verbreitet. Vögel besitzen diesen Drang, aber auch Fledermäuse, Schmetterlinge, Fische, Meeresschildkröten, Wale und natürlich große Säugetiere wie Bisons, Büffel, Gnus und Rentiere. Sie alle folgen einem genetischen Programm, welches von einer Generation an die nächste weiter­gegeben wird. Solche „Zuggene“ sind in diesen Tieren wahrscheinlich unabhängig voneinander entstanden, verloren gegangen und wieder neu entstanden – forciert beispielsweise durch sich verändernde klimatische Bedingungen wie etwa Eiszeiten.

Miriam Liedvogel möchte herausfinden, welche Gene es sind, die den Vogelzug steuern. Das Zugverhalten der Mönchsgrasmücken bietet sich dafür hervorragend an, denn die Vögel zeigen die ganze Palette des Zugverhaltens: Die in Skandinavien brütenden Tiere ziehen über lange Strecken. In Mittel­europa sind sie dagegen Mittelstreckenzieher. Spanische Populationen wiederum begeben sich nur auf die Kurzstrecke, oder sie bleiben gleich ganz an Ort und Stelle. Und selbst innerhalb einer Population machen nicht alle Individuen dasselbe. Ob ein Vogel einer solchen Teilzieherpopulation individuell von Jahr zu Jahr neu entscheidet, ob er wegfliegt oder lieber doch vor Ort überwintert, das ist noch eine offene Frage. Miriam Liedvogel will deshalb wissen, ob eine Mönchsgrasmücke einer Teilzieherpopulation, die im einen Jahr zieht, dies immer wieder tut. Weitere Erkenntnisse hierzu erhofft sie sich von Rotkehlchen. Auch diese Vögel sind Teilzieher: Ein Teil der Population fliegt im Winter gen Süden, der andere Teil überwintert vor Ort. Dafür verbringen Artgenossen aus Skandinavien den Winter bei uns.

Zugscheide durch Europa

Mönchsgrasmücken sind auch deshalb ein gutes Modell für den Vogelzug, weil ihre Zugstrategie nicht nur hinsichtlich der Distanz variiert, sondern auch hinsichtlich der Richtung: Im Osten lebende Tiere ziehen im Herbst nach Südosten und umfliegen das Mittelmeer südöstlich, im Westen lebende Mönchsgrasmücken fliegen südwestlich daran vorbei. Auf diese Weise entsteht eine sogenannte Zugscheide – keine klar erkennbare Grenze, sondern ein schmaler Streifen, in dem sich West- und Ostzieher auch vermischen. Dieser Streifen verläuft zwischen Berlin und Prag in Nord-Süd-Richtung quer durch Mitteleuropa. Liedvogels Team hat herausgefunden, dass Brutvögel entlang der Zugscheide einen „Mittelweg“ wählen: Sie fliegen direkt nach Süden und überqueren die Alpen, das Mittelmeer und oft auch die Sahara – und diese an einer sehr viel breiteren Stelle, als wenn die Alpen und das Mittelmeer östlich oder westlich umflogen werden. Seit wenigen Jahrzehnten entwickelt sich außerdem eine gänzlich neue Flugroute: nach Großbritannien. Doch dazu später mehr.

Dass Singvögel der Drang zu ziehen und der Routenplan von ihren Eltern vererbt wird, ist schon länger bekannt: Peter Berthold, bis 2004 Direktor am Max-Planck-Institut in Radolfzell am Bodensee, hat das in den 1990er-Jahren mit aufwendigen Zucht- und Kreuzungsversuchen herausgefunden. Sein Team hatte Elternvögel aus Populationen westlich und östlich der „Zugscheide“ untereinander verpaart und die Jungvögel von Hand aufgezogen. Sobald die Eltern in Freiheit in ihre Winterquartiere aufbrachen, wurden die Vögel im Käfig unruhig. Ohne dass sie die Orientierungspräferenzen ihrer Eltern kannten, versuchten die Jungvögel, es diesen gleichzutun: Sie flatterten aufgeregt in dieselbe Richtung, in die auch ihre Eltern abhoben. Kreuzte man Vögel beider Populationen miteinander und mischte dadurch die für die Flugrichtung verantwortlichen Gene, so wählten die Nachkommen den Mittelweg, also den direkten Weg nach Süden.

Vögel mit Fahrtenschreiber auf dem Rücken

Liedvogels Forschung baut auf Bertholds Arbeiten auf. Nur untersucht sie die Tiere meist nicht mehr unter kontrollierten Bedingungen im Käfig, sondern in der freien Natur. Aber woher weiß sie, welche Zugrichtung eine frei lebende Mönchsgrasmücke im Herbst gewählt und wo sie den Winter verbracht hat? „Die kleinsten GPS-Ortungssender wiegen immer noch drei Gramm und sind deshalb für die etwa zwanzig Gramm leichten Singvögel weiterhin zu schwer. Deshalb befestigen wir Geolokatoren auf dem Rücken der Vögel“, erklärt die Forscherin. Diese winzigen „Fahrtenschreiber“ sind 0,5 Gramm leichte Fotozellen mit Speicherkarte; sie zeichnen die Lichtintensität und damit die Tages- und Nachtlänge sowie die exakte Zeit auf. Anhand dieser auf dem Geolokator gespeicherten Daten können die Forschenden später mit einer Genauigkeit von fünfzig Kilometern zu jedem Zeitpunkt entlang des Zugs den jeweiligen Aufenthaltsort der Vögel bestimmen und so die Route rekonstruieren.

„Wann der Zug startete, wo der Vogel entlangflog, wo und wie lange er pausierte, wo sein Winterquartier war und wann er wieder zurückgeflogen ist – das alles wissen wir aber erst, wenn wir die Tiere im nächsten Frühjahr wieder eingefangen und die auf dem Chip gespeicherten Daten analysiert haben“, erklärt Liedvogel. Die Forschenden müssen also darauf hoffen, dass ihre Vögel in ihr Brutgebiet zurückkehren – was die meisten auch tun. Und dann müssen sie an die Daten gelangen, denn die sind ja weiterhin auf dem Geolokator gespeichert. Es kann einiges an Aufwand bedeuten, bis ein Vogel  ins Netz geht. Dann nehmen ihm die Forschenden den Geolokator ab, lesen die Daten aus und analysieren anhand einer Blutprobe sein Erbgut.

Auf diese Weise finden die Forschenden 20 bis 25 Prozent der Geolokatoren wieder. Bislang haben sie ausschließlich die Routen ausgewachsener Tiere verfolgt, die schon einmal erfolgreich Richtung Süden geflogen und zurückgekehrt waren. „Wir wüssten gerne, wie Jungvögel beim allerersten Mal in ihre Winterquartiere fliegen, was sie dabei lernen und wie sich dieses zusätzlich zur vererbten Information neu erworbene Wissen auf die nächsten Routen auswirkt“, sagt Liedvogel. „Doch die Sterblichkeit im ersten Jahr ist einfach zu hoch.“

Damit ein Zugvogel Jahr für Jahr zum Flug in sein Winterquartier aufbrechen kann, hat er jedes Mal eine Menge Vorbereitungen zu treffen: Zunächst mausert er sich rechtzeitig, damit alle Federn frisch und für den langen Flug unverbraucht sind. Gleichzeitig frisst er sich Fettreserven an. So stellen Mönchsgrasmücken im Herbst von Insekten auf Früchte als Nahrung um und legen sich einen Energievorrat für die lange Reise an. Viele Singvogelarten ändern zudem ihren Biorhythmus von tag- zu nachtaktiv. In der Kühle der Nacht verbrauchen sie weniger Energie, um ihren Körper abzukühlen, und damit auch Flüssigkeit. Zudem sind sie sicherer vor Greifvögeln.

Wenige Gene als Schalter für das Zugverhalten

Möglicherweise steuern nur einige wenige Gene all diese Vorgänge. Aber diese wirken dann umso stärker. „Ich vermute, ein oder zwei Hauptschalter koordinieren ein komplexes Netzwerk weiterer Vorgänge“, sagt Lied­vogel. Das Gen für das Neuropeptid Y wäre ein Kandidat für einen solchen Schalter. Der Botenstoff steuert Appetit und Futteraufnahme. „Wird wenig davon produziert, bleibt der Vogel schlank. Gibt es viel, steigt der Appetit, und es kann viel Fett eingelagert werden.“

Das Fett-Anfressen könnte der Dominostein sein, der die ganze Kaskade anstößt. Bleibt der Impuls aus, fehlt das Signal aufzubrechen. In Spanien brütende Mönchsgrasmücken beispielsweise ziehen gar nicht, sie bleiben das gesamte Jahr über im Brutgebiet, und sie lagern auch während der Zugzeit keine vergleichbaren Fettreserven an wie ihre ziehenden Artgenossen.

Wenn eine Mönchsgrasmücke zum Zug aufbricht, kennt sie instinktiv die Richtung, wie die Versuche von Peter Berthold gezeigt haben. Da sie nachts fliegt, kann sie die Sterne als Orientierungshilfe nutzen. Außerdem besitzt sie einen Magnetkompass, um die Richtung zu halten. Andere, meist am Tag ziehende Arten folgen auffälligen Landschaftselementen wie Flüssen, Eisenbahnstrecken oder Küstenlinien. Sie erinnern sich an gute Rastplätze und nehmen diese als Zwischenstopp in ihre Flugplanung auf.

Orientierung an den Sternen und am Magnetfeld

Doch wie findet der kleine Vogel seinen Weg, wenn er allein am Nachthimmel fliegt? Er orientiert sich am Rotationsmuster der Sterne und am Magnetfeld der Erde – selbst dann, wenn der Himmel bewölkt ist. Für das Nachtsehen gibt es den Erkenntnissen der Forschenden zufolge einen eigenen Bereich im Vorderhirn des Vogels. „Da Vögel das Magnetfeld der Erde offenbar über die Augen wahrnehmen, ist dieses Gebiet wahrscheinlich auch an der Magnetfeld­orientierung beteiligt“, erklärt Miriam Liedvogel. Der Magnetsinn scheint die wichtigste Orientierungshilfe zu sein. Möglicherweise erben die Vögel eine Art Magnetgedächtnis von ihren Eltern: „Hier ist es richtig, hier muss ich landen.“ Und bei der Rückkehr: „Hier komme ich her.“ Auch der Geruchssinn kann eine Rolle spielen. Und wenn Landmarken verschwinden wie zum Beispiel dieses Jahr der trockengefallene Po in Nord­italien? Kein Problem, denn das „Navi“ der Zugvögel hat ein Back-up. „Wenn ein Navigationssystem ausfällt, springen die Magnetkarte und der Sternenkompass ein.“

Leider ist die Nacht in vielen Gebieten der Erde heute nicht mehr dunkel. Landmarken, an denen sich die Vögel bisher orientiert haben, werden nun von der Lichtverschmutzung durch den Menschen überstrahlt. Zug­vögel kommen dadurch leicht vom Kurs ab. „In den USA liegen während der Zugperioden regelmäßig Tausende tote Vögel am Fuß von Wolkenkratzern“, erzählt Miriam Liedvogel.

Der weltweite Rückgang der Insekten und die Klimakrise lassen die Bestände vieler Zugvogelarten rund um den Globus ebenfalls einbrechen. „Am härtesten trifft es die Langstreckenzieher, denn bei ihnen ist das Zugprogramm am stärksten genetisch fixiert.  Falls sie im Herbst zu spät losfliegen, kann es schon zu kalt sein, und sie erfrieren auf dem Zug.“ Kurz- und Mittelstreckenzieher wie die Mönchsgrasmücke kommen mit solchen Veränderungen besser zurecht. Wegen der milden Winter kehren die Mönchsgrasmücken inzwischen drei Wochen früher aus dem Süden nach Norddeutschland zurück. „Das ist gut für sie, denn die Eichen treiben heute früher aus. Damit sind auch die Falterraupen, die sich von den Blättern ernähren, zeitiger im Jahr als Aufzuchtfutter für die Jungen verfügbar“, erklärt Liedvogel.

In Großbritannien locken milde Winter

Wie schnell sich die Vögel an neue Verhältnisse anpassen können, zeigen noch tiefgreifendere Veränderungen, mit denen die Tiere auf das wärmer werdende Klima reagieren. Seit den 1960er-Jahren beobachten Ornithologen, dass immer mehr Mönchsgrasmücken nicht gen Süden fliegen, sondern nach Nordosten abbiegen. In den Parkanlagen und Gärten Großbritanniens locken nämlich infolge des Golfstroms milde Winter – und Extrafutter: Die als Vogelliebhaber bekannten Briten bestücken Jahr für Jahr unzählige Futterhäuschen und backen sogar spezielle bird cakes. Hinzu kommt die deutlich kürzere Flugdistanz. „Eine Studie, bei der auch viele begeisterte Ehrenamtliche mitgemacht haben, hat ergeben, dass die in Großbritannien überwinternden Vögel ihre Fettreserven deutlich schneller auffüllen können und zehn Tage früher in ihre Brutgebiete aufbrechen als ihre im Süden überwinternden Artgenossen. Dadurch könnten sie sich die besten Territorien zum Brüten aussuchen“, vermutet Liedvogel.

Das Überwintern in Gärten kann sogar den Körperbau beeinflussen: In Gärten lebende Mönchsgrasmücken besitzen breitere Schnäbel und rundere Flügelspitzen. Gründe dafür könnten sein, dass die in den Gärten lebenden Vögel andere Nahrung zu sich nehmen und so besser manövrieren können und insgesamt kürzere Flugdistanzen fliegen.  Die Mönchsgrasmücke scheint also ihr Verhalten und ihre Physiologie rasch an neue Bedingungen anzupassen. Das kommt ihr offenbar gegenwärtig zugute: Im Gegensatz zu vielen anderen Vogelarten wie beispielsweise dem Trauerschnäpper sind die Bestände der Mönchsgrasmücke in Deutschland stabil und nehmen sogar leicht zu. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit könnten ihr auch zukünftig das Überleben in unsicheren Zeiten garantieren.

Auf den Punkt gebracht

  • Ob und wohin ein Vogel im Herbst zieht, wird ihm von seinen Eltern vererbt. Die Gene, die das Zugverhalten steuern, sind jedoch noch unbekannt.

  • Für den Zug ändern Vögel ihr Verhalten und ihren Stoffwechsel.

  • Die Anpassungen werden von verschiedenen Genen gesteuert. Diese wiederum werden möglicherweise durch einige wenige Kontrollgene reguliert.

 

 

 

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