Neun pro Quadratmeter
Wie orientieren sich Einzelne in der Menge? Wie verbreitet sich Hass im Internet? Und was hat das eine mit dem anderen zu tun? Mehdi Moussaid, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, beobachtet Menschen in Bewegung. Und erklärt, weshalb es dabei manchmal zu Katastrophen kommt.
Text: Martin Tschechne
Es war ein Moment, in dem menschliche Existenz in einen anderen Aggregatzustand überging. Buchstäblich. In dem sie sich auflöste, die Grenzen der eigenen Körperlichkeit transzendierte und zerfloss im Strom der Masse. Ein Moment, in dem sich die Hölle auftat.
Der 12. Januar 2006. Wie in jedem Jahr hatten sich mehr als zwei Millionen gläubige Muslime aus der ganzen Welt auf den Weg nach Mekka gemacht, um dort den Satan symbolisch zu steinigen und die Kaaba, den schwarzen Schrein im Hof der Großen Moschee, siebenmal zu umkreisen. Und wie in jedem Jahr schoben sich die Pilger über Brücken und durch breite Korridore dem heiligen Ort entgegen, dicht gedrängt und kaum zu einer eigenen Bewegung fähig. Immer wieder hatte es Tote gegeben, in schlimmen Jahren mehrere Hundert, manchmal mehr als tausend, die im Strom untergingen und zu Tode getrampelt wurden. Oder solche, die einfach in der Menge erstickten. Die saudischen Aufseher über das Ritual wussten keinen Rat. Irgendjemand musste herausfinden, wie genau solche Katastrophen entstehen. Und wie sie sich in Zukunft verhindern lassen.
So kam es, dass der schwedische Ingenieur und Physiker Anders Johansson zum ersten Mal filmen konnte, wie die Masse der Pilger zwischen den Mauern der Zuwege hin und her wogte, als wälzte sich ein Ozean im Orkan. Wie sie sich zu Wellenbergen türmte, gegen Seitenwände krachte und unter sich begrub, wer nicht das Glück hatte, nach oben hinausgequetscht zu werden. In keinem Fußballstadion und bei keinem Rockkonzert drängen sich auch nur annähernd so viele Menschen an einem Ort wie zum Hadsch, der alljährlichen Wallfahrt nach Mekka. Am Ende dieses unseligen Tages im Januar 2006 waren dort 363 Tote zu beklagen.
Mehdi Moussaid hat die schrecklichen Szenen auf seinem Bildschirm. Erstklassiges Forschungsmaterial, wie er achselzuckend zugibt. Er war Student, als er auf die Arbeit des Teams um Johansson und den in Zürich lehrenden Physiker und Soziologen Dirk Helbing aufmerksam wurde und sich den Forschenden anschloss. Heute ist er vierzig. Und wie es der böse Zufall wollte: Am 24. Juli 2010, nur wenige Tage nachdem er an der Universität von Toulouse seine Dissertation zur Entstehung von Turbulenzen in Menschenansammlungen verteidigt hatte, wurden bei der Loveparade in Duisburg 21 Besucher der Massenparty zu Tode gedrückt und getreten, 652 weitere zum Teil schwer verletzt. „Mit sechs oder sieben Personen pro Quadratmeter“, stellt der Forscher fest, „ist die kritische Grenze erreicht und überschritten.“ In Mekka waren es bisweilen neun.
Er klickt ein anderes Bild auf seinen Schirm, leuchtend rote Kirschtomaten in einem Geviert aus hellen Holzleisten. Hübsch anzuschauen. Im Zeitraffer kommen immer mehr Tomaten hinzu, es wird eng und enger, bis die ersten Früchte platzen und roter Saft aus ihnen quillt. Was harmlos begann, endet drastisch. Die Parallelen sind überdeutlich. Die Menschen in der Masse werden geschoben und stürzen, jede Lücke schließt sich sofort; jeder Impuls wird weitergegeben und schaukelt sich auf zu einer machtvollen Woge. „Wir neigen dazu, die Ursachen solcher Ereignisse in persönlicher Schuld zu suchen“, sagt Moussaid, „in jugendlichem Leichtsinn, religiösem Fanatismus, in Alkohol oder Drogen. Alles Unsinn! Was hier passiert, folgt allein den Gesetzen der Hydrodynamik, der Strömungslehre und der Mechanik. Reine Physik. Es geht um Formeln. Ganz einfach.“
Die Muster sind erstaunlich ähnlich
Er selbst kam als Ingenieur ins Grenzgebiet der Disziplinen: Computer Science. Aber nach sechs Monaten als Programmierer und Datenanalyst in der Wirtschaft war der Reiz verflogen. Er wollte forschen. Vom Studium der Bienen und Ameisen, der Schwärme von Vögeln, Insekten oder Fischen im Labor für Verhaltensforschung in Toulouse kam er über die Schnittstelle zwischen Physik und Sozialwissenschaften an der ETH in Zürich nach Berlin an das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Forschungsbereich „Adaptive Rationalität“. Dessen Direktor, Ralph Hertwig, ist Psychologe. „Ich passe da gut hinein“, sagt Moussaid und lacht: „Ich bin kein Spezialist in Psychologie, nicht mal in Informatik oder Biologie – aber ich weiß sehr gut, wie man sich zwischen den Fächern bewegt.“
Wie kann sich ein ganzer Schwarm von Fischen im selben Moment in eine andere Richtung wenden? Welche Dynamik entfaltet eine Woge von Hass im Internet? Wie pflanzt sich die Information über eine Bedrohung durch eine Telefonkette fort? Wie Wellen in einer Flüssigkeit. Manchmal muss der Forscher beinahe lachen darüber, wie weit die Gesetze der Naturwissenschaften den Alltag einer hochzivilisierten Gesellschaft bestimmen. Und wird sehr ernst beim Gedanken daran, welche Möglichkeiten zur Fernsteuerung sich dabei eröffnen. Dann geht es um die subtilen und nicht so subtilen Mechanismen der sozialen Beeinflussung und der Manipulation: Welchen Einfluss hat das sichere Auftreten eines anderen auf das eigene Urteil? Welchen die Überzeugung einer großen Mehrheit? Wann fliehen Menschen aus ihrer Heimat? Wie bewegen sich Leute durch ein enges Netz von Gängen? Und was beeinflusst die Wahl eines Fluchtweges? Die Muster, sagt Moussaid, seien einander erstaunlich ähnlich. Erkenntnisse aus dem einen Feld lassen sich auf das andere übertragen. Der Wissenschaftler spricht in seiner Muttersprache Französisch von fouloscopie – abgeleitet von la foule: die Menschenmenge, die Masse – und davon, was die Masse über uns sagt.
Massenhysterie entsteht durch Nachahmung
In der Shoppingmall am Berliner Alexanderplatz gibt es einen Balkon, der einen ungehinderten Überblick bietet, wie Ströme von Menschen einander begegnen und ganz leicht, beinahe elegant aneinander vorbeigleiten. Moussaid glaubte schon, einen optimalen Platz für seine Analyse der hochkomplexen, kollektiv koordinierten Bewegungsmuster gefunden zu haben, noch dazu vor der eigenen Haustür – bis die Wachleute kamen und ihn mitsamt Videokamera hinauskomplimentierten. Auf den Datenschutz wiesen sie hin. Auf das Recht am eigenen Bild. Als hätte es der Beobachter auf einzelne Personen abgesehen.
Also entwickelte Moussaid eine Versuchsanordnung: eine Art Computerspiel, in dem er Avatare, auf dem Bildschirm simulierte Stellvertreter, in ein beliebig zu variierendes Gedränge schickt. Die virtuellen Wesen sehen aus wie hölzerne Gliederpuppen, sie lassen sich per Mausklick durch verwinkelte Flure und enge Passagen navigieren, manche drängeln sich vor, Wegweiser leuchten auf – die lebenden Teilnehmer seiner Studien sitzen dabei alle im selben Raum, jeder vor seinem Bildschirm, die anderen Spieler in Sichtweite. Irgendeine Form von Kontakt muss schon bieten, wer Interaktion beobachten will. Es geht um Validität.
Was er herausfand: Die ruckartige, dabei faszinierend synchrone Richtungsänderung eines Schwarms von Heringen ist gar nicht so weit entfernt vom Verhalten von Menschen in größeren Gruppen. Die Bewegung des nächsten Nachbarn ist ein sehr wichtiger Impuls. Einer weiß, wo es langgeht, die anderen folgen. Entschiedenheit im Auftreten überzeugt andere. Massenhysterie entsteht durch Nachahmung. Erhöhte Belohnung, Strafe, ein rot blinkendes Licht oder Zeitdruck erzeugen Stress; wird die Dichte größer, kippt das Gedränge vor einem engen Ausgang schnell um in Panik. Und, klar, je breiter das Tor, desto schneller die Flucht nach draußen. Wieder ruft Moussaid ein Bild auf seinen Schirm. Zu sehen sind zwei Trichter, in die jemand trockenen Reis schüttet, rechts schwungvoll in einem Schwall, links langsam in stetem Fluss. Und während links der Reis ungehindert in die Schüssel rinnt, verstopfen rechts die Körner das enge Rohr.
Ein neuer Film erscheint auf dem Schirm. Schafe, die sich in ihrem Pferch vor einem engen Ausgang drängen. Und tatsächlich: Je heftiger die Tiere angetrieben werden, je größer ihre Angst, desto zappeliger wird das Gedränge. Und desto länger dauert es. „Reine Physik“, sagt Moussaid wieder, aber wer denkt schon an das Reißverschlussverfahren, wenn von hinten tödliche Gefahr droht? Mehdi Moussaid spult die Katastrophen herunter, die alle nach ähnlichem Muster verlaufen sind, Heysel in Belgien, Hillsborough in England, das jüdische Fest Lag baOmer 2021 in Israel: 39 Tote, 97 Tote, 45 Tote.
Das Trauma der Terrorattacken wirkt fort
Aber auch der Terroranschlag im November 2015 in Paris: Rund 1500 Menschen drängten sich in der Konzerthalle Bataclan, als drinnen islamistische Terroristen das Feuer eröffneten. 90 Tote, weitere 40 im Rest der Stadt, Hunderte von Verletzten, kein Entkommen. Und nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätten die Attentäter auch das Fußballstadion Stade de France gestürmt, in dem 80 000 Zuschauer beim Länderspiel Frankreich gegen Deutschland nur den dumpfen Knall detonierender Sprengsätze hörten. Das Trauma der Terrorattacken wirkt bis heute fort. Manchmal ergreifen Menschen die Flucht, weil sie Anzeichen einer neuen Attacke erkannt zu haben glauben, manchmal nur, weil andere wegrennen.
Moussaid ist ein Kommunikator. Er ermittelt seine Befunde nicht nur in konkreten Situationen, er verbreitet sie auch so. Erzählt Geschichten, illustriert sie in anschaulichen, bisweilen heftigen Bildern, sucht nach eingängigen Analogien und hält Vorträge in mitreißender Begeisterung. Er schreibt populäre Bücher und Artikel, tritt gern im Radio auf, produziert Hörbücher und betreibt in seiner Heimat Frankreich einen Youtube-Kanal mit 300 000 Followern. Mal ehrlich: Wendet er seine Erkenntnisse zur Kraft der Überzeugung vielleicht auch auf die eigenen Inhalte an?
Die Wege in Mekka wurden neu konzipiert
Er lacht. Seine Lehrer und Kollegen von früher beraten heute Verkehrsplaner und Architekten. Die Wegeführung in Mekka wurde nach ihren Vorgaben neu konzipiert, ein Kontrollzentrum überwacht Fließgeschwindigkeit und Dichte des Pilgerstroms, Einbahnstraßen teilen ihn auf. Engpässe wurden ausgebaut, Flaschenhälse beseitigt, vor denen die Gläubigen sich aufgestaut hatten wie Reiskörner in einem Trichter. Die Spezialisten drosseln den Zufluss zu Massenveranstaltungen, indem sie Zeitfenster öffnen und wieder schließen. Sie begrenzen den Zutritt oder stellen, scheinbar paradox, ein Hindernis vor einen engen Ausgang, eine Art Wellenbrecher, vor dem die strömende Masse sich teilt, um dann umso leichter hinaus- zugleiten. Das Prinzip ähnelt der Formel, nach der eine Tragfläche berechnet wird, um ein Flugzeug in der Luft zu halten. Und ist auch hier sehr hilfreich bei der Vermeidung von Katastrophen.
Moussaid stößt derweil als Forscher auf das Feld vor, auf dem das Geschehen nicht mehr allein den Gesetzen der Physik folgt, sondern Kognition und adaptive Rationalität die Regie übernehmen. Also bei drei, vier, fünf Personen pro Quadratmeter. „Es ist schon faszinierend“, bestätigt er und zeigt auf die Holzfiguren in seinen virtuellen Labyrinthen: „Die schlichte Anzahl der Menschen bestimmt, welche wissenschaftliche Disziplin die besten Erklärungen und Prognosen liefert.“ Ob die Menschen sich im Gedränge gegenseitig blockieren oder die Freiheit haben, selbst über ihr Verhalten zu entscheiden. Ob sie das eigene Interesse vor das der Gemeinschaft stellen oder einander den Vortritt lassen, weil sie dabei schneller vom Fleck kommen. Kollektive Intelligenz, auch wenn von hinten einer „Feuer!“ schreit. Die Dichte, auch wahrgenommene oder vorweggenommene Dichte, schränkt jede Bewegungsfreiheit ein.
War es wirklich so, dass Napoleon die Bewohner der von ihm unterworfenen Länder zwang, auf die rechte Seite des Weges auszuweichen, wenn sie einander begegneten – damit sie nicht in einer schnellen Bewegung mit der Rechten das Schwert ziehen und gleich zuschlagen konnten? Der Entgegenkommende könnte ja auch ein Soldat der Besatzungsmacht sein. „Hübsche Geschichte“, erwidert Moussaid und lacht wieder. „Aber leider nur ein Mythos. Und nicht totzukriegen.“ Tatsächlich, sagt er, sei die Heuristik, nach rechts oder links auszuweichen, das Resultat eines Lernprozesses im sozialen Umfeld: Man einigt sich, in der einen Gegend auf die eine, in einer anderen auf die andere Seite. Ganz einfach, weil sich Kollisionen anders nicht vermeiden lassen. Die Regeln im Straßenverkehr haben einen gewissen, aber nicht zwingenden Einfluss. In Mitteleuropa, vielfach überprüft und nachgewiesen, hat die überwiegende Mehrheit den Impuls, im Zweifel zur rechten Seite auszuweichen. Schön zu erkennen auf dem kurzen Filmschnipsel aus der Shoppingmall am Alexanderplatz.
Fast zehn Jahre lang schien es, als hätten die Analyse und die Korrektur der Pilgerströme in Mekka eine bis dahin schicksalhafte Kette von Unglücksfällen beendet. Bis zum 24. September 2015. An diesem Tag verursachte irgendeine Störung im Ablauf eine Panik, wie es noch keine zuvor gegeben hatte. Weit mehr als 2000 Tote waren zu beklagen. Lag es daran, dass der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman, wie die iranische Presse später behauptete, eine Sperre errichten ließ, um sich einen bequemen Weg durch die Massen zu bahnen? Moussaid ist skeptisch. Für ihn stößt jeder Versuch von Vorhersage und Vorbeugung irgendwann an eine Grenze. „Solche Ereignisse haben viele Ursachen“, sagt er. „Meistens zu viele, als dass man sie auch nur identifizieren könnte.“