Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik

Über die Kosten und Nutzen des Vorausahnens von Wörtern 

Autoren
Mante S. Nieuwland
Abteilungen
Abteilung "Neurobiology of Language"
Zusammenfassung
Die Fähigkeit, Wörter kontinuierlich vorauszuahnen (Prädiktion) gilt als eine Methode, um gesprochene Sprache schnell mitverfolgen zu können. Doch wie schafft es unser Gehirn, den Inhalt vorherzusagen? Und was sind Kosten und Nutzen dieses Vorgehens? Mit unseren Forschungen möchten wir den Weg zu einem besseren Verständnis des Sprachverstehens ebnen.

Einleitung

Die gesprochene Sprache zeichnet sich durch ein schnelles Tempo von ca. 4 bis 5 Wörter pro Sekunde aus. Das wirftdie Frage auf, wie Zuhörerinnen und Zuhörer da überhaupt mithalten können.  Nach einer verbreiteten Hypothese können Menschen dies deswegen, weil sie voraus ahnen, was als nächstes kommt, und damit auch die Wörter, die als nächstes gesprochen werden. Dieses Vorausahnen - auch als „Prädiktion“ bezeichnet - soll demgemäß kontinuierlich, routinemäßig und implizit stattfinden. Damit ist gemeint: Der Vorgang läuft ununterbrochen ab, erfordert keine bewusste Anstrengung und geschieht ohne einen bewussten Versuch, das nächste Wort zu erraten. Aber welchen Nutzen hat die Prädiktion? Wir am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik beschäftigen uns mit dem vermuteten Nutzen der Prädiktion, aber auch ihren Kosten.

Prädiktion schafft Effizienz

Der Hauptnutzen der Prädiktion ist deren Effizienz. Das bedeutet, dass „mehr erreicht wird mit weniger Anstrengung“. Wir wollen das einmal an einem Beispiel demonstrieren: Eine Freundin erzählt Ihnen eine Geschichte über einen Geburtstag und sagt: „und dann blies das Geburtstagskind die .....“. Die Forschung zeigt, dass Sie in solchen Situationen wahrscheinlich das nächste Wort als „Kerze“ voraussagen, weil Ihnen die Umstände der beschriebenen Ereignisse (ein Geburtstag, etwas wird ausgeblasen) bekannt sind. Dies bedeutet, dass Sie die in Ihrem Langzeitgedächtnis gespeicherte Bedeutung von „Kerze“ aktivierten (also wie eine Kerze aussieht, wofür sie hergestellt wird und wofür sie verwendet wird, usw.), sowie möglicherweise Informationen über das Wort „Kerze“ selbst (wie das Wort klingt, dass es ein Substantiv ist, usw.).

Wenn die Sprecherin nun weiterspricht, erfahren Sie schnell, ob Ihre Vorhersage falsch ist. Wenn zum Beispiel das nächste Wort mit einem „F“ beginnt, war Ihre Prädiktion falsch, wenn es jedoch mit einem „K“ beginnt dann war Ihre Prädiktion richtig. Sie müssen lediglich jegliche Abweichung von Ihrer Prädiktion (so genannter „Prädiktionsfehler“) verarbeiten und möglicherweise daraufhin Ihre Vorhersage ändern. Wenn Sie zum Beispiel ein „F“ hören, könnten Sie vorhersagen, dass das nächste Wort „Flamme“ sein könnte.

Ohne eine Prädiktion von „Kerze“ sagt Ihnen der Anfangsbuchstabe „K“, dass das Wort „Kerze“ sein könnte. Genauso gut könnte das Wort aber auch „Kapitän*in“ oder „Kandidat*in“ sein. Sie müssten demnach warten, bis Sie mehr Informationen haben, um „Kerze“ zweifelsfrei zu erkennen.

Prädiktion ermöglicht Fehlererkennung

Mithilfe der Prädiktion können Sie auch unvollständige oder verzerrte Wörter oder unterschiedliche Aussprachen desselben Wortes schnell erkennen. Nehmen wir einmal an, Ihr/e Gesprächspartner/in würde nuscheln und Sie hören „Korze“. Dank Ihrer Prädiktion von „Kerze“ können Sie die Abweichung als einen Fehler erkennen, anstatt zu versuchen, das Gehörte mit Wörtern zu vergleichen, die mit „Ko“ beginnen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Prädiktion effizient ist, da sie die Menge an neuen Informationen begrenzt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt verarbeitet werden müssen. Außerdem ermöglicht sie die schnelle Verarbeitung auch kleiner Informationsbestandteile, sobald sie verfügbar sind.

Was kostet die Prädiktion?

Das hört sich alles recht gut an. Aber es muss doch bestimmt auch Nachteile geben? Sozusagen die Kosten der Prädiktion? Trotz vieler Forschungsarbeiten kann  man sich in der  Psycholinguistik noch nicht auf eine klare Antwort zu dieser Frage einigen.

Neuere Studien deuten darauf hin, dass eine falsche Prädiktion (wenn z. ‘B. „Flamme“ statt „Kerze“ vorhergesagt wird) zu Verarbeitungskosten führt, die ohne Prädiktion nicht entstehen. Diese Kosten werden beispielsweise bei langsameren Lesezeiten sichtbar. Allerdings ist dieses Thema immer noch ziemlich umstritten, da einige Studien zeigen, dass eine Prädiktion auch dann nützlich sein kann, wenn sie falsch ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn das ausgesprochene Wort eine ähnliche Bedeutung wie das vorhergesagte Wort hat (wie bei der „Kerzenflamme“).

Noch umstrittener ist die Frage, ob der Erzeugungsvorgang der Prädiktion selbst Kosten verursacht. Einige Forscherinnen und Forscherargumentieren, dass die Prädiktion ein separater Gehirnprozess ist, der Stoffwechselkosten verursacht. Dies könnte erklären, warum Prädiktion nicht dauernd und bei allen Menschen geschieht; manchmal sind die geistigen Ressourcen für eine Prädiktion nicht verfügbar. Allerdings wurden die tatsächlichen Stoffwechselkosten noch nicht nachgewiesen. Andere argumentieren, dass die Prädiktion natürlich aus denselben Prozessen entsteht, mit denen wir die Sprache verstehen. In diesem Sinne wäre die Prädiktion dann „kostenfrei“. Prädiktion könnte sich vermindern, wenn das Sprachverständnis nicht völlig reibungslos abläuft. Nach dieser Sichtweise ergibt sich die Stärke einer Prädiktion vor allem durch die Bedeutung, welche die Zuhörerschaft ihr nach dem Zusammenhang beimisst, und nicht so sehr durch eine Schätzung des wahrscheinlichen Prädiktionserfolges. Diese Sichtweise wird durch aktuelle Arbeiten der Abteilung „Neurobiologie der Sprache“ an unserem Institut unterstützt.

Die potenziellen Kosten der Prädiktion sind derzeit in der Psycholinguistik ein Trendthema. Forscherinnen und Forscher versuchen dabei herauszufinden, ob solche Kosten real sind und welche Rolle sie spielen. Dies wird den Weg zu einem besseren Verständnis dafür ebnen, was das Sprachverstehen effizient macht.

Literaturhinweise

Nieuwland, M. S.
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