Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung
Entfremdungsprozesse verstehen
Der Begriff der Spaltung ist gerade in aller Munde. Befürworter von inklusiven, kosmopolitischen Gesellschaftsmodellen werden von Opponenten bezichtigt, „westliche“ Werte zu untergraben. Menschen, die sich für eine Energiewende einsetzen, sehen sich mit dem Widerstand von Mitbürgern konfrontiert, die den Klimawandel als eine von Experten herbeigeredete Krise betrachten. Inmitten der Pandemie beschuldigen Impfgegner und Geimpfte sich gegenseitig, für die Spaltung der Gesellschaft verantwortlich zu sein. Auch wenn diese Debatten unterschiedliche Ausgangspunkte haben, gewähren sie Einblick in gesellschaftliche Fragmentierungsprozesse, die an den Grundfesten liberaler demokratischer Staaten rütteln. Von der Brexit-Bewegung in Großbritannien über Orbans Allmacht in Ungarn bis zum Wiedererstarken der Rassemblement National am rechten Rand des politischen Spektrums in Frankreich – Europa wurde in den vergangenen Jahren von einem politischen Unbehagen erfasst, das Gespräche jenseits der ideologischen Grenzen zunehmend unmöglich erscheinen lässt.
Experten erklären diese Fragmentierungsprozesse mit sozialen und wirtschaftlichen Unsicherheiten einer vom globalen Kapitalismus geprägten Welt oder mit der Mobilisierung dieser Unsicherheitsgefühle durch rechte Parteien. Doch die Frage nach den zugrundeliegenden sozialen Dynamiken bleibt oft unbeantwortet. Woher kommt das tiefe Misstrauen in die Politik? Wie entfremden sich Menschen voneinander, die im selben Land, in derselben Stadt oder demselben Dorf wohnen? Oder andersherum gefragt, was führt zur Entstehung von Zugehörigkeitsgefühlen?
Die Max-Planck-Forschungsgruppe „Alpine Geschichten des globalen Wandels“ geht diesen Fragen auf den Grund, indem sie sich mit der zunehmenden Aushöhlung des Vertrauens in demokratische Institutionen sowie mit der Verbreitung antikosmopolitischer und illiberaler Vorstellungen an den Schnittstellen eines global vernetzten Europas beschäftigt. Das interdisziplinäre Zusammenspiel von Ethnologen und Historikern erlaubt es, soziokulturelle Genealogien von Entfremdungsprozessen nachzuzeichnen. Während der ethnologische Ansatz den Blick für die Mikrodynamiken des sozialen und politischen Zusammenlebens schärft, betten historische Forschungsansätze diese in breitere Transformationsprozesse ein.
Unser empirischer Fokus liegt auf dörflichen Strukturen im deutschsprachigen Alpenraum. Die Regionen, die wir untersuchen, sind einerseits durch lange Traditionen des grenzüberschreitenden Austausches gekennzeichnet, andererseits aber auch durch eine historisch verankerte breite Unterstützungsbasis für antiliberale politische Bewegungen.
In Bergdörfern in Österreich, Südtirol und der Schweiz untersuchen wir, wie Vorstellungen von Zugehörigkeit oder Fremdheit verhandelt und zum Ausdruck gebracht werden. Das mehrmonatige „Eintauchen“ in die Alltagswelten vor Ort erlaubt es uns, Phänomene in ihrer vollen Komplexität zu betrachten und die ungeschriebenen Gesetze, die das soziale Zusammenleben maßgeblich prägen, zu analysieren. Auch wenn die Covid-19-Pandemie diese auf sozialem Austausch basierende Forschungspraxis erheblich erschwert hat, zeigt sich, wie wichtig es ist, die gegenwärtige Umbruchphase nicht nur von medizinischer Seite, sondern auch sozialwissenschaftlich zu erforschen.
Unsere Forschungsorte verzeichnen sehr niedrige Impfraten und ihre Bewohner und Bewohnerinnnen stehen den offiziellen Informationen über das Virus, die Impfung und die Coronamaßnahmen sehr skeptisch gegenüber. So beobachten wir, wie Verschwörungstheorien ihren Weg aus den sozialen Netzwerken ins Alltagsleben finden und wie alternative Ideen über die Pandemie entstehen. Wir können eine Zuspitzung der Verweigerungshaltung bei Impfgegner und -gegnerinnen nachzeichnen, die sich immer stärker mit der Idee identifizieren, Widerstand gegen ein Unrecht zu leisten. Die Alltagstheorien über die Pandemie sind oft widersprüchlich, bruchstückhaft und zusammenhangslos. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie von einem kollektiv geteilten Gefühl getragen werden, dass die politischen Entscheidungsträger gegen ihre eigenen Bürger arbeiten.
Der historische Blick erlaubt es uns, diese Entfremdungsprozesse geschichtlich und gesellschaftlich einzubetten. Das tiefe Misstrauen gegenüber der Politik ist in diesen Regionen keineswegs ein neues Phänomen. Der moderne politische Diskurs im deutschsprachigen Alpenraum ist von einer Protesthaltung geprägt, die sich gegen die in den urbanen Zentren der politischen Macht getroffenen Entscheidungen richtet. In historischen Dokumenten werden unsere Forschungsorte immer wieder als ländliche, rückständige Peripherien beschrieben, was zu einem gebrochenen Verhältnis zu den Machtzentren führte. Diese Kluft zwischen Stadt und Land ist ein zentrales historisches Motiv, das auch in der Pandemie eine wichtige Rolle spielt. Es führt zur Selbstbeschreibung der Bewohner von Bergdörfern als stolze, unabhängige Verfechter eines „gesunden Menschenverstands“, konzipiert als Gegenstück zu wissenschaftlich fundierten Wissensformen. Wie wir zeigen können, führt diese Widerstandshaltung gegenüber Regeln und Veränderungserwartungen, die liberale Stadteliten der Landbevölkerung auferlegen, zur Etablierung von antiliberalen und antikosmopolitischen Weltansichten.
Auch wenn es noch zu früh ist, ein abschließendes Fazit zu ziehen, lässt sich bereits jetzt feststellen, dass die Erforschung von Entfremdungsprozessen auf der Mikroebene zentrale Einblicke in Fragmentierungsprozesse ermöglicht, die sich in zunehmendem politischem Unmut ausdrücken. Das Zusammenspiel von ethnologischer und historischer Forschung erlaubt es, die sozialen, kulturellen und historischen Dynamiken, die diese Entfremdungsprozesse antreiben, besser zu verstehen.