Wenig Vielfalt in Verbänden

Zivilgesellschaftliche Organisationen binden Menschen mit Migrationsgeschichte noch nicht gleichberechtigt ein

15. November 2021

Die Deutsche Aidshilfe, die Lebenshilfe, die Gewerkschaft Verdi, der Lesben- und Schwulenverband – das sind Beispiele für Organisationen in Deutschland, die sich in gesellschaftliche Diskussionen einmischen, um die Interessen ihrer Mitglieder zur Geltung zu bringen. Ein Forschungsteam koordiniert vom Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften hat diese vier zivilgesellschaftlichen Organisationen auf die Frage untersucht, ob sie es geschafft haben, Menschen mit Migrationsgeschichte gleichberechtigt einzubeziehen. Das Ergebnis: Es gibt durchaus noch Luft nach oben.

Egal, ob es um Klimaschutz, die Patientenrechte, die Interessen von Kulturschaffenden oder um Mieteranliegen geht – zivilgesellschaftliche Organisationen haben einen Einfluss darauf, welche Themen in Gesellschaft und Politik gehört und etwa in Gesetzen berücksichtigt werden. Die Gesellschaft in Deutschland ist dabei in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer vielfältiger und internationaler geworden. Nach Angaben des statistischen Bundesamts haben rund ein Viertel der Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund.

Ob und wie sich zivilgesellschaftliche Organisationen darauf eingerichtet und ihrerseits verändert haben, ob sie offen sind für Menschen mit Migrationsgeschichte und deren Forderungen vertreten, hat ein Forschungsteam im Rahmen des Projekts ZOMiDi untersucht. ZOMiDi steht für „Zivilgesellschaftliche Organisationen und die Herausforderungen von Migration und Diversität“. An dem Forschungsprojekt waren neben dem Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen die Ludwig-Maximilians-Universität in München und die Humboldt-Universität in Berlin beteiligt.

Das Forschungsteam hat sich beispielhaft vier Organisationen angesehen, die für die Interessen von Menschen mit einer Behinderung, von Arbeitnehmenden, von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten und von Menschen eintreten, die aufgrund einer Krankheit potenziell diskriminiert werden: die Deutsche Aidshilfe, die Lebenshilfe, die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi sowie der Lesben- und Schwulenverband. „Wir haben diese Organisationen bewusst ausgewählt, weil sie jeweils eine benachteiligte Gruppe vertreten und daher sensibel sein sollten für andere Benachteiligungen, wie solche, die mit Migration und Rassismus zusammenhängen“, erklärt Projektmitarbeiterin Vanessa Rau, Postdoktorandin am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen.

Kein aktives Werben um Mitglieder mit Migrationsgeschichte

Und tatsächlich kommt das Forschungsteam zu dem Ergebnis: Alle vier im Projekt untersuchten Verbände waren und sind zunächst einmal offen dafür, Eingewanderte aufzunehmen und zu vertreten. Allerdings stellten die Forschenden fest, dass sich die Organisationen nicht kontinuierlich darum bemühten, Menschen mit Migrationshintergrund als Mitglieder zu gewinnen. Nicht überall gibt es den Erkenntnissen zufolge Abteilungen oder Verantwortliche, die dafür sorgen, dass die Anliegen von Menschen mit Migrationsgeschichte wirkungsvoll in die Arbeit eingebracht werden. Wenn vorhanden, sind sie unzureichend ausgestattet.

„Keine der untersuchten Organisationen hat es geschafft, Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte gleichermaßen einzubeziehen und dafür zu sorgen, dass Eingewanderte gleichberechtigt mitreden können“, bilanziert Koordinatorin Karen Schönwälder, Forschungsgruppenleiterin am Göttinger Max-Planck-Institut. So sind sie vor allem in Vorständen und meist auch unter den Mitgliedern unterrepräsentiert. Nur in der Gewerkschaft Verdi sind Menschen mit Migrationshintergrund vermutlich entsprechend ihrem Anteil unter den Beschäftigten im Dienstleistungssektor vertreten. Doch auch hier sind Vorstandsmitglieder mit Migrationshintergrund selten.

„Keine der vier Organisationen verfügt über ein Konzept zur Herstellung von mehr Vielfalt unter ihren Beschäftigten“, stellt Projektmitarbeiterin Sanja Bökle fest. Aus allen Organisationen wird von Rassismus und Diskriminierungserfahrungen berichtet. Insgesamt sind also Menschen mit Migrationsgeschichte in den vier untersuchten Organisationen trotz einiger Öffnungsschritte noch unzureichend beteiligt und viel zu wenig in wichtigen Positionen vertreten.

Öffentliche Debatten beeinflussen auch Organisationen

Das Forschungsteam hat auch die Faktoren untersucht, die für eine Öffnung zivilgesellschaftlicher Organisationen für Menschen mit Migrationsgeschichte entscheidend sind. Zum einen ist das Selbstverständnis der Organisationen wichtig. „Je offener eine Organisation für Diversität ist – wenn sie sich wie der Lesben- und Schwulenverband als Teil einer Allianz für Bürgerrechte sieht oder wie die Deutsche Aidshilfe als ein Bündnis der potenziell Stigmatisierten – desto offener ist sie auch für Menschen mit Migrationsgeschichte“, so Karen Schönwälder.

Weiterhin sind die Interessen der Organisation entscheidend. Ist sie darauf aus, Mitglieder zu gewinnen, wirbt sie eher auch um eingewanderte Menschen und ist eher bereit, eventuelle Barrieren zu beseitigen. Außerdem haben andere Akteure im Umfeld der Organisationen Einfluss auf deren Handeln. „Wenn es beispielsweise eine Debatte über Rassismus gibt, steigt die Erwartungshaltung, dass auch die Organisationen gegen Rassismus aktiv werden“, erläutert Karen Schönwälder. Und schließlich können migrantische Mitglieder und deren Netzwerke selbst eine entscheidende Rolle spielen. Fehlen sie, ist Veränderung weniger wahrscheinlich. Wo sie präsent sind, können Mitglieder mit Migrationsgeschichte mit ihren Erfahrungen wesentliche Anstöße geben und in Netzwerken Druck machen für gleichberechtigte Mitsprache.

Von all diesen genannten Faktoren hängt ab, ob sich zivilgesellschaftliche Organisationen in Deutschland in den nächsten Jahren stärker für die migrantische Bevölkerung öffnen werden, deren Interessen besser vertreten und Rassismus aktiv angehen. „Wenn es gut läuft, leistet auch unser ZOMiDi-Projekt einen kleinen Beitrag zu entsprechenden Veränderungen“, so Karen Schönwälder. Das Forschungsteam möchte mit seinen Ergebnissen auch der sozialwissenschaftlichen Forschung einen Impuls geben, sich mehr mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und deren Diversität zu beschäftigen, um in Zukunft besser zu verstehen, wie sich solche zentralen Akteure in unserer Gesellschaft entwickeln und wie dort Partizipationschancen blockiert werden oder aber sich erweitern lassen.

 

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