Wenn Staaten versinken

Die Malediven, Kiribati, Tuvalu oder Teile der Salomonen: Wenn der Meeresspiegel weiterhin ansteigt, werden mehrere Inselstaaten binnen weniger Jahrzehnte im Meer verschwinden. Die Einwohner werden heimatlos – bisher ohne Chance auf Asyl oder Ersatzterritorium. Der Jurist Tom Sparks vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht sucht Lösungen für untergehende Staaten.

Können Staaten sterben, Herr Sparks?

Tom Sparks: Sie werden! Tuvalu im Südwesten des Pazifiks zählt zu den fünf Inselreichen, die binnen weniger Jahrzehnte untergehen werden, wenn die Klimaerwärmung weiterhin ungebremst bleibt. Der letzte Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) der Vereinten Nationen geht davon aus, dass der Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um zwei Meter steigen wird. Auf den zu Tuvalu gehörenden Inseln liegt der höchste Punkt gerade einmal fünf Meter über dem Wasser.

Welche Inselstaaten sind betroffen? 

Bedroht sind Inselstaaten, deren Höhe im Durchschnitt weniger als zwei Meter über dem Meeresspiegel beträgt. Das sind derzeit Kiribati und die Marshallinseln im Pazifik, die Malediven im Indischen Ozean – und eben Tuvalu. In Mikronesien sind bereits erste Inseln verschwunden. Daneben werden auch deutsche, amerikanische oder australische Inselgebiete in wenigen Jahrzehnten vom Meer verschluckt werden.

Gibt es keine Regeln für sinkende Staaten? 

Leider nein. Wir haben im Völkerrecht eine rechtliche Vermutung, dass Staaten niemals sterben. Ein Staat muss allerdings nicht zwingend dauerhaft in derselben Form existieren. Staaten können ersetzt werden, wie zum Beispiel Rhodesien durch Simbabwe auf demselben Territorium oder die UdSSR durch Russland, zumindest für einen Teil des ehemaligen Territoriums, oder die DDR nach der Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik. Damit sind Rhodesien, die UdSSR und die DDR zwar sozusagen verschwunden, aber es gibt Nachfolgestaaten, also Völker und Regierungen auf denselben Territorien. Wenn aber Staaten aufgrund des menschengemachten Klimawandels ihr Staatsgebiet verlieren, ist das eine ganz andere Art des Verschwindens. Dafür gibt es weder einen Präzedenzfall noch eine Lösung.

Ein Staat existiert also nur, wenn er auch ein Staatsgebiet hat? 

Bislang halten wir an einem Staatsbegriff fest, der aus dem Jahr 1900 stammt. Gemäß der sogenannten Drei-Elemente-Regel von Georg Jellinek sind Bevölkerung, Regierung und Territorium zwingende Merkmale jedes Staates. Demnach bliebe von den Inselstaaten nicht mehr als eine Interessengruppe oder eine Fiktion, sobald sie ihr Territorium verloren haben.

Versinkt der Staat im Meer, werden seine Bewohner heimatlos. Welche Möglichkeiten haben sie, sich neu anzusiedeln? 

Die Inselbewohnerinnen und -bewohner sind die Leidtragenden des Klimawandels und genießen als Staatenlose einen nur sehr geringen Schutz. Es gibt keine Pflicht, sie aufzunehmen. Ihre Aussicht auf Asyl ist gering: Als Flüchtling gilt im Völkerrecht jemand, der flieht, da er wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen überzeugung verfolgt und bedroht wird. Menschen, die aus persönlichen oder materiellen Notlagen – Hunger, Krieg oder Zerstörung der Umwelt – fliehen, zählen leider nicht dazu.

Gibt es ein Recht auf ein neues Staatsgebiet? 

Nein. Die Frage ist ja: Wer soll verpflichtet werden, ein neues Staatsgebiet zur Verfügung zu stellen? Innerhalb eines Inselstaats kann die Regierung sichereren Wohnraum auf höher liegenden Teilen des Staatsgebiets bereitstellen – zumindest wenn es solche gibt. Aber ein Land wie Tuvalu kann nicht etwa Gebiete von den Fidschiinseln oder Australien fordern, weil sein Territorium schwindet.

Der Staat Kiribati hat für seine etwa 100 000 Einwohner bereits Ersatzland auf den Fidschiinseln gekauft. Ist das eine gute Lösung? 

Die Inselstaaten verhandeln sehr aktiv über neue Siedlungsräume. Auch Tuvalu sucht ein neues Staatsgebiet. Wenn Tuvalu aber etwa mit Australien darüber verhandelt, wird Australien vielleicht Grundstücke anbieten, aber keinen Staat im Staate dulden. Wo immer die Tuvaluer unterkommen, es wird ein Teil Australiens sein – mit allen Konsequenzen wie australischem Recht und australischen Steuerregeln.

Damit gewinnen Bewohner Land, verlieren aber ihre Souveränität. 

Korrekt. Mit Ausnahme der Hohen See, der Antarktis und einiger umstrittener Gebiete gilt jeder Teil der Erdoberfläche als Territorium eines souveränen Staates, über das er allein seine Souveränität ausüben kann. Wir müssen Lösungen finden, damit auch die betroffenen Inseln als kleinste Staaten der Welt unabhängig und eigenständig überleben können, auch wenn ihr Gebiet physisch nicht mehr existiert.

Tuvalu plant seinen Fortbestand im Internet, sollte das Meer weiter ansteigen. Ein virtueller Staat – ist das die Lösung? 

Meines Erachtens eher nicht. Es gibt zwar Ideen, einen digitalen Zwilling im Metaversum nachzubauen, also in einer virtuellen Welt. Solche Ideen sind wichtig für das kulturelle Leben und überleben eines Volkes, ersetzen aber nicht den Staat im rechtlichen Sinne.

Daneben wird auch diskutiert, die Existenz der Inselstaaten über deren maritime Rechte zu sichern. Wie geht das?

Dabei sollen die Grenzen der Meereszonen eines Staates in ihrer derzeitigen Ausdehnung „eingefroren“ werden. So könnte ein vertriebener Staat zumindest weiterhin von den natürlichen Ressourcen des Meeres profitieren – oder im schlimmsten Fall auf Grundlage seiner Souveränität über das maritime Gebiet weiterbestehen. Das allein ist aber keine befriedigende Lösung.

Was wäre also besser? 

Wir brauchen zuerst schnelle Lösungen für die Klimakrise, damit es gar nicht erst zum Untergang der Staaten kommt. Klimabedingte Vertreibungen werden zunehmen: Laut Berichten der Weltbank werden allein in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara, in Südasien und Lateinamerika bis 2050 mehr als 143 Millionen Menschen betroffen sein. Die Vereinten Nationen schätzen, dass ein globaler Temperaturanstieg von drei bis vier Grad schon durch überschwemmungen 330 Millionen Menschen vertreiben wird. Mehr als eine Milliarde Menschen weltweit leben bereits in Slums, an empfindlichen Berghängen oder in Uferregionen mit hohem überschwemmungsrisiko. Wir müssen die internationale Rechtsstruktur an die Auswirkungen der Erderwärmung anpassen.

Wie kann das gelingen? 

Wir müssen über die Territorialität hinausblicken und das Konzept der Staatlichkeit neu denken. Es ist ein bisschen schwer, sich das vorzustellen. Staaten erscheinen uns absolut fest und unveränderlich, aber das Verständnis, was einen Staat ausmacht, hat sich schon mehrfach geändert. Wir sehen zum Beispiel den Staat nicht mehr als persönliches Eigentum des Königs – selbst in den Staaten, die noch Königshäuser haben. Und der Staatsbegriff wird sich auch in Zukunft weiterentwickeln, wenn wir unser Denken verändern. Staaten sind eine soziale Struktur, die durch soziale Aktivitäten geschaffen und aufrechterhalten werden. Dieser Gedanke sollte künftig das Staatsverständnis prägen, wir dürfen nicht länger am Gebiet als Voraussetzung für das Bestehen eines Staates festhalten.

Kommt das nicht einem Bruch mit bestehenden Ansichten gleich?

Vielleicht. Doch wir müssen auch die Herausforderungen unserer Epoche erkennen. Wir leben längst nicht mehr im Holozän, in dem Umwelt und Klima von äußeren Umständen wie Asteroideneinschlägen, seismischer und vulkanischer Aktivität geprägt wurde. Mittlerweile leben wir im Anthropozän, einer neuen globalen Epoche, in welcher der Mensch die zentrale Rolle für die Entwicklung von Umwelt und Klima spielt. Unser Lebensstil lässt CO2-Emissionen ansteigen. In der Folge wandelt sich das Klima und ruft immer schwerere Wirbelstürme, Dürren, überschwemmungen, Hitze- und Kältewellen sowie Flächenbrände hervor. Gletscher schmelzen, der Meeresspiegel steigt, Ozeane versauern, Böden versalzen und Grundwasserspiegel sinken. Diesen Umständen kann das Jellinek’sche Territorialitätsprinzip im Recht nicht mehr Rechnung tragen.

Was macht dann einen Staat aus?

In erster Linie seine Selbstbestimmung. Es braucht eine Gruppe, das Volk, und eine Regierung aus der Gruppe, die das Volk führt. Das Staatsgebiet ist ein Mittel, um diese Selbstbestimmung umzusetzen: Klare Gebietsgrenzen helfen, die Regeln für eine bestimmte Gruppe aufrechtzuerhalten. Was ein Staat ist, entscheidet jedoch nicht die geografische Linie im Sand, sondern die Existenz einer Gemeinschaft. Tuvalu hat eine Regierung, und es gibt 11 000 Tuvaluer, die sich diesem Staat zugehörig fühlen. Sie wollen nicht Australier oder Fidschianer werden, sondern ihre Identität behalten. Das muss ein modernes Völkerrecht erkennen und würdigen.

Reicht es also, dass die UN- Vollversammlung sagt, Tuvalu besteht weiter – auch ohne Territorium? 

Das kann man nicht mit Sicherheit sagen, aber zweifellos würde das einen Beitrag leisten. Allerdings sind noch viele Fragen ungeklärt. Das sind wichtige Forschungsfragen. Wir müssen die Zeit nutzen, um Lösungen zu erarbeiten für die Staaten, deren Lebensgrundlage der Ozean ist. Nicht umsonst haben sie sich einen neuen Gruppennamen gegeben: „Large Ocean States“.

Und diese Staaten sind sehr aktiv. Die Inselrepublik Vanuatu hat jüngst einen wichtigen Erfolg erzielt: Auf ihren Antrag hin hat die UN-Vollversammlung den Internationalen Gerichtshof (IGH) eingeschaltet.

Wir erwarten davon eine Reihe von Antworten auf wichtige rechtliche Fragen. Vanuatu hat mit siebzehn weiteren Antragstellern und 132 Unterstützerstaaten den IGH um eine Stellungnahme gebeten, welche völkerrechtlichen Verpflichtungen Staaten zum Schutz des Klimas haben und welche rechtlichen Folgen sich ergeben, wenn Staaten das Klima nicht ausreichend schützen. Ich als Klimajurist finde das extrem spannend! Eine solche Stellungnahme könnte einen enormen Beitrag leisten zu unserem Verständnis, welche Pflichten Staaten im Umgang mit dem Klimawandel haben. Meiner Meinung nach schuldet die Welt Vanuatu großen Dank, besonders den Jugendaktivisten, die die Kampagne für das Gutachten gestartet und zu einem positiven Abschluss gebracht haben.

Auch in Hamburg beschäftigen sich Richter mit dem Klimawandel …

Der Internationale Seegerichtshof in Hamburg wird alsbald in einem Gutachten klären, welche Seerechte untergegangene Staaten haben. Das könnte auf wichtige Fragen zum Fortbestand der Meereszonen Antworten geben und den Druck auf Regierungen weltweit erhöhen, mehr für den Klimaschutz zu tun.

Wie lange haben wir noch Zeit?

Nicht viel! Sehr bald wird sich zeigen, ob unsere Anstrengungen, die Erderwärmung zu stoppen, fruchten: In den nächsten fünf bis zehn Jahren werden wir ganz klar sehen, ob wir einen relativ sicheren Pfad eingeschlagen haben und den Klimawandel stoppen oder ob wir direkt in die Katastrophe fahren – ökologisch und menschlich. Wir stehen angesichts des Klimawandels vor einer unvorstellbaren Migrationswelle, nicht nur aus wenigen Inselstaaten. Und dann wird die Migration alle Länder treffen, auch die, die weit weg von Polynesien sind. Jetzt haben wir noch Zeit, etwas zu ändern!

Das Interview führte Michaela Hutterer.

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