Wirkstoffe mit unerwartetem Effekt

Viele in der Medizin eingesetzte Substanzen beeinflussen den Cholesterin-Haushalt

Am Anfang der Entwicklung eines jeden innovativen Medikaments steht die Suche nach einem Wirkstoff, der gezielt die Schlüsselmoleküle von Krankheiten angreift. Doch das perfekte Medikament, das nur das eine Ziel im Körper ausschaltet, gibt es nicht: keine Wirkung ohne Nebenwirkung. Forschende um Herbert Waldmann und Slava Ziegler am Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie in Dortmund haben nun verschiedene Strategien zur Wirkstoffsuche kombiniert und so für eine Gruppe von bereits bekannten Wirkstoffen eine unerwartete Wirkung identifiziert. Dazu zählen beispielsweise das Neuroleptikum Zotepin, die beiden Krebsmedikamente Ponatinib und Nemiralisib sowie das Multiple Sklerose-Medikament Ozanimod. Sie stören allesamt den Cholesterinstoffwechsel. Auf diese Weise könnten sie auch den Verlauf einer Sars-CoV-2-Infektion beeinflussen.

Für eine zielgerichtete Wirkstoffentwicklung untersuchen Forschende Verbindungen in riesigen Substanzbibliotheken im Hochdurchsatzverfahren auf ihre Wirkung auf Zielmoleküle, meist Proteine. Die chemische Struktur der identifizierten Substanzen wird anschließend zu Leitstrukturen optimiert, die bereits in geringen Dosen wirksam sind und gut im Körper aufgenommen und verteilt werden. Dieses Vorgehen kann neue Wirkstoffkandidaten identifizieren, die meist die Funktion der Zielproteine oder ihre Interaktion mit anderen Proteinen verhindern. Jedoch greifen die gefundenen chemischen Substanzen sehr häufig auch andere, verwandte Proteine an, die eine ähnliche Funktion oder Struktur haben. „Es kommt nicht selten vor, dass ein zunächst Erfolg versprechender Wirkstoffkandidat erst spät in der langjährigen Entwicklung schwerwiegende Nebenwirkungen zeigt und somit der klinische Einsatz eingeschränkt oder gar verhindert wird“, sagt Slava Ziegler.

Um möglichen Nebenwirkungen von potentiellen Wirkstoffkandidaten auf die Spur zu kommen, wird bei der Wirkstoffentwicklung in einer Reihe von Testverfahren ihre Wirkung auf bekannte Proteinklassen, biologische Prozesse und bestimmte Zelleigenschaften untersucht. Da jedoch die Anzahl der bekannten Zielmoleküle in der Zelle begrenzt ist, können auch diese Testverfahren nur die erwartete Bioaktivität wiedergeben. Sogenannte Profilierungs-Ansätze bieten mittlerweile die Möglichkeit, ein größeres Wirkspektrum einer Substanz zu erfassen. Bei diesen unvoreingenommenen Testverfahren werden simultan hunderte zelluläre oder genetische Parameter in einem Profil erfasst, das mit Profilen von Referenz-Wirkstoffen mit bereits bekannten Wirkungen verglichen wird.

Wenn die Wirkstoff-Profile übereinstimmen

In ihrer neusten Forschungsarbeit hat die Gruppe um Herbert Waldmann und Slava Ziegler zwei Profilierungsansätze kombiniert, um bioaktive Substanzen aus einer Substanzbibliothek mit ca. 15000 Naturstoff-inspirierten Molekülen zu identifizieren und sie mit den Profilen von bekannten Wirkstoffen zu vergleichen. Auf diese Weise konnten die Forschenden eine Gruppe von Substanzen mit ähnlichen Profilen identifizieren und diese auf eine für die meisten Referenzsubstanzen ungeahnte biologische Aktivität eingrenzen: die Fehlregulation des Cholesterin-Haushalts. Von den rund 450 charakterisierten Substanzen in dieser Gruppe haben die Forschenden 27 näher untersucht, darunter das Neuroleptikum Zotepin, die beiden Krebsmedikamente Ponatinib und Nemiralisib sowie das Multiple Sklerose-Medikament Ozanimod.

Doch wie können so viele Substanzen, die unterschiedlichste Zielmoleküle im Körper angreifen, die gleiche Wirkung auslösen? Die Forschenden konnten zeigen, dass die meisten Substanzen des Clusters im Lysosom akkumulieren, einem Organell, in dem das Cholesterin für seine weitere Funktion in der Zelle zwischengelagert wird. Das Lysosom besitzt einen niedrigeren pH-Wert als der Rest der Zelle Dieser ist von entscheidender Bedeutung für das Funktionieren der lysosomalen Verdauungsenzyme, die fremde und eigene Biomoleküle verarbeiten. Im Lysosom erhöhen die Substanzen aus der beschriebenen Gruppe den pH-Wert und stören somit die Funktion dieses Organells und insbesondere den Cholesterin-Haushalt der Zelle.

„Interessanterweise wurde ein gestörter Cholesterinhaushalt bereits mit einigen auf dem Markt erhältlichen Medikamenten in Verbindung gebracht, wie z. B. Psychopharmaka“, stellt Tabea Schneidewind fest, Erstautorin der Studie. „Mit der Kombination der beiden Suchstrategien können wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: dem Grund für Nebenwirkungen auf die Spur kommen und neue Wirkstoffe und Wirkmechanismen identifizieren“, fasst Slava Ziegler zusammen.

Cholesterinhaushalt könnte Sars-CoV2-Infektionen beeinflussen

Eine Beeinflussung des Cholesterinhaushalts scheint eine häufige Wirkung vieler Substanzen zu sein und sollte bei der Bewertung von Nebeneffekten von Wirkstoffen berücksichtigt werden. Die beobachtete Aktivität ist jedoch nicht per se unerwünscht. Derzeit werden bekannte Wirkstoffe auf die Hemmung der Sars-CoV-2-Infektion von Wirtszellen untersucht. „Viele Wirkstoffe aus unserem Cluster sind in verschiedenen Studien als Sars-CoV-2-Hemmer identifiziert worden. Interessanterweise zeigen andere Forschungsergebnisse, dass Membrancholesterin und somit eine unbeeinträchtigte Cholesterinhomöostase wichtig für die Corona-Virus-Infektion sind. Unsere Daten erklären womöglich den Grund für die Wirkung dieser Substanzen gegen Sars-CoV-2: Sie verändern die Biosynthese und Verteilung von Cholesterin in der Zelle, was die Virusinfektion stört“, betont Slava Ziegler.

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht