"Zeitenwende im internationalen Steuerrecht"
Wenn sich am 14. Oktober die G20-Finanzminister treffen, verhandeln sie über einen Paradigmenwechsel im internationalen Steuerrecht: Welcher Staat darf künftig Konzerngewinne besteuern, die nicht nur Tech-Giganten wie Amazon oder Google erwirtschaften, sondern nahezu jedes international operierende Unternehmen? Kaum jemand kennt das 500-Seiten-starke Entwurfspapier so gut wie Wolfgang Schön vom Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen. Im Interview erklärt er das Jahrhundertprojekt und legt auch dar, woran es scheitern kann.
Experten aus fast 140 Ländern erarbeiten im Auftrag der OECD eine neue Weltsteuerordnung mit ehrgeizigen Zielen: Transparenz, Steuergerechtigkeit, Abhilfe gegen digitale Steuerflucht sowie Teilhabe weniger bevorteilter Länder. Ist das zu schaffen, Professor Schön?
Wolfgang Schön: Die Zielvorgaben sind enorm – ebenso wie der Zeitplan. Bis Jahresende soll eine „konsensfähige Lösung“ ausgearbeitet worden sein, die jedoch nur die grobe Linie klärt. Vergessen Sie nicht: Wir haben einen aktiven Steuerwettbewerb, in dem verschiedene Staaten nicht nur besonders viel vom Kuchen für sich abschneiden wollen, sondern vielfach auch mit besonders geringen Steuerlasten versuchen, Investitionen anzulocken. Es ist eher ein großes Spiel mit vielen Akteuren, die jeweils das Beste für sich herausholen wollen.
Welche Kernfragen will die Reform klären?
Aktuell steht die Reform auf zwei Säulen: Bei der ersten geht es um die Frage, welcher Staat Konzerngewinne vor allem von hochdigitalisierten Konzernen wie Apple, Google, Amazon oder Facebook besteuern darf – die Besteuerungsrechte sollen zwischen Produktionsländern und Marktstaaten neu verteilt werden. Die zweite Säule will eine globale Mindestbesteuerung einführen – als Waffe gegen Steuerdumping und Steueroasen.
Gibt es überhaupt eine „alte Weltsteuerordnung“?
Nicht im Sinne eines globalen völkerrechtlichen Vertrages. Wir haben aber ein Netz von etwa 3000 internationalen Verträgen, sogenannten Doppelbesteuerungsabkommen, die souveräne Staaten seit mehr als 100 Jahren untereinander geschlossen haben. Das erste dieser Abkommen wurde übrigens in Deutschland vor mehr 150 Jahren zwischen Preußen und Sachsen geschlossen. Das Modell hat sich weltweit durchgesetzt. Seit den 1920er-Jahren hat sich dabei ein eherner Grundsatz herausgebildet: Man wird dort besteuert, wo man physisch präsent ist oder eine Niederlassung unterhält, also eine Betriebsstätte oder eine Tochtergesellschaft. Nur: Diese Welt existiert so nicht mehr.
Wie das?
Apple, Google oder Amazon können von Kalifornien aus die ganze Welt mit Dienstleistungen beliefern – ohne auch nur irgendwo einen Fuß über die Grenze zu setzen. Und das hat die Frage aufgeworfen: Brauchen die Staaten diese physische Präsenz der Unternehmen, um Gewinnsteuern zu generieren? Die Antwort der neuesten Entwürfe lautet: Nein!
Bleibt die Frage: Wie teile ich den Gewinn auf? Was gilt zwischen dem Produktionsland, etwa Kalifornien, wo die Server laufen, wo die Algorithmen entwickelt werden, wo die Manpower das Vertriebssystem organisiert und den Orten und Ländern, wo die Kunden sitzen, die Werbekunden, die „User“ und andere, die von den Leistungen des Anbieters Gebrauch machen - die „Marktländer“. Diese Frage ist noch nicht geklärt.
Gibt es keine anderen Möglichkeit für Marktländer, am Erfolg digitaler Konzerne teilzuhaben?
Hinsichtlich der Gewinnsteuern: nein. Aber es gibt freilich andere Quellen. Alle Marktstaaten könnten digitale Leistungen mit der Umsatzsteuer – gemeinhin „Mehrwertsteuer“ genannt – belasten. Das ist ein erhebliches Volumen, davon ist in der Vergangenheit viel zu wenig Gebrauch gemacht worden. Man könnte diesen Zugriff schon jetzt ausweiten, doch dieser Pfad ist nicht im Fokus der internationalen Politik.
Hat die Reform nur Tech-Giganten im Blick?
Im Ausgangspunkt ging es um hochdigitalisierte Unternehmen, die Plattformen bereitstellen – ob Buchungsportale oder soziale Netzwerke, Suchmaschinen oder Videoplattformen. Diese Konzerne bieten automatisierte Dienstleistungen an, bei denen der User im Kunden- oder Marktstaat, ob in Deutschland oder in Indien, die meisten Arbeiten vollbringt. Daher will man diese Leistungen nun auch im Kundenstaat besteuern. Fraglich ist zudem, ab welcher Unternehmensgröße die geplanten Regelungen greifen: Nur solche mit mehr als 750 Millionen Euro Umsatz, wie es bislang diskutiert wird?
Freilich lehnen die USA eine Reform ab, die ausschließlich ihre Digitalkonzerne in den Blick nimmt. Entwicklungs- und Schwellenländer indes wollen zunehmend partizipieren. Das führt zu einer Ausdehnung auf andere international tätige Unternehmen. Klassische Industrieländer wie Deutschland indes wollen nicht jede Exportleistung mit dieser neuen Form von Steuern belastet wissen. An dieser Stelle kann das ganze Vorhaben scheitern.
Welche Branchen sollen betroffen sein?
Der neueste Vorschlag erstreckt die neuen Regeln auf Konsumgüter, das „consumer facing business“. Betroffen wären alle Unternehmen, die etwa über die Schaffung von Marken, über Werbekampagnen oder besondere Vertriebssysteme ihre Waren an den Kunden bringen. Das wäre dann etwa nicht Siemens, wenn sie ein Kraftwerk oder eine Fertigungsanlage in Indien bauen, aber etwa Daimler und BMW, wenn sie ihre Autos in China verkaufen.
Sie kritisieren vielfach die Systematik, die durchbrochen wird. Welche Probleme sehen Sie?
Diese neuen Weltsteuerregeln sind nicht nur sehr kompliziert, sondern sie erfordern eine Koordinierung – nicht nur zwischen zwei Staaten wie bisher, sondern zwischen allen Staaten, in denen ein Unternehmen aktiv ist. Das ist enorm anspruchsvoll. Beispiel: Wenn man in Zukunft einen Teil des weltweiten Gewinns eines Konzerns nach Marktanteilen besteuert, dann müssen sich alle Staaten, in denen das Unternehmen aktiv ist, auf einen gemeinsamen Schlüssel einigen. Schließlich sieht die Reform eine weltweite Mindestbesteuerung vor. Unabhängig davon, wo nun Gewinne besteuert werden, soll eine bestimmte Steuerlast nicht unterschritten werden. Und das betrifft auch das Wettbewerbsverhalten von Staaten. Dieser Aspekt ist vor allem der Bundesregierung wichtig, weil man eine Verlagerung in Steueroasen fürchtet.
Welche Vorschläge macht Ihr Institut?
Wir schlagen vor, nicht allgemein auf wolkige Begriffe wie „Marktpräsenz“ oder „Kundenstaat“ abzustellen. Gewinnsteuern sind letztlich Steuern auf das investierte Kapital. Dabei geht es nicht um die physische Investition, etwa den Fabrikstandort. Darauf kommt es in einer digitalen Welt nicht mehr an, sondern darauf, in welche Staaten und Märkte ein Unternehmen Kapital investiert: Welchen Kunden stellt es Netzwerke zur Verfügung, für wen stellt es Server auf? Es erscheint uns sinnvoll, die konkret auf einen nationalen Markt entfallenden Investitionen zu berechnen und die darauf entfallenden Gewinne zu versteuern. Diese Vorgehensweise bleibt im System und schafft keine steuerliche Parallelwelt – eine Idee, die übrigens die Digitalkonzerne interessant finden.
Reagiert die Reform auch auf die aktuellen Gewinneinbrüche, die die Covid-19-Pandemie Unternehmen beschert?
Die Pläne der vergangenen Jahre gehen immer von hochprofitablen Unternehmen aus. Jetzt kommen wir in eine Situation, in der breitflächig Verluste auftreten. Und diese Frage ist hochumstritten und muss geklärt werden: Wie werden die Verluste verteilt? Müssen Marktstaaten, die etwa ein Prozent des Gewinns haben wollen, auch einen Prozent Verlust akzeptieren?
Welche Rolle spielen die USA in diesen Verhandlungen?
Die USA haben sich in den letzten Jahren aus vielen internationalen Abkommen zurückgezogen, sei es das Pariser Klimaabkommen oder die WHO. Sie torpedieren systematisch die Welthandelsorganisation. Sie haben in steuerlichen Foren in den letzten Jahren zwar intensiv mitberaten und auch Vorschläge mitgetragen, sie haben sich aber ungern rechtlich gebunden. Auch zu den aktuellen Plänen halten sie sich die Ausstiegsoption offen.
Was passiert, wenn es zu keiner Einigung kommt?
Die alten bilateralen Steuerabkommen bleiben in Kraft. Sie bringen ja eine große Stabilität in Steuerfragen – trotz aller Unzufriedenheit. Es wird aber Reaktionen geben: die Zahl der Staaten, die unilateral Digitalsteuern einführen, wird steigen – was eine Reaktion der USA hervorrufen kann – bis hin zu einem Handelskrieg. Frankreich hat seine eigene Digitalsteuer bis zum Jahresende 2020 erst mal auf Eis gelegt.
Für andere Unternehmen, die nicht digital sind, wird der Kampf um Marktgewinne trotzdem zunehmen. Große Schwellenländer wie Brasilien, Südafrika, Indien oder China werden dann auf andere Weise versuchen, zu Lasten der Exportstaaten Gewinne zu besteuern. Das wird dann in Deutschland zur Frage führen: Lassen wir unsere Unternehmen mit einer doppelten Steuerlast im Regen stehen oder erlauben wir ihnen die Anrechnung der ausländischen Steuer – mit dem Effekt, dass der Fiskus Steuereinnahmen verliert. Die Ansprüche der Marktstaaten werden nicht sinken!
Interview: Michaela Hutterer