„Digitale Kontaktverfolgung könnte unsere beste Möglichkeit sein“

Viele Länder setzen auf Corona-Apps, um Kontaktpersonen von Infizierten zu identifizieren, die Betroffenen zu isolieren und so die Infektionsketten zu unterbrechen. Auch Deutschland hat nun eine App veröffentlicht, die mit Hilfe von Bluetooth-Technologie Menschen warnt, wenn sie sich in der Nähe von Infizierten aufgehalten haben. Eine der ersten wissenschaftlichen Studien zu diesem Thema erschien bereits 2014. Der Computerwissenschaftler Manuel Cebrian zeigte darin zusammen mit Kate Farrahi und Remi Emonet, dass Smartphone-Daten während einer Epidemie helfen können, Kontakte zurückzuverfolgen. Heute leitet Manuel Cebrian die Forschungsgruppe Digitale Mobilisierung im Forschungsbereich Mensch und Maschine am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Im Interview erklärt er, wieso Kontaktverfolgung technische Unterstützung braucht und ob sie auch dann funktionieren kann, wenn nicht jeder eine Tracing-App installiert.

Auf der ganzen Welt wird nun große Hoffnung in Corona-Tracing-Apps gesetzt. Wie denken Sie darüber?

Manuel Cebrian: Wir wissen, dass die Kontaktverfolgung – zusammen mit der medizinischen Versorgung und Isolierung kranker Patienten – entscheidend für die Eindämmung einer Epidemie ist. Aber es gibt immer mehr wissenschaftliche Belege dafür, dass die Kontaktverfolgung allein durch Menschen möglicherweise nicht schnell genug oder nicht genau genug ist, wenn die Epidemie erstmal ausgebrochen ist. Insbesondere bei einer schwer fassbaren, tödlichen Krankheit wie Covid-19, bei der Menschen ohne Symptome eine beträchtliche Anzahl anderer Leute anstecken können. Damit die Ermittlung von Kontaktpersonen schneller und genauer wird, brauchen wir meiner Meinung nach eine zusätzliche, technisch unterstützte Lösung.

Wie kann die Computerwissenschaft dazu beitragen?

Mein Forschungsinteresse gilt der Frage, wie das Sammeln von Online-Daten und die Analyse von Netzwerken bei der Bewältigung von Katastrophen eingesetzt werden kann – egal ob durch Menschen verursacht oder durch die Natur. Wir haben zum Beispiel gezeigt, dass man Schäden durch Hurrikane und andere Naturkatastrophen fast in Echtzeit einschätzen kann, indem man öffentlich zugängliche Informationen auswertet, die Menschen in den sozialen Medien posten. In einer anderen Studie haben wir die Ausbreitung einer Grippewelle innerhalb einer Gruppe prognostiziert, indem wir ein maschinelles Lernverfahren nutzten, das Bluetooth-Daten von Mobiltelefonen auswertete. So kamen wir zu der Überzeugung, dass Bluetooth-Daten bei Studien zu Epidemien tatsächlich hilfreich sein könnten. Als ich von einem Kollegen, der Biophysiker ist, hörte, wie wichtig die Kontaktverfolgung bei Infektionskrankheiten ist, wollte ich herausfinden, ob wir unsere Erfahrungen in der Netzwerkwissenschaft und bei der digitalen Erfassung von sozialen Daten nutzen könnten, um die Kontaktverfolgung zu beschleunigen.

Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Um 2011 herum hatten wir die Möglichkeit, eine riesige Menge echter Smartphone-Daten zu nutzen. Die Daten waren zuvor von Kollegen gesammelt worden. 72 Studierende einer US-amerikanischen Universität hatten eingewilligt, dass ihre Smartphone-Nutzung über neun Monate aufgezeichnet und in zahlreichen Studien verwendet wurde. Für unsere Studie konzentrierten wir uns auf anonymisierte Bluetooth-Interaktionen und Telefongespräche zwischen den Studierenden, wobei wir die Bluetooth-Daten als Näherungswert für persönliche Begegnungen verwendeten, die letztlich eine Epidemie beschleunigen würden.

Zuerst ließen wir ein Standard-Epidemiemodell über das Netzwerk von Kontakten laufen, das dem Bluetooth-Netzwerk der Studierenden entsprach. Wir sahen, dass sich die simulierte Epidemie in der Gruppe ausbreitete, und beobachteten die typische Epidemiekurve. Dann fügten wir dieser Simulation die Möglichkeit der Kontaktverfolgung hinzu: Wenn ein Infizierter aufgespürt wird, kann er niemanden mehr anstecken. Zu Covid-19- Zeitenhieße das: Sie stehen unter Quarantäne. Was wir dann sahen war, dass selbst bei einem moderaten Maß an Kontaktverfolgung der Höhepunkt der Epidemie nach unten gedrückt würde. Der erste Test war also keine Überraschung: Wenn Sie eine perfekte digitale Abbildung von persönlichen Interaktionen haben, wirkt die Kontaktverfolgung.

Aber nicht jeder kann – oder will – Tracing-Apps installieren.

Das ist richtig. In Wirklichkeit entspricht ein digitales Kontaktnetzwerk nicht dem physischen Kontaktnetzwerk. Nicht jeder benutzt ein Smartphone oder hat die Corona-App. Oder Sie haben eine Bluetooth-Interaktion mit jemandem, der in ihrer Umgebung ist, vielleicht hinter einer dünnen Hauswand, den Sie aber nie getroffen haben. Auf der Grundlage unseres Kontaktnetzwerks haben wir also ein zweites Netzwerk mit Fehlern erstellt. Die Infektion breitete sich auf dem einen Netzwerk aus und wurde auf dem zweiten Netzwerk zurückverfolgt, das aber das erste Netzwerk nur unvollkommen darstellt. Wenn man das einmal gemacht hat, kann man variieren, um wieviel Prozent das unvollständige Netzwerk vom realen Netzwerk abweicht. Heutzutage wäre das der Prozentsatz der Personen, die die Tracing-App verwenden. Sie können auch variieren, wie viele Testkapazitäten Sie haben, wie schnell Ihre Nachverfolgung ist oder ob Sie Zufallstests hinzufügen möchten. In einem realen Szenario würden diese Parameter die vielen möglichen Interventionen von nationalen oder lokalen Gesundheitsbehörden darstellen.

Die gute Nachricht ist, dass unsere Simulationen für die meisten Kombinationen von Parametern gezeigt haben, dass man lediglich etwa 40 Prozent der Realität der physischen Kontakte digital erfassen muss, um den Höhepunkt der Epidemie zu verschieben. Da die Zahlen aus einer Computersimulation mit einer kleinen Gruppe stammen, muss man mit Schlussfolgerungen natürlich vorsichtig sein.

Im letzten Teil der Studie sind wir davon ausgegangen, dass man nur Telefonanrufe hat, was das Worst-Case-Szenario wäre. Aber selbst, wenn wir nur die Telefonanrufe der 72 Studierenden für die Ermittlung von Kontaktpersonen verwenden könnten, würde dies besser funktionieren als Zufallstests und könnte helfen, die Epidemie zu bremsen.

Könnte die Kontaktverfolgung über Anrufdaten auch während der Corona-Pandemie funktionieren?

Wie wir es selbst gerade erlebt haben, hat sich unsere Kommunikation und der körperliche Kontakt miteinander in den letzten Monaten dramatisch verändert: Wir haben mit vielen Menschen telefoniert und einige wenige oder gar keine getroffen. Die Kontaktverfolgung über Telefonanrufe würde also eigentlich nur zu Beginn der Pandemie funktionieren, während es eine Überschneidung gibt zwischen den Menschen, mit denen wir telefonieren, und den Menschen, die wir treffen. Ich denke jedoch, dass die damit verbundenen ethischen und datenschutzrechtlichen Implikationen diese Methode unmöglich machen könnten

Glauben Sie, dass die Corona Apps, die derzeit weltweit entwickelt werden oder bereits im Einsatz sind, dazu beitragen könnten, die Corona-Pandemie einzudämmen?

Da wir nicht zu einem exponentiellen Wachstum der Fallzahlen zurückkehren können und auch nicht zu einem vollständigen Lockdown, glaube ich, dass die digitale Kontaktverfolgung die einzige realistische Option sein dürfte. Ich kann nicht sagen, wie man das rechtlich und ethisch korrekt machen kann, denn das ist nicht mein Fachgebiet. Aber ich bin mir der Grenzen der Kontaktverfolgung durch Menschen bewusst, und da diese Grenzen für mich und andere Fachleute immer klarer werden, glaube ich, dass wir noch etwas Zusätzliches brauchen. Schaut man sich die Daten unserer Studie und anderer größerer Studien an, könnte die digitale Ermittlung von Kontaktpersonen unsere beste Möglichkeit sein, die Pandemie einzudämmen.

Wie war die Resonanz auf Ihre Studie damals und wie ist sie heute?

Das ist witzig, denn obwohl wir mehr als vier Jahre Arbeit in die Studie gesteckt haben, war dies eine der Arbeiten, für die ich zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung kaum Resonanz in meiner wissenschaftlichen Community bekommen habe. Um ehrlich zu sein, hätte ich sie fast vergessen. Aber etwa seit Anfang März nahmen Medien, verschiedene Regierungsbehörden und Technologieunternehmen Kontakt mit mir und der anderen Autorin Kate Farrahi auf. Es ist großartig, dass die Studie jetzt mehr Aufmerksamkeit erhält und bei der weiteren Diskussion und Entwicklung der digitalen Kontaktverfolgung helfen kann.

Interview: Artur Krutsch

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