Existenzsicherung in der Krise
Eine rechtswissenschaftliche Studie beleuchtet, wie europäische Staaten Unternehmen und Bürger unterstützen
Die Corona-Pandemie stürzt die Wirtschaft in eine Krise. Für Deutschland erwartet die Europäischen Kommission einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 6,5 Prozent, in Italien könnten es sogar 9,5 Prozent sein. Auch der Arbeitsmarkt gerät stark unter Druck. Ein rechtswissenschaftliches Forschungsteam am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik hat die bis Ende April verabschiedeten Maßnahmen der Krisenbekämpfung in Deutschland, Italien, Großbritannien, Frankreich und Dänemark verglichen. Die Studie zeigt Parallelen zwischen den fünf Ländern, aber auch teilweise aufschlussreiche Unterschiede.
Eines der wichtigsten sozialpolitischen Instrumente, um die Folgen der Corona-Krise abzufedern, sind die Kompensation von Kurzarbeit oder zeitweiser Arbeitslosigkeit, um Arbeitsplätze zu erhalten. Dänemark hat entsprechende Leistungen völlig neu geschaffen, und auch in England ist ein spezielles Programm vorgesehen, um Entlassungen zu vermeiden. Das führt in beiden Ländern nicht nur zu neuen Sozialleistungen, sondern auch zu einer teilweisen Abkehr von der bislang betonten arbeitsmarktpolitischen Flexibilität mit geringem Kündigungsschutz.
In allen fünf untersuchten Ländern wird der Zugang zu Leistungen bei Arbeitslosigkeit erleichtert; Aktivierungsmaßnahmen und Sanktionen sind ganz oder weitestgehend ausgesetzt. Sehr unterschiedlich gehen die Staaten hingegen bei der arbeitsrechtlichen Flankierung des Arbeitsplatzschutzes vor: Während Deutschland und England darauf verzichtet haben, führten Dänemark und Frankreich spezielle Regelungen ein, um den Arbeitsausfall durch die Anordnung von Urlaub den zu überbrücken. Italien erließ ein temporäres Kündigungsverbot von Mitte März bis Mitte Mai 2020.
Um die Wirtschaft zu stabilisieren, gewähren die Länder den Unternehmen Steuererleichterungen, Kredite zu günstigen Bedingungen und die Möglichkeit, Sozialversicherungsbeiträge zu stunden. Selbständige und kleinere Unternehmen erhalten zudem Geldleistungen, mit denen Schäden, die durch die Krisenbekämpfung entstehen, ausgeglichen werden. Deren Höhe ist von Land zu Land unterschiedlich; sie sind an nicht gedeckte Betriebskosten (Deutschland, Dänemark), an Gewinn oder Umsatzeinbußen (England, Frankreich) bzw. an den Verdienstausfall (Italien) geknüpft. In der Sache übernehmen die Staaten damit eine Verantwortung für die Schadensverursachung. Damit bestätigt sich der Grundsatz, dass Zeiten von Katastrophen Zeiten des sozialen Entschädigungsrechts sind, in denen andere wirtschaftspolitische Ziel zurückstehen.
Sozialpolitische Widersprüche bei der Grundsicherung
Erleichterungen und zum Teil Verbesserungen gibt es auch beim Bezug von Leistungen der Grundsicherung. Hier zeigen sich jedoch sozialpolitische Widersprüche: Einerseits sollen die von der Rezession Betroffenen nach Möglichkeit nicht auf diese Hilfe angewiesen sein, weshalb Sonderleistungen eingeführt werden. Andererseits wird der Zugang zur Grundsicherung erleichtert, womit deren Hauptmerkmal, Bedürftigkeit als Leistungsvoraussetzung, vorübergehend wegfällt. Konsequent verfährt hier am ehesten das Vereinigte Königreich, das die bestehenden Lücken im sozialen Schutz durch eine wesentliche und allgemeine Aufstockung des Universal Credit ausgleicht: Dessen Regelsatz für einen Alleinstehenden beträgt seit dem 6. April knapp 460 Euro statt vormals 355 Euro.
„Die aktuelle Situation hält dem Normalzustand den Spiegel vor, da bereits vorhandene Defizite beim sozialen Schutz besonders sichtbar werden“, resümiert Ulrich Becker. Weil es in Krisenzeiten eine Tendenz zu einfachen und schnellen Lösungen gebe, seien diese allerdings wenig geeignet, um tragfähige und auf Dauer angelegte Kompromisse zu finden, ohne die Sozialstaaten nicht funktionieren können. „Über den Vergleich der Mittel zur Krisenbekämpfung hinaus kann unsere Studie Anlass geben, sozialstaatliche Grundsatzfragen wie die Verteilung von Verantwortung zu diskutieren“, sagt Becker.