Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut für Kohlenforschung

London Dispersion quantifizieren – so erlauben neue Methoden der Computerchemie die Van-der-Waals-Wechselwirkungen für die Chemie zu nutzen

Autoren
Giovanni Bistoni und Alexander A. Auer
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Kohlenforschung, Abteilung für Molekulare Theorie und Spektroskopie, Mülheim an der Ruhr
Zusammenfassung
Am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung arbeiten wir an neuen Methoden der Computerchemie, mit denen sich die schwachen Van-der-Waals-Wechselwirkungen zwischen Molekülen mit hoher Genauigkeit berechnen lassen. In einer Reihe von Studien konnten wir zeigen, wie wichtig die Feinheiten intermolekularer Wechselwirkungen für das Verständnis komplexer Strukturen und das Design effizienter Reaktionspfade sind. Unsere Forschungsergebnisse eröffnen neue Möglichkeiten in der Katalyse, Strukturen und das Design effizienter Reaktionspfade sind. Ihre Forschungsergebnisse eröffnen neue Möglichkeiten in der Katalyse, der Biochemie und den Materialwissenschaften.

Ein großer Teil der Materie, die uns umgibt, existiert aufgrund der anziehenden Wechselwirkungen zwischen einzelnen Molekülen. Diese Wechselwirkungen ermöglichen, dass auch ohne chemische (kovalente) Bindungen hochkomplexe Strukturen entstehen. Mit den Konzepten der nicht-kovalenten Wechselwirkungen lassen sich Flüssigkeiten und Festkörper beschreiben, die Struktur und Funktion von Biomolekülen verstehen oder die Details von Reaktionsmechanismen erklären (Abb. 1). Wechselwirkungen des Typs der schwachen London-Dispersion nehmen hierbei eine Sonderstellung ein. Da sie verhältnismäßig schwach und nur auf kürzester Distanz wirksam sind, werden sie häufig vernachlässigt, obwohl sie oft für Struktur und Reaktivität essentiell sind. [2]

Zur Berechnung molekularer Eigenschaften kommen typischerweise Methoden wie die Dichtfunktionaltheorie zum Einsatz, die bei geringem Rechenaufwand häufig ausreichende Genauigkeit liefert. Genauere Methoden wie beispielsweise Coupled-Cluster-Ansätze, die die Quantifizierung von Dispersionswechselwirkungen erlauben, konnten bis vor wenigen Jahren aufgrund des hohen Rechenaufwands nur für sehr kleine Systeme angewendet werden..Im Bestreben, hohe Genauigkeit auch für große Systeme zu erhalten, ist in den vergangen Jahren in der theoretischen Chemie ein entscheidender Durchbruch gelungen. Durch die Ausnutzung der Kurzreichweitigkeit bestimmter Terme in der Elektron-Elektron-Wechselwirkung ließen sich neue Näherungen entwickeln, deren Rechenaufwand ohne nennenswerte Fehler nur noch linear mit der Systemgröße wächst. Neese et al. konnten so 2013 die ersten Coupled-Cluster-Berechnungen (CCSD(T)) für ein ganzes Protein vorstellen. [3]

Neue Ansätze liefern genaue Zahlen und ein tieferes Verständnis für molekulare Prozesse

Ein Nachteil von akkuraten Modellen mit hoher Komplexität ist häufig, dass die Interpretation der Ergebnisse schwierig ist. Dies trifft auch auf die CCSD(T)-Methode zu, die die Wellenfunktion der Elektronen durch hochdimensionale mathematische Objekte beschreibt. Aus diesem Grund wurde die “Local Energy Decomposition” (LED) entwickelt, die es erlaubt, CCSD(T)-Wechselwirkungsenergien in einfache, physikalisch sinnvolle Größen wie Elektrostatik, Austausch und Dispersion zu zerlegen. Mit Hilfe der LED lassen sich Dispersionswechselwirkungen nicht nur mit hoher Genauigkeit berechnen, sondern ihre wichtigsten Beiträge konzeptionell interpretieren.

Ein weiterer großer Vorteil der LED ist, dass sich das Schema unabhängig von der Stärke und Natur der Wechselwirkung anwenden lässt. So ist es möglich, genaue Charakterisierungen von Wechselwirkungen für eine große Bandbreite von Systemen zu erhalten. In zwei kürzlich erschienenen Überblicksartikeln unserer Gruppe haben wir einige Beispiele beschrieben [2,3].

Dispersionswechselwirkungen in wichtigen Anwendungsfeldern

Eine intermolekulare Wechselwirkung mit besonderer Bedeutung in katalytischen Polymerisationsprozessen sind sogenannte agostische Wechselwirkungen, die in der Literatur als Interaktion einer CH-Bindung mit einem Übergangsmetall beschrieben werden. Hier konnten wir mithilfe der neuen Methoden zeigen, dass im Widerspruch zur bisherigen Interpretation kurzreichweitige Dispersionswechselwirkungen eine entscheidende Rolle für die Struktur und Reaktivität dieser Systeme spielen (Abb. 2a) [4].

Ein weiteres Beispiel aus der Katalyse ist die Wechselwirkung zwischen Lewis-Säuren und -Basen, die aufgrund ihrer Struktur kein stabiles Lewis-Addukt bilden können (Abb. 2b). Solche „frustrierten Lewis-Paare“ (FLPs) erfreuen sich aufgrund ihrer potenziellen Anwendung für die Aktivierung kleiner Moleküle großer Aufmerksamkeit. Eine detaillierte Analyse zeigt, dass die spezielle Wechselwirkung in diesen Systemen durch London-Dispersion dominiert wird. Große, voluminöse funktionelle Gruppen vergrößern die Wechselwirkung, aber behindern gleichzeitig die Adduktbildung aufgrund sterischer Effekte. In unserer Arbeit veranschaulichen wir, wie ein gezieltes molekulares Design möglich ist, wenn die gegensätzlichen Einflüsse separat kontrolliert werden. Im Rahmen einer Reihe von Anwendungen der LED in Kombination mit lokalen CCSD(T)-Methoden konnte demonstriert werden, wie das Wechselspiel von London-Dispersion und Donor/Akzeptor-Wechselwirkungen die Strukturen von metallorganischen Verbindungen bestimmt. In der Chemie schwerer Hauptgruppenelemente wie Antimon oder Bismut findet sich häufig ein Strukturmotiv - die sogenannte Bismut-π-Wechselwirkung (Abb. 2c) - bei der man bislang davon ausgegangen war, dass elektrostatische oder Donor-/Akzeptor-Wechselwirkungen zu ihrer Bildung führen. In unseren neuen Studien zeigten wir, dass es tatsächlich wieder die Dispersion ist, die den größten Beitrag zur Stabilität dieser Aggregate beisteuert (siehe Abb. 2a) [5].

So bieten Simulationen mit neuen Elektronenstrukturmethoden die Möglichkeit, ein tieferes Verständnis für schwache intermolekulare Wechselwirkungen zu entwickeln. Aufgrund der einzigartigen Kombination von Effizienz, Genauigkeit und der Möglichkeit der konzeptionellen Interpretation der Ergebnisse setzen sich diese Simulationsansätze mehr und mehr durch. Trotzdem ist das Potential noch lange nicht ausgeschöpft. Neue Näherungen und Algorithmen werden den Anwendungsbereich von Elektronenstrukturmethoden auch in Zukunft weiter vergrößern. Die neuen Methoden bieten die Perspektive, dort, wo sich nicht-kovalente Wechselwirkungen identifiziert und gezielt beeinflussen lassen, mithilfe von Simulationen beispielsweise bessere Katalysatoren oder funktionelle Materialien zu entwickeln.

Literaturhinweise

C. Poidevin, P. Paciok, M.  Heggen, A. A. Auer
High resolution transmission electron microscopy and electronic structure theory investigation of platinum nanoparticles on carbon black
Journal of Chemical Physics 150(4), 041705, 2019
G. Bistoni
Finding chemical concepts in the Hilbert space: Coupled cluster analyses of noncovalent interactions
WIREs Computational Molecular Science, e1442, 2019
F. Neese, M. Atanasov
Chemistry and Quantum Mechanics in 2019: Give Us Insight and Numbers
Journal of the American Chemical Society, 141(7), 2814-2824, 2019
Q. Lu, F. Neese, G. Bistoni
Formation of Agostic Structures Driven by London Dispersion
Angewandte Chemie Internaltional Edition, 57, 4760, 2018
M. Krasowska, A.-M. Fritzsche, M.  Mehring, A. A. Auer
Balancing Donor‐Acceptor and Dispersion Effects in Heavy Main Group Element π Interactions: Effect of Substituents on the Pnictogen π Arene Interaction
ChemPhysChem 20 (19), 2539, 2019

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