Multitasking in Perfektion: Nervenzelle arbeitet wie 1400 einzelne Zellen

Amakrinzelle im Sehsystem der Fruchtfliege besteht aus elektrisch isolierten Untereinheiten

25. April 2019

CT1 ist anders. In der Regel bekommt eine Nervenzelle Input von verschiedenen Zellen, verarbeitet die Signale, und gibt ihren Output an nachgeschaltete Zellen weiter. In der CT1 Zelle arbeitet jedoch jeder der rund 1400 Zellbereiche wie eine separate Nervenzelle. Dadurch kann CT1 auf Informationen aus allen Facetten des Komplexauges der Fliege zugreifen und lokal zu den Berechnungen der Bewegungsrichtung beitragen. Im Computermodell zeigen Alexander Borst und Matthias Meier vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie, dass CT1 damit an biophysikalische Grenzen stößt.

„So eine verrückte Nervenzelle!“ Das war der erste Eindruck von Alexander Borst, als Matthias Meier ihm die Ergebnisse vorlegte. Zusammen haben die beiden Neurobiologen gezeigt, was auch für Amakrinzellen in der Netzhaut von Säugetieren vermutet wird: Es ist möglich, dass in einer einzigen Nervenzelle viele, elektrisch voneinander isolierte Mikroschaltkreise existieren.

Borst und Meier untersuchen das Sehsystem von Fruchtfliegen. Deren Komplexaugen bestehen aus jeweils rund 700 Facetten. CT1 kontaktiert mit ihren Fortsätzen jede der Zellsäulen, die sich im Gehirn an diese Facetten anschließen. Aber das ist noch nicht alles: Diese Zelle kontaktiert zwei verschiedene Regionen des Fliegengehirnes, die jeweils für die Verarbeitung von hellen beziehungsweise dunklen Kanten zuständig sind. Somit verbindet CT1 insgesamt etwa 1400 Bereiche. Dadurch sollte eigentlich das ganze System zusammenbrechen. Denn die säulenförmig angeordneten Zellen verarbeiten die Lichtveränderung, die jeweils eine der Facetten wahrnimmt. Würden sich die Signale der Säulen mischen, wäre die gesamte Bildinformation für nachgeschaltete Zellen verloren.

Die beiden Neurobiologen konnten aber zeigen, dass jeder Kontaktbereich von CT1 eine elektrisch isolierte, unabhängige funktionelle Einheit ist. Jede dieser Einheiten erhält Input von Zellen aus "ihrer" Säule und gibt ihr Output auch wieder in die gleiche Säule ab. Calcium-Messungen und Computermodelle zeigen, dass über die Verbindung zum Zellkörper keine nennenswerten Informationen weitergeleitet werden.

Damit die Zelleinheiten elektrisch voneinander isoliert sind, müssen ihre Verbindungen möglichst dünn und lang sein – das erhöht den elektrischen Widerstand. CT1 erreicht dies durch Verbindungen mit gerade einmal 100 Nanometer Durchmesser. Außerdem sind die "Verbindungskabel" in Schlaufen gelegt. So wird der Weg zwischen benachbarten Einheiten rund zehnmal länger als es zum Überbrücken der Distanz nötig wäre. „Noch dünner oder länger geht es im Fliegenhirn kaum“, so Borst.

Warum CT1 so völlig anders ist als die meisten anderen Zellen, ist noch ein Rätsel. „Es spart Zellkörper, aber das ist sicher nicht der einzige Grund, denn dann sollte es so einen Zellaufbau öfters geben“, überlegt Matthias Meier. Bisher sind nur sehr wenige Zellen mit solch einer Struktur bekannt. Von dem Extrembeispiel CT1 existieren nur zwei Zellen im Fliegenhirn, je eine pro Gehirnhälfte.

Auch über die Funktion von CT1 sind sich die Forscher noch nicht ganz im Klaren. Der Output der CT1-Untereinheiten geht – je nach ihrer Lage – an T4- oder T5-Zellen. Diese berechnen die Richtung von Bildbewegungen vor dem Fliegenauge. Interessanterweise kontaktieren CT1 Zellen die bewegungssensitiven T4- und T5-Zellen ganz spezifisch nur auf einer Hälfte deren Dendriten. Wie CT1 dadurch das Bewegungssehen beeinflusst, wollen die Martinsrieder Neurobiologen als nächstes untersuchen.

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