Forschungsbericht 2018 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik

Wie bildet das Gehirn eine Sprache?

Autoren
Rowland, Caroline F.
Abteilungen
Abteilung Sprachentwicklung
Zusammenfassung
Wie lernt das menschliche Gehirn eine Sprache? Und warum lernen manche von uns diese Sprache früher und schneller als andere? Um diese Fragen zu beantworten, untersuchen wir, wie Kinder aufgrund der im Verlauf ihrer frühen Kindheit gehörten Sprache ein Sprachsystem aufbauen. Wir wollen verstehen, was den Spracherwerb vorantreibt und herausfinden, welche Unterschiede es in den Lernmechanismen des Gehirns gibt, wie sie entstehen und warum sie die Lernkurve so wesentlich beeinflussen.

Einleitung

Sprache ist das komplexeste Kommunikationssystem, das wir kennen. Trotzdem beherrschen es Kinder, bevor sie Schnürsenkel binden können. Sie lernen Sprachlaute nachzuahmen, Tausende von Wörtern mit ihren Bedeutungen zu assoziieren, Wörter zu langen grammatischen Sätzen zu verbinden und sie zu nutzen, um komplexe Mitteilungen über ihre Gedanken, Gefühle und Ansichten zu machen.

Aber einige Kinder lernen Sprache früher und schneller als andere; sie produzieren erste Wörter, bevor sie ein Jahr alt sind und lernen dann schnell viele mehr. Im Alter von 18 Monaten kennen diejenigen Kinder, die am schnellsten lernen, mehr als 320 Wörter, die langsamsten aber nur vier [1]. Manche Kinder kombinieren Wörter abenteuerlich und bilden früh in ihrem Leben ganze Sätze, auch wenn diese oft voller grammatischer Fehler sind. Andere sind vorsichtiger und verbinden Wörter erst dann, wenn sie sicher sind, dass das grammatisch richtig ist. Meistens sind diese Unterschiede nicht beunruhigend und langsamere Kinder holen schließlich auf. Aber einige Kinder tun das nicht; bei ihnen wird meist eine Sprachentwicklungsstörung diagnostiziert. Diese schwere Störung beeinträchtigt die Kommunikation von nahezu 10 % der Bevölkerung und hat Auswirkungen auf den Bildungsabschluss, die Arbeitsmarktfähigkeit und sogar auf die geistige Gesundheit im Erwachsenenalter.

Am MPI für Psycholinguistik erforschen wir, warum einige Kinder so viel schneller in ihrer Sprachentwicklung sind als andere. Wir wollen verstehen, was den Spracherwerbsprozess vorantreibt und herausfinden, welche Unterschiede es in den Lernmechanismen des Gehirns gibt, wie sie entstehen und warum sie die Lernkurve so wesentlich beeinflussen. Unsere Ergebnisse sind relevant für Lehrer, Sprachtherapeuten und Kinderärzte; sie helfen ihnen zu erkennen, welches Kind womöglich eine Sprachstörung entwickelt haben könnte und was zu tun ist, um seinen Spracherwerb zu beschleunigen.

Gehirne bilden Sprache

Um den Spracherwerb erklären zu können, müssen wir verstehen, wie die Lernmechanismen im Gehirn funktionieren. Es scheint, dass einige dieser Lernmechanismen schneller und effizienter sind als andere. Eine wichtige Fertigkeit im Spracherwerb ist es, den Lautstrom in Einzelwörter segmentieren zu können. Beim Sprechen machen wir keine Pausen zwischen den Wörtern; stattdessen lassenwirunserewörterineinanderfließen [lassen wir unsere Wörter ineinander fließen]. Eine der ersten Aufgaben eines Kleinkindes ist also, Wörter im Lautstrom zu erkennen. Kinder können das sehr gut; sie segmentieren Wörter aus dem kontinuierlichen Lautstrom schon wenige Minuten nachdem sie ihm ausgesetzt sind. Aber einige können das besser als andere.

Wir haben kürzlich berichtet, dass 9 Monate alte Kinder sich wesentlich darin unterscheiden, wie ihre Gehirne auf die Segmentierungsaufgabe reagieren. Wir haben herausgefunden, dass diese Unterschiede den späteren Umfang des Wortschatzes vorhersagbar machen [2]. Mithilfe eines Elektro-Enzephalogramms (EEG) wurden Gehirn-Reaktionen (ERPs) von 113 Kindern aufgezeichnet, die zuerst Sätze mit einem bestimmten Zielwort (z.B. „Er sah einen wilden Adler dort oben“) und dann entweder dasselbe Wort (Adler) oder ein Kontrollwort (Koralle) in Isolation hörten.

Kinder, die später einen größeren Wortschatz aufgebaut hatten, zeigten eine reifere Gehirnreaktion auf die Zielwörter (eine relative Negativität im linken frontalen Quadranten des Gehirns) als Kinder mit kleinerem Wortschatz (die eine unreife relative Positivität im linken frontalen Quadranten zeigten). Außerdem war die Größe der Unterschiede in der ERP Reaktion auf die Ziel- und Kontrollwörter mit der Wortschatzgröße des Kindes 3 und 6 Monate später (im Alter von 12 und 15 Monaten) assoziiert. Dieser Effekt hatte Bestand selbst nach einer Überprüfung möglicher Irritationen wie z. B. Geschlecht des Kindes, Alter, und Wortschatz zum Testzeitpunkt.

Einige Kinder sind also im Vorteil: bereits mit 9 Monaten reagieren ihre Gehirne reifer auf die Aufgabe, Sprache zu segmentieren. Es gibt aber auch individuelle Unterschiede hinsichtlich der Effizienz anderer Sprachlernmechanismen - bei der Fähigkeit, Vokale im Alter von 6 Monaten zu diskriminieren, bei der Schnelligkeit, mit der Wörter mit 18 Monaten verarbeitet werden und bei der Fähigkeit, sich lange Folgen von Sprechlauten sehr früh zu merken. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass einige Kinder Sprache schneller entwickeln als andere.

Gene und Umwelt bilden Gehirne

Warum lernen manche Gehirne Sprache schneller als andere? Leider haben wir dafür keine klare Antwort. Wir wissen aber, dass unser genetisches Erbe dabei eine Rolle spielt. Forscher unserer Abteilung Sprache und Genetik haben eine Reihe von Genen entdeckt, die mit Sprechen und Sprache zu tun haben, wie z.B. FOXP2, dessen seltene Mutation die Fähigkeit eine Kindes beeinträchtigt, die für das Sprechen nötigen komplexen Gesichts- und Mundbewegungen zu produzieren [3], und CNTNAP2, das mit einigen Formen von Sprachentwicklungs-Störungen in Verbindung gebracht werden kann [4].

Bei manchen Kindern, wie bei denen mit der FOXP2-Mutation, sind die Unterschiede in ihrer Fähigkeit zum Lernen von Sprache primär genetisch bestimmt. Bei anderen, die sozial benachteiligt aufwachsen, ist die Umwelt bestimmender Faktor. Aber für die meisten Kinder finden wir eine komplexe Kombination von genetischen und Umwelt-Faktoren. Unsere Gene stellen das grundlegende Programm für unsere Gehirne bereit, aber alles, was wir erleben, hat einen Einfluss auf unser Vermögen, unsere Sprache zu lernen.

Literaturhinweise

Fenson, L.; Marchman V. A.; Thal, D. J.; Dale, P. S.; Reznick, J. S.; Bates, E.
The MacArthur-Bates Communicative Development Inventories User’s Guide and Technical Manual (2nd Ed) Baltimore MD
Brookes Publishing Company (2007), ISBN: 978-1-55766-884-4
Kidd, E.; Junge, C.; Spokes, T.; Morrison, L.; Cutler, A.
Individual differences in infant speech segmentation: Achieving the lexical shift
Infancy 23 (6), 770-794 (2018)
Lai, C. S. L.; Fisher, S. E.; Hurst, J. A.; Vargha-Khadem, F.; Monaco, A. P.
A forkhead-domain gene is mutated in a severe speech and language disorder
Nature 413, 519-523 (2001)
Vernes, S.C.; Newbury, D.F.; Abrahams, B.S.; Winchester, L.; Nicod, J.; Groszer, M.; Alarcón, M.; Oliver, P. L.; Davies, K. E.; Geschwind, D. H.; Monaco, A. P.; Fisher, S. E.
A functional genetic link between distinct developmental language disorders
New England Journal of Medicine 359, 2337-2345 (2008)
Jones, G.; Rowland, C.F.
Diversity not quantity in caregiver speech: Using computational modeling to isolate the effects of the quantity and the diversity of the input on vocabulary growth
Cognitive Psychololgy 98, 1-21 (2017)

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