Nervenzellen identifiziert, die verschiedene Verhaltenszustände vermitteln
Neue Erkenntnisse gewähren Einblicke in die Schaltkreise, die für sensorisch gesteuerte Handlungsweisen verantwortlich sind.
In einer kürzlich veröffentlichten Studie legten Wissenschaftler am Max Planck Florida Institut eine der bisher umfassendsten Analysen der detaillierten Architektur einzelner funktional charakterisierter Nervenzellen in der Großhirnrinde vor. Die Großhirnrinde – der Kortex – gilt als komplexester Bereich des Gehirns und ist für die Sinneswahrnehmung, die motorische Steuerung und das Erkenntnisvermögen zuständig. Die Studie wurde in der Februar-Ausgabe der Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht. Die Analyse enthält vollständige dreidimensionale Rekonstruktionen der dendritischen und axonalen Anatomie einzelner Nervenzellen, identifiziert deren Zielzellen im gesamten sensorischen Kortex und beschreibt die von diesen Nervenzellen übermittelten Informationen während verschiedener Verhaltenszustände.
Die Kartierung der Verbindungen in neuronalen Netzen auf der Ebene einzelner Nervenzellen – eine der wesentlichen Herausforderungen in der Neurowissenschaft – stellt einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum Verständnis der Funktionsweise des Gehirns dar. „Nervenzellen sind in Gruppen verschiedener Zelltypen aufgeteilt. Jeder Zelltyp weist charakteristische anatomische und funktionale Eigenschaften auf“, erklärte Marcel Oberländer. Der Wissenschaftler am Max Planck Florida Institut ist Erstautor der Studie. „Die Identifizierung der dreidimensionalen Muster des Axons, also des für die Nervenzelle tätigen ‚Sendegeräts’, ist für die Bestimmung der Eigenschaften neuronaler Schaltkreise von entscheidender Bedeutung; sie stellt im weitesten Sinn die strukturellen Rahmenbedingungen dar für die rechnerischen Fähigkeiten des Gehirns.“ Die aus der Studie gewonnenen Erkenntnisse könnten somit zu einem besseren Verständnis führen, wie der Kortex sensorische Informationen in Verhaltensreaktionen umsetzt.
Nachbau der Großhirnrinde
Die Nervenzellen im Kortex sind in parallel zur Oberfläche angeordneten Schichten sowie in senkrecht zur Oberfläche verlaufenden Säulen gruppiert. Kortikale Säulen beinhalten Nervenzellen mit jeweils ähnlichen funktionalen Eigenschaften und gelten daher als grundlegende funktionale Einheit für die Verarbeitung bestimmter Sinnesreize. Die Studie ist Teil eines umfassenden, von Wissenschaftlern der Forschungsgruppe „Digitale Neuroanatomie“ am Max Planck Institut Florida durchgeführten Forschungsprogramms, dessen Ziel es ist, die dreidimensionale Struktur sowie die Verbindungen von Nervenzellen in kortikalen Säulen nachzubauen. Gegenstand der Untersuchungen ist eine spezialisierte Säulengruppe im Kortex der Ratte, in der die von den Schnurrhaaren übermittelten Sinnesreize verarbeitet werden. Jedem Schnurrhaar ist eine eigene, ganz spezielle Säule zugeteilt.
In verwandten Studien habe man neun verschiedene Zelltypen identifiziert und sei in der Lage gewesen, die Anzahl der Nervenzellen je Typ, deren Standorte im der kortikalen Säule sowie funktionale Reaktionen auf zwei Verhaltenszustände – die Bewegung bzw. Berührung der Schnurrhaare – zu bestimmen. „Interessanterweise waren zwei im selben Bereich einer kortikalen Säule befindliche Zelltypen nach einer Berührung oder Bewegung der Schnurrhaare jeweils getrennt voneinander aktiv.“ Die in der jetzigen Studie enthaltenen detaillierten dreidimensionalen Rekonstruktionen von „Sendegeräten“ der Nervenzellen haben gezeigt, dass die zwei Zelltypen außerdem ausgeprägte und charakteristische Muster axonaler Projektionen aufweisen – ein sicherer Hinweis darauf, dass jeweils zelltypenspezifische kortikale Schaltkreise die Bewegung bzw. Berührung der Schnurrhaare übermitteln.
Rekonstruktion von Nervenzellen in drei Dimensionen
Die Hauptschwierigkeit der neuen Studie lag in dem von den Wissenschaftlern gewählten quantitativen Ansatz: Etwa ein Meter Axon der zwei Zelltypen wurde mühevoll rekonstruiert – bei Axon-Durchmessern von üblicherweise weniger als einem Mikrometern. Zur Bestimmung der dreidimensionalen Projektionsmuster einzelner Nervenzellen füllten die Wissenschaftler jede Nervenzelle im lebenden Tier mit einem lichtabsorbierenden Farbstoff, welcher dann mit modernen mikroskopischen Abbildungstechniken sichtbar gemacht wurde.
„Wir haben fünf Jahre lang maßgeschneiderte Bildgebungstechniken und automatisierte Rekonstruktions- und Analysegeräte entwickelt“, erklärt Dr. Oberländer. „Das Axon einer einzelnen Nervenzelle kann sich über ein Volumen von mehr als zehn Kubikmillimetern der Großhirnrinde erstrecken und erreicht dabei Gesamtlängen von bis zu zehn Zentimetern. „Wir erzeugten Terabytes an Bilddaten für jede Nervenzelle – und doch ermöglichen die von uns entwickelten Arbeitsabläufe die Rekonstruktion derart komplexer axonaler Strukturen aus dieser großen Datenmenge in weniger als einer Woche.“
Ergebnis dieser modernen Bilddarstellungs- und Rekonstruktionsanalyse ist eine Unmenge von Daten über die typenspezifische Zellarchitektur der an Bewegung und Berührung der Schnurrhaare beteiligten neuronalen Netze. Die Forscher sind so in der Lage, Hypothesen über Mechanismen aufzustellen, die Nagetieren die Ortung von Objekten ermöglichen. Diese Ergebnisse tragen somit maßgeblich zum Verständnis komplexerer Verhaltensweisen bei, etwa von Entscheidungsprozessen.
„Wir hoffen, mittels Integration dieser neuen anatomischen Daten in das nachgebaute Modell einer kortikalen Säule im somatosensorischen Cortex von Nagetieren Simulationsexperimente durchführen zu können und dadurch möglicherweise die der Schnurrhaarbewegung und -berührung sowie der Objektortung zugrunde liegenden Zell- und Netzwerkmechanismen zu entschlüsseln“, sagte Oberländer. „Das bringt uns einer Antwort auf die Frage, wie das Gehirn sensorische Informationen in Verhaltensreaktionen umsetzt, einen Schritt näher.“
Die Forschungsgruppe digitale Neuroanatomie am Max Planck Florida Institut wird geleitet von Bert Sakmann, MD, Ph.D., dem gemeinsam mit Erwin Neher im Jahr 1991 der Nobelpreis für Medizin verliehen wurde. Die Gruppe untersucht die funktionale Anatomie neuraler Schaltkreise im Gehirn – vor allem von Schaltkreisen in der Großhirnrinde –, die einfachen Verhaltensweisen wie etwa Entscheidungsprozessen zugrunde liegen. Im Rahmen dieser Forschungsarbeit werden groß angelegte, hoch auflösende Mikroskopietechniken eingesetzt, um einzelne Strukturen und Positionen sowie die synaptische Verdrahtung verschiedener Neuronentypen zu rekonstruieren. Dies kann letztendlich jene Teile des Netzes zum Vorschein bringen, die sensorisch hervorgerufene Verhaltensweisen auslösen und führt möglicherweise zu neuen Entdeckungen über den Lernprozess des Gehirns.