Dem Lebensgefühl einen Raum geben

Das Alte erforschen, um das Neue zu entwickeln – welcher Ort eignet sich dafür besser als Florenz? Am Kunsthistorischen Institut Florenz lädt die Forschungsgruppe „Ethik und Architektur“ um Brigitte Sölch und Hana Gründler zum Disput über Geschichte und Theorie der Architektur und über ihre Lehren für Gegenwart und Zukunft des Bauens.

Text: Martin Tschechne

Es könnte ein Tag gewesen sein wie dieser. Der Himmel strah­lend blau. Vom Monte Ceceri im Nordosten, wo ein paar Jahrzehnte später Leonardo da Vinci seine Flugapparate erproben soll­te, wehte dieser frische, weiche, doch voluminöse Wind durch die Gassen von Florenz. Leon Battista Alberti war mit seinen Begleitern Agnolo Pandol­fini und Nicola de’ Medici hinaufgestiegen zur Klosterkirche San Miniato al Monte – ein Stoiker der eine, ein Zweif­ler an der philosophischen Lehre von der kühlen Gelassenheit der andere. Doch der Dialog hatte sich seit ihrer scheinbar zufälligen Begegnung unter der gewaltigen Kuppel des Doms in freundlicher Aufmerksamkeit füreinan­der entfaltet.

Über Tugend und Schicksal hatten sie gesprochen, über Ästhetik und Mo­ral, über Sittlichkeit, das Verhältnis des Menschen zur Schöpfung und die Maß­stäbe für ein gutes Leben. Sie waren da­bei aus dem Dom getreten und über den Fluss aus der Stadt auf den grünen Hügel spaziert. Seelenruhe war ihr The­ma. Agnolo riet und belehrte, Nicola lauschte eher und erwiderte; er war es, der gefragt hatte.

Die Kunsthistorikerin fragt nach dem Bahnhof

Ihr Dialog, Della tranquillità dell’animo (1441), wurde in späteren Jahrhunder­ten immer wieder gerühmt als das lite­rarische Manifest einer Epoche, die sich auf die Gedankenwelt der klassi­schen Philosophie berief, auf Aristo­teles und den römischen Baumeister Vitruv, um sich auf den Weg in eine freiere, die Würde des Menschen respektierende Zukunft zu machen: die italienische Renaissance.

Die Architektur der Kathedrale, die Anlage der Stadt – das alles half, der Er­örterung Anlass und Gestalt zu geben. Alberti, Architekturtheoretiker, Baumeister, Mathematiker, Schriftsteller und Humanist, hatte seinen Dialog kunstvoll aufgebaut: Der Auftritt der Personen, ihre Argumente und Gegen­argumente, das ganze Gespräch, alles war Fiktion. Aber der Ort war real.

Manchmal folgen auch Brigitte Sölch und Hana Gründler, die mit Alessandro Nova das Projekt „Ethik und Architek­tur“ am Kunsthistorischen Institut in Florenz leiten, dem Spazierweg des Gelehrten hinauf nach San Miniato, um sich ein wenig auszulüften. Florenz ist schwer zu ertragen. Die Warteschlange vor dem Eingang zum Dom zieht sich bis in die Nebenstraßen, das Baptiste­rium ist eingekesselt, die Fähnchen der Reisegruppenleiter wogen auf einer drängenden, schiebenden Menschen­masse wie vielfarbiger Klatschmohn.

In so gut wie jedem Haus wartet eine Kaffeebar, eine Pension, eine Piz­zeria oder ein Souvenirgeschäft auf Touristen. Auf dem Ponte Vecchio: kein Durchkommen. T-Shirts und billige Lederjacken für den Rest der Welt. Und ein Besuch in der Gemäldesamm­lung der Uffizien? Nicht in diesem Le­ben. Männer mit Maschinenpistolen stehen vor dem Eingang. Die Stadt er­stickt an ihrer Schönheit, ihrem My­thos, ihrer Geschichte.

„Haben Sie eigentlich den Bahnhof gesehen?“, fragt Brigitte Sölch, und es ist eine zunächst erstaunliche Frage. Das Kunsthistorische Institut in Florenz liegt in der Via Giuseppe Giusti, Haus­nummer 44, ein würdevoller Palazzo hinter grauer Mauer, nur ein paar Schritte vom Dom entfernt und gleich hinter dem Ospedale degli Innocenti, dem Waisenhaus der Stadt. Filippo Brunelleschi, wenig später auch Baumeis­ter der weltberühmten Domkuppel, hat damit 1419 ein sittliches, soziales und ästhetisches Zeichen seiner Zeit gesetzt: Sein Asyl für Findelkinder formuliert sehr konkret das neu erwachte Menschenbild der frühen Renaissance, der Mensch als Ebenbild Gottes; die Säug­lingsreliefs von Andrea della Robbia auf dem Fries über den Arkaden bestätigen es. Und die Kunsthistorikerin fragt nach dem Bahnhof.

Die Idee einer guten Form wirkt sich aufs Leben aus

Der Bau sei ein Beleg für die longue durée, schaltet sich ihre Kollegin Hana Gründler ein – für die Nachhaltigkeit einer Philosophie, die das Bild von Flo­renz geprägt hat und bis heute nach­wirkt. Der Hinweis ist durchaus hilf­reich, denn die Stazione Santa Maria Novella, 1932/34 erbaut von Giovanni Michelucci und seinem Gruppo Tosca­no, ist mit ihrer klaren, lang gezogenen, streng funktionalen Front ein Monument der italienischen Moderne. Und eigentlich ein Kontrapunkt zu den grandiosen Kuppeln und Kathedralen der Altstadt, den Säulengängen, Marmorbändern und den effektvoll inszenierten Perspektiven.

„Nicht ganz“, korrigiert Gründler. „Beachten Sie nur mal das Material des Bahnhofs, speziell seiner Stirnseite: Es bezieht sich auf den Baukörper der Klosteranlage Santa Maria Novella di­rekt gegenüber. Es ist auch das gleiche, das wir etwa an der nicht vollendeten Fassade von San Lorenzo sehen.“ Und wirklich: Halb Florenz scheint aus die­sem gelblichen, warm getönten Stein gebaut worden zu sein.

Die Forscherinnen erkennen in solchen Details den Ausdruck einer Ethik, die Idee einer guten Form, die sich auf das gute Leben auswirkt. Schon in der Wahl des Baustoffs liegt ein Bekenntnis zum Ort und seiner Geschichte, auch ein politisches Manifest. Vielleicht wurde da­mals nicht im konkreten Sinn über öko­logische Fragen nachgedacht, schränkt Gründler ein, aber ganz sicher darüber, was einen Ort ausmacht: Woher kommt ein Material? Wie kommt es hierher? Und wie repräsentiert es den Charakter dieses Orts, den Mythos des Florentini­schen? Ein warmes, beruhigendes Ocker im Licht der untergehenden Sonne – bis heute genügt schon die Farbe, um Ge­danken an die Toskana zu wecken.

Solche Wechselwirkung von Archi­tektur und Ethik ist das Thema der For­scherinnen und Forscher des Projekts: Wie drückt sich ein Denken in Stadtbild und Gebäuden aus? Welche Maße und Proportionen ergeben sich aus ethi­schen Grundsätzen? Und welches Ver­ständnis von Vernunft und Verantwor­tung, von Gemeinschaft, Bürgerschaft und Demokratie wiederum erwächst aus der Ordnung einer Stadt, ihrer Offen­heit und Struktur, ihren Grünanlagen und öffentlichen Plätzen, ihren Vereinbarungen zu Traufhöhe, Straßenführung und Gehwegbreite?

Florenz ist auch Wiege des Futurismus

Dazu stöbern Gründler und Sölch in den Archiven der Geschichte. Dazu führen sie selbst einen stets spannungsreichen Dialog zwischen ihren Fächern Kunstgeschichte und Philosophie mit gelegent­lichen Ausflügen in die Psychologie, die Soziologie und die Politik. Und dazu la­den sie Gäste ein und organisieren gan­ze Symposien, um über die Metaphern der Architektur zu sprechen, die ästheti­sche Erziehung des Menschen durch sei­ne gebaute Umgebung, über die Idee des Himmels in der spätgotischen Baukunst und die der virtuellen Wolke in einer neue Räume erobernden Gegenwart. Über Bauhaus und Werkbund, über das Haus Wittgenstein in Wien, die Weißen­hofsiedlung in Stuttgart, die Villa Tu­gendhat in Brünn oder Alexander Rod­tschenkos ästhetisierende Fotografien vom Bau des Weißmeerkanals. In Flo­renz, so versichern sie, werde man auf all das praktisch mit der Nase gestoßen.

Denn die Renaissance und die Moderne, so löst Brigitte Sölch das Befremden über die Frage nach dem Bahnhof auf, seien die beiden Epochen, die radikaler als alles davor und dazwischen das Neue für sich behaupteten. Wir gehen in eine neue Zukunft, sagten die Pioniere beider Bewegungen. Wir lassen das Alte hinter uns. Und sie sagten es in Florenz. Denn die Stadt, so erinnert die Kunsthistorikerin, sei nicht nur Wiege und Höhepunkt der italienischen Re­naissance, nicht einfach die Schatztru­he einer abgeschlossenen Geschichte.

Auch 500 Jahre später hätten im Caffè Le Giubbe Rosse, bei den roten Jacken, auf der Piazza della Repubblica die Begründer des Futurismus zusammengesessen, der Dichter Filippo Tom­maso Marinetti, Maler wie Umberto Boccioni und Carlo Carrà, und in zu­weilen forcierten Pamphleten ihre Lei­denschaft für das Neue besungen, für Wagemut und Auflehnung, für Kampf und Geschwindigkeit, den Salto morta­le, den Faustschlag und die Ohrfeige.

Aber immer bleibt die Vergangen­heit lebendig. Wird angenommen oder wütend bekämpft, neu definiert und in die Gegenwart eingegliedert. Und bleibt doch deren notwendige Grundlage. Die uralte Idee der Agora und des Forums als Ort des geistigen, auch politischen Austauschs zieht sich durch – zuweilen nur noch als leerer Mythos – bis in die Shoppingmalls der Gegenwart. Das Bundesverfassungsgericht, sagt Brigitte Sölch, beruft sich auf das Recht des an­tiken Forums, um zu begründen, war­um am Frankfurter Flughafen demons­triert werden darf.

Eben weil sie sich auf die Ideen der Antike berief, konstatiert die Kunsthistorikerin, gelang es der Renaissance, aus der Chronologie herauszutreten. Und sie erinnert an die Sockelzonen der alten Palazzi, die oft zu Sitzbänken vorgezogen wurden. Wer vorgelassen werden wollte, der musste zunächst dort draußen warten. So verlangte es das höfische Protokoll. Und siehe da: Heute erweisen sich die Sitzgelegen­heiten als unerwartete, beinahe sub­versive Geste der Gastfreundschaft in einem öffentlichen Raum, der vom Fremdenverkehrsamt bis in den letz­ten Winkel kommerzialisiert wurde: Wer sich hinsetzen möchte, das hat jeder Reisende intus, der muss zumin­dest einen Cappuccino bestellen. Und dann plötzlich diese Einladung, auf dem Sockel eines Palasts Platz zu neh­men, gratis, und eine Postkarte nach Hause zu schreiben ...

Locker bleiben, Seelenruhe bewahren, tranquillità dell’animo. So hatte es Al­berti gesagt. Vernunft, Reflexion und Verantwortung. Die Front der Kirche Santa Maria Novella baute er auf einem vorhandenen Fundament aus dem Mit­telalter. Passte seinen Plan an, wo es nötig war, und entwarf eine spektakuläre Fassade aus grünem und weißem Mar­mor, die ganz und gar dem Geist der neuen Zeit verpflichtet war.

Es geht um Erziehung durch Architektur

Manchmal liegen Sparsamkeit, ökolo­gisches Denken und Respekt für Geschichte und Identität eines Ortes eben erstaunlich nahe beieinander. Und für die beiden Forscherinnen ist es nur ein gedanklicher Katzensprung von den Sitzbänken und dem sakralen Ensemb­le gegenüber dem Bahnhof von Florenz bis zum Gegenbeispiel, dem Humboldt­forum in Berlin – bis zur Rekonstruk­tion eines Schlosses also, dessen Gestus ganz und gar in eine idealisierte Vergangenheit gerichtet ist. Und das, nebenbei, dem alten und neuen Zentrum im Osten der Stadt sehr unklug die Rückseite zuwendet.

Hätten nicht besser die Uffizien als Vorbild gedient? Ihr Erbauer war Gior­gio Vasari, wirft Hana Gründler ein, die neben Alessandro Nova eine der sechs Mitherausgeberinnen einer Neuedition der berühmten Lebensbeschreibungen des Künstlers, Künstlerbiografen und Baumeisters ist. Vasari habe ein ganzes Stadtviertel abreißen lassen, um dem damals neu erwachten, republikani­schen Selbstverständnis der Kommune ein Verwaltungszentrum zu geben. Die berühmte Kunstsammlung wurde ja erst wesentlich später dort ausgestellt, obgleich die Medici ihrer Sammellei­denschaft und Kunstbegeisterung ge­rade in der Tribuna der Uffizien schon früh Ausdruck verliehen.

Und wie selbstverständlich beruft sich die Kunstwissenschaftlerin und Philosophin auf Begriffe aus dem Latein­unterricht, auf cives und civitas, den Bürger und die städtische Gemein­schaft, als Maßstäbe für zukunftsoffenes Bauen. So war es offenbar immer in Flo­renz. Es ging – und es geht – um die sitt­liche Erziehung des Menschen durch die Architektur. Und tatsächlich hat so­gar Vasari Rücksicht genommen auf sol­che Spuren der Vergangenheit, aus de­nen Zukunft wachsen und sich nähren konnte. Er hat alte Pläne studiert und ausgewertet und zu einem Handbuch für seine Zunft, einem Libro de’ disegni, zusammengefasst, hat Spolien, Bauteile aus früheren Zeiten, verarbeitet und Teile einer Kirche aus dem Mittelalter in sein funkelnagelneues Regierungszent­rum am Ufer des Arno integriert.

Der Architekt tritt auf als Archivar und Kurator, als Rechtsgelehrter und Moralphilosoph – war die politische, gesellschaftliche Verantwortung der Architektur damals also größer? Nicht unbedingt, meint Brigitte Sölch. Aber sie war wohl näher an ihren geistigen Wurzeln in der Antike. Wo die Grenzen der Stadt auch Grenzen eines Rechtsraums sind, ist die Bedeutung der Bauten konkret. Insofern ist Florenz schon immer so etwas gewesen wie der Prototyp ei­ner modernen Stadt.

Wenn die Fassade einer Kirche wie Santa Maria Novella auf den Fundamenten einer Vergangenheit aufbaut, so ist der Respekt gegenüber dieser Ver­gangenheit greifbar; wenn sie in ihrem Aufbau in eine neue Zeit weist, ist dar­in umso klarer ein Programm für die civitas, die Stadtgesellschaft zu erkennen. Und wenn sie Materialien der Umge­bung nutzt, wie sie auch in der Vergangenheit genutzt wurden, bestätigt sie die Identität der Stadt an diesem Ort und bietet dem Aufbruch ein fest veranker­tes Fundament. Da muss nicht mehr viel erklärt werden: Die Bauten der Ge­meinschaft sind ja jederzeit zu betreten.

„Erwarten Sie keine baufertigen Lö­sungen von uns“, wird Brigitte Sölch irgendwann sagen. „Unsere Gruppe stellt nur die richtigen Fragen.“ Wäh­rend Achim Reese, derzeit Doktorand im Projekt, die Humanisierung der Ar­chitektur nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs untersucht und damit das Klischee von einer vermeintlich „unmenschlichen“ Moderne herausfordert, hat seine Vorgängerin Nele De Raedt das Verhältnis von moralischem Han­deln, Palastarchitektur und der Patronage von Päpsten und Kardinälen un­ter die Lupe genommen.

Zu den Fragen zählt auch, was Ar­chitekten der Gegenwart von der frü­hen Neuzeit lernen können. Sie wird nie zu beantworten sein, so stellen die Forscherinnen und Forscher klar, ohne direkten Bezug auf die politische Praxis und den eigenen Alltag als bauender Architekt. Und jede gültige Antwort geht aus von der Erkenntnis, dass neu­es Terrain nur über die Auseinanderset­zung mit den Ideen und Disputen der Geistesgeschichte zu erreichen ist. Und dass ethische Positionen über eine all­gemein formulierte Moral hinaus i­mmer den Bezug zu einem konkreten ge­sellschaftlichen Gefüge voraussetzen, zur Realität der eigenen Möglichkeiten.

So hatten es auch Leon Battista Al­berti in der idealen Figur des Stoikers Agnolo Pandolfini oder sein in Mailand tätiger Zeitgenosse Filarete in seinem Traktat zur Architektur gefordert und konkrete Ideen zur Planung daraus ab­geleitet. Grundlagen einer klugen Bau­kunst, nach wie vor.

Nötig sind Debatten über die Zukunft des Bauens

Um die Ideale mit Leben zu füllen, gestatten sich die Wissenschaftlerinnen eine Utopie: Danach sollte ein ernst zu nehmender Architekt auch heute noch verdammt gut denken, argumentieren und schreiben können. Wie die großen Schriftsteller und Baumeister der Renaissance: Manifeste, Traktate, Polemiken und Positionspapiere. Es geht darum, Bauherren zum Streit auf Augenhöhe herauszufordern und große, grundlegende Debatten über die Zukunft des Bauens anzustoßen. Es geht um Nachhaltigkeit, Bewohnbarkeit und Ethik. Den Niederländer Rem Koolhaas mit seinen eingehenden Analysen und sorgsam entwi­ckelten Thesen zur Architektur nennen Gründler und Sölch als Vorbild. Das Gegenmodell wäre der handelsübliche Stararchitekt, der nur einen persönlichen Stil zum Markenzeichen aufpustet. Mit eher kurzem Verfallsdatum.

Florenz ist schwer zu ertragen. Vor allem für seine Bewohner. Dass der Tourismus das Leben in der Stadt und die Wirtschaft bestimmt – daran haben sie sich gewöhnt. Sie tragen ja selbst auch Verantwortung. Seit zwei oder drei Jahren aber, so berichten die For­scherinnen, sei Wohnraum im Zent­rum für die Bürger fast unerschwinglich geworden – weil jedes Zimmerchen über Onlineportale wie Airbnb raschen und schwer zu kontrollierenden Profit verspricht. Florenz verliert sich selbst an den Fremdenverkehr.

Also raus nach Scandicci! Für die Ethik- ­ und ­ Architekturgruppe ist der Vorort im Westen eine Bestätigung da­für, dass die Florentiner Fähigkeit, auf der Grundlage einer gewachsenen und im beständigen Disput gehärteten Iden­tität Neues hervorzubringen, immer noch funktioniert. In Scandicci erlebt die Stadt seit 2006 eine Art Futurismus 2.0: Der britische Architekt Richard Ro­gers, der das Centre Pompidou in Paris gebaut hat und übrigens in Florenz ge­boren ist, hat dort den Vorstoß gewagt, den Stadtraum ganz neu zu definieren. Nämlich als Metropolregion, deren Funktionen und Strukturen zu einem Netzwerk ausgezogen werden. Ein mo­dernes Verkehrskonzept reduziert das Gedränge auf den Straßen, Versorgung und Verwaltung rücken wieder in die Nähe der Bürger. Vielleicht kehrt Flo­renz ja so zu sich selbst zurück.

Das Schönste ist, und Brigitte Sölch kommt geradezu ins Schwärmen, dass Rogers ganz nach dem Vorbild der gro­ßen Baumeister Formulierungen ge­sucht und gefunden hat, die Formen und Ästhetik der Umgebung sensibel und respektvoll aufnehmen, zitieren und integrieren – aber nicht etwa die fernen Kuppeln und Loggien der Innenstadt, sondern die hiesige Wohnarchitektur der 1950er- ­ und 1960er-­Jahre, die typischen, von hellem Gitterwerk und rotem Ziegel gegliederten Fassaden und mittendrin ein von damals übrig geblie­benes Rathaus aus Beton brut (Sichtbe­ton), dem die Umgebung plötzlich eine ganz neue Leichtigkeit und Würde ver­leiht. Sehr klug, sagt die Kunsthistorik­erin. So könne Architektur eine Gegen­wart in die Zukunft leiten. Touristen seien dort draußen nie zu sehen. Aber leider auch nur sehr selten ein Architekturhistoriker oder Architekt.

Mal angenommen, sie hätten sich am Wettbewerb um die Gestaltung der Fläche beteiligt, auf der bis zur Spren­gung durch das Regime der DDR das Berliner Stadtschloss stand – was hätten sie dort gebaut? Die beiden Wissenschaftlerinnen zögern kaum; der Gedanke ist ihnen aus ihren Symposien und fortgesetzten Dialogen offenbar vertraut. Der Palast der Republik ist verschwunden, eine prägende Phase der Geschichte rüde getilgt. Warum also nicht den physischen und historischen Leerraum dazu nutzen, tatsächlich die Welt nach Berlin einzuladen? In die Enge der Umgebung einen vertikal geschichteten Stadtraum zu bauen, China oder Brasilien als Vorbild, Le Corbusier oder die Niederländer MVRDV mit ihrem Expo-Pavillon als geistige Paten. Eine Mischung aus öf­fentlichen Funktionen, so stellen sie sich das vor, mit einem Sportplatz in der ersten Etage, darüber Kinos, Bars und Bibliotheken, Plätze und Foren. Und auf jeden Fall im offenen Erdgeschoss einen Möglichkeitsraum für Kul­tur und Subkultur. Nicht definiert und immer wieder neu anzueignen.

Es wäre wohl die bessere Lösung gewesen. Denn sie hätte bestätigt, was schon die klassischen Denker immer wieder gefordert und begründet haben: Die Stadt gehört ihren Bürgern.

AUF DEN PUNKT GEBRACHT

  • Architektur und Stadtplanung spiegeln das Menschenbild und die Idee vom Zusammenleben der Bewohner in der jeweiligen Epoche wider. Umgekehrt beeinflusst die Bauweise das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft.

  • Das Projekt „Ethik und Architektur“ am Kunsthistorischen Institut Florenz untersucht diese Wechselwirkungen und ihre Entwicklung von der Renaissance bis in die Gegenwart.

  • Eine zentrale Rolle spielen öffentliche Plätze als Orte des geistigen und politischen Austauschs. Zudem geht es um die Herausforderung, vorhandene und neue Bauten zu einer Einheit zusammenzuführen.

  • Wie in der Renaissance sollten Architekten auch heute ihre planerischen und gesellschaftlichen Ideen zu Papier bringen und zur Diskussion stellen.

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