Die Kehrseite der Medaille

Der UNESCO-Welterbe-Titel bringt außer Prestige auch manchen Nachteil

Anfang Juli tagte das World Heritage Committee der UNESCO – das Gremium, das Denkmälern, Städten und Landschaften den Titel „UNESCO-Welterbe“ verleihen und auch wieder entziehen kann. Die ehrenvolle Auszeichnung bedeutet meist touristische Aufmerksamkeit und entsprechende Einnahmen. Doch die Medaille hat auch eine andere Seite. Mit ihr befasst sich Christoph Brumann vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle: Er hinterfragt das Vergabeverfahren und untersucht die unterschiedlichen Folgen des Welterbe-Titels für die Bewohner vor Ort.

Die Freude war groß am Wochenende auf der schwäbischen Alb. Sechs Höhlen im Ach- und im Lonetal, in denen die ältesten bekannten Kunstgegenstände der Menschheit gefunden wurden, gehören nun zum UNESCO-Welterbe. Damit hat Deutschland 42 Stätten, die den prestigeträchtigen Titel tragen. So schön das für die Orte hierzulande ist – global betrachtet sind die Welterbetitel äußert ungleich verteilt. Deutschland ist auf der Welterbe-Liste ebenso wie viele andere europäische Länder üppig vertreten, der globale Süden hat das Nachsehen.

„Es gibt schon lange Kritik am Eurozentrismus des Welterbes“, sagt Christoph Brumann, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung. Der Ethnologe hat nachvollzogen, wie sich die Idee, kulturelles Erbe und Naturschätze zu schützen, entwickelt hat. Ein erster Schritt war die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten, die vor dem Hintergrund der Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg 1954 geschlossen wurde. In den 1960er-Jahren begann sich die UNESCO für den Erhalt von Kulturgütern zu engagieren, allen voran für die altägyptischen Tempel von Abu Simbel und Philae, die durch den Bau des Assuan-Staudamms bedroht waren. Der Einsatz hatte Erfolg, die Tempel wurden versetzt, auch mithilfe von Spenden aus aller Welt. 1972 schloss die UNESCO das Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt, sechs Jahre später wurden die ersten zwölf Stätten zum Welterbe erklärt.

Schützenswerte Alltagskultur

„Am Anfang war Afrika noch ganz gut vertreten und Indien führte die Liste an“, erzählt Brumann. „Dann bemerkten die europäischen Staaten, wie sehr sie vom Welterbe-Status profitieren konnten. Außerdem entsprach das damalige Konzept der Kulturstätten sehr gut den europäischen Gegebenheiten. Und die Europäer verfügten über die Mittel und das Know-how für erfolgreiche Bewerbungen.“ Entsprechend stieg die Zahl der Welterbe-Stätten in Europa stetig an. Doch das rief auch Kritiker auf den Plan. In den 1990er-Jahren wurde das Konzept reformiert. „Welterbe“ wurde weiter gefasst, Kulturlandschaften wurden einbezogen, gelebte Traditionen bekamen mehr Gewicht. Dazu kam 2003 eine weitere UNESCO-Konvention mit dem Ziel, das immaterielle Kulturerbe der Menschheit zu schützen, also mündliche Überlieferungen, Musik, Theater und Tanz, Rituale und Feste sowie traditionelle Handwerkstechniken.

Aus Sicht von Christoph Brumann war das ein wesentlicher Schritt: „Die UNESCO hat sich dem ethnologischen Verständnis von Kultur angenähert, also weg vom Meisterwerk und von Artefakten der Eliten, hin zum Alltagsleben und seinen Spuren.“ An der ungleichen Verteilung der Welterbe-Stätten hat das allerdings nur wenig geändert. Nach wie vor stellen Europa und Nordamerika fast die Hälfte der Stätten, Afrika nicht einmal zehn Prozent. Laut Brumann liegt das unter anderem daran, dass der Aufwand und die fachlichen Anforderungen für die Nominierung immens sind. Dazu kommt, dass der Status zumindest kurzfristig kein Geld bringt, sondern die Staaten stattdessen Kosten für den Erhalt der Welterbe-Stätten tragen müssen.

Christoph Brumann befasst sich darüber hinaus mit der Frage, was der Titel vor Ort bewirkt. Dazu hat er 2016 das Buch „World Heritage on the Ground: Ethnographic Perspectives“ herausgegeben, in dem Ethnologinnen und Ethnologen schildern, welche Effekte sie an Welterbe-Stätten vor allem außerhalb Europas beobachten.

Touristen verdrängen Einheimische

Eine Folge ist häufig ein Massenansturm an Besuchern . „Davon kann die Bevölkerung profitieren, oft leidet sie aber auch darunter“, sagt Brumann. So haben in Lijiang, im Südwesten Chinas, Touristen die ursprünglichen Bewohner von der Volksgruppe der Naxi großteils aus der Altstadt verdrängt. Die Läden werden häufig von zugewanderten Han-Chinesen geführt. Die verbliebenen Naxi-Familien sehen den UNESCO-Titel mit gemischten Gefühlen: Sie können zwar mit Folklore-Aufführungen Geld verdienen, fühlen sich dabei aber oft wie lebende Ausstellungsstücke.

Besonders in größeren Städten geraten die Vorgaben der UNESCO immer wieder in Konflikt mit der Stadtentwicklung – wie derzeit in Wien zu beobachten. Wegen eines geplanten Wohnhauses von 66 Metern Höhe hat die UNESCO jüngst das Welterbe der Wiener Altstadt auf die Rote Liste der gefährdeten Stätten gesetzt – zum Ärger vieler in der Stadt, in der massiver Wohnungsmangel herrscht. Die Aberkennung des Dresdner Welterbe-Titels wegen des Baus einer Elbbrücke hat hierzulande für Schlagzeilen gesorgt, aber auch in Städten wie London, Sankt Petersburg, Riga, Barcelona und Istanbul haben Bauprojekte in den vergangenen Jahren Kontroversen mit der UNESCO ausgelöst.

In Asien und Afrika, wo es keine Denkmalschutz-Tradition wie in Europa gibt, ist den Menschen die Auffassung, die westliche Experten vom Erhalt historischer Monumenten haben, zuweilen fremd. Die Einwohner der Medina im marokkanischen Fes sind sich etwa des Welterbe-Titels ihrer Heimatstadt kaum bewusst, wie die belgische Ethnologin Manon Istasse herausfand. Die UNESCO ist weit weg, ihre Konzepte wenig präsent, was den dortigen Gebäuden jedoch in keinster Weise schadet. Nach den Erkenntnissen von Istasse haben die Menschen in Fes eine sehr enge und liebevolle Beziehung zu ihren Häusern. Für sie sind die Gebäude nicht Teil einer abstrakten Kategorie „Kulturerbe“, sondern Räume, die die Sinne ansprechen und Gefühle wecken, die mit Erinnerungen verbunden sind und in denen sie ihr Leben führen. Wenn etwas zu renovieren ist, legen sie von jeher selbst Hand an. Damit haben sie eine Expertise entwickelt, die sich von der professioneller Konservatoren grundlegend unterscheidet.

Denkmalschutz versus Tradition

In Laos beklagen die Bewohner von Luang Prabang die strengen Renovierungsvorgaben für die Häuser der früheren französischen Kolonialherren. Die Regeln stammen großteils französischen Stellen, deren nostalgische Perspektive auf die Kolonialzeit für die Einheimischen schwer nachvollziehbar ist. Auch an den berühmten Tempelanlagen von Angkor in Kambodscha gibt es Spannungen zwischen lokalen Bedürfnissen und den Denkmalschutz-Behörden: Der Bevölkerung dient der Ort seit langem zum Sammeln von Holz und Waldfrüchten ebenso wie zur Fischzucht und als Viehweide. Zudem gibt es den Wunsch, die Anlagen weiterhin religiös zu nutzen und auch neue Tempel an dem geheiligten Ort zu errichten. Beidem stehen die Regeln der nationalen Behörden entgegen, die – teils in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der UNESCO – sehr restriktiv handeln. So kann der Welterbe-Status gerade im globalen Süden dazu führen, dass sich die Menschen von den damit verbundenen Einschränkungen bevormundet fühlen.

Ein besonderes Problem ergibt sich aus der dezidiert säkularen Herangehensweise der UNESCO beim Schutz religiös genutzter Stätten. Dadurch ergeben sich fast zwangsläufig Konflikte mit den Nutzern, für die ihre Religion einen höheren Stellenwert besitzt als der Denkmalschutz. So erhielten die Felszeichnungen von Kondoa-Irangi in Tansania den Welterbe-Status, ohne dass zuvor ausreichend geklärt wurde, wie sich die rituelle Nutzung des Geländes damit vereinbaren lässt. Zu den lokalen Riten gehört es, an einer Stelle die Felszeichnungen mit Pombe, einer Art Bier, zu bespritzen und zu bespucken, was die Geister der Vorfahren besänftigen soll. Diese traditionellen Praktiken hat die staatliche tansanische Denkmalbehörde inzwischen verboten, um das Welterbe in ihrem Sinne zu schützen. Ein anderes Beispiel findet sich im nigerianischen Djenné: Dort kam es zu Unruhen, als der Verdacht aufkam, dass Ungläubige an der Restaurierung der großen Moschee in der Welterbe-Stadt mitarbeiten.

Ritterschlag ohne Rüstung

Bei religiösen Extremisten kann der Welterbe-Status geradezu Aggressionen wecken: „Der Islamische Staat hat sehr bewusst Stätten wie Palmyra oder Hatra zerstört“, sagt Christoph Brumann. „Nur seine Auffassung vom Islam soll Bestand haben, weswegen alle anderen religiösen und kulturellen Wurzeln vernichtet werden sollen. Und gleichzeitig geht es darum, die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu ziehen.“ Zerstörungen wie diese zeigen, dass der Welterbe-Titel ein Ritterschlag ohne Rüstung ist. Die Weltgemeinschaft hat wenig Handhabe gegen diejenigen, die dem Erbe der Menschheit Schaden zufügen.

„Mit dem Welterbe-Status ist der etwas naive Wunsch verbunden, dass das großartige Erbe die Menschen verbinden wird. Aber so einfach ist es nicht“, sagt Brumann. Nur wenn die Konflikte, die vor Ort entstehen, in jedem Einzelfall ernst genommen werden, kann die Bewahrung des Menschheitserbes zum Anliegen aller werden.

MEZ

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