Gespaltenes Königreich – gespaltenes Europa

Der Brexit aus einer walisisch-eurasischen Perspektive - Ein Meinungsbeitrag von Chris Hann, Direktor am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung

Freitag, 24. Juni 2016

Das Establishment hatte eine klare Linie vorgegeben. Die Führung der drei größten politischen Parteien, die Ökonomen, die Akademiker und Künstler – eine überwiegende Mehrheit sprach sich schon Monate vor dem Referendum klar gegen einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU aus. Aber das „Yookay“-Volk hat sich anders entschieden.

Als Ethnologe ist man versucht, sich zu freuen, dass die Bevölkerung aus emotionalen Gründen gegen ihr materielles Interesse gestimmt hat. So viel zur Theorie des nutzenmaximierenden Verhaltens! Das kleine Fach Ethnologie hegt seit seinem Bestehen, Sympathien für die Bestrebungen der Völker nach Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein. Zudem kommt eine solche Ablehnung der Meinung der Eliten selten vor – sollten wir sie nicht von Herzen befürworten?

Umso mehr, weil es neben diesen populistischen Neigungen des Faches gute politische und ökonomische Gründe gibt, warum man diese Entwicklung begrüßen könnte. Die Lage der EU ist katastrophal, die europäischen Ideale des 20. Jahrhunderts sind untergegangen. Stattdessen herrscht eine neoliberale Hegemonie in Europa, angeführt von Deutschland, wo das Verfassungsgericht eben in diesen Tagen die grundsätzliche Unterstützung der Geldpolitik von Mario Draghi abgesegnet hat. Für einen Optimisten könnten daher nun der „Brexit“ und der Rücktritt von David Cameron zu einem Umdenken der europäischen Institutionen und einer Rückkehr zu den Grundprinzipien der Demokratie führen.

Und trotzdem fühle ich mich am Morgen danach sehr unwohl. Für Cameron hege ich keine Sympathie, aber der Preis für den Sieg der Anti-EU-Kräfte war sehr hoch. Wer die Boulevardpresse in Yookay in den letzten Wochen verfolgt hat, wird verstehen, was ich meine. Die Sun titelte gestern mit der einfachen Schlagzeile „Independence Day“. Ihre Ressentiments gegen Ausländer haben überall Wirkung gezeigt, obwohl die regionalen Unterschiede sehr groß sind.

Selbst in meiner Heimat Wales muss ich leider feststellen, dass im Gegensatz zu den Schotten die Mehrheit für den „Brexit“ gestimmt hat. Dieses Ergebnis kommt wenig überraschend. In den dicht besiedelten Gebieten in South Wales liest eine überwiegend proletarische Bevölkerung eher die Sun und nicht den Guardian, der fast alleine bemüht war, seinen Lesern während der gesamten Kampagne andere Weltbilder anzubieten. Es ging bei diesem Referendum nicht um die Identität der walisischen Heimat, sondern um populistischen Protest gegen das neoliberale Europa, aufgehetzt von Journalisten und skrupellosen Politikern wie Boris Johnson - eigentlich ein Clown, der schon als Journalist in Brüssel in den 90er-Jahren Spaß an der ständigen Diffamierung der EU hatte. Solche gefährlichen Clowns kommen an die Macht, und nicht nur in Yookay.

Donnerstag, 23. Juni 2016

Im Vorfeld des britischen Referendums über die EU-Mitgliedschaft („Brexit“) wurde ich regelmäßig gefragt, wie man wählen sollte. Ich habe für gewöhnlich mit dem Zitat eines englischen Dichters geantwortet: „Die Pest auf eure beiden Häuser!“

Wie viele andere Briten bin ich zutiefst unglücklich über die Richtung, in die Politiker mit sehr wenig demokratischer Legitimität (wie oft wurden Martin Schulz und Jean-Claude Juncker dabei gesehen, wie sie sich am Wahlkampf in Großbritannien beteiligten?) die Europäische Union in den letzten Jahren geführt haben. Die Bürokratie in Brüssel ist monströs. Die Sparpolitik, die vor allem von Deutschland auferlegt wurde, führte zu unnötigem Leid, insbesondere in den südlichen Mitgliedsstaaten. Die Geister des Kalten Krieges wurden im Osten schleichend wiederbelebt. Die NATO wird weiterhin vergrößert (zuletzt mit der Aufnahme von Montenegro) und auch die Militärausgaben steigen.

Die Unfähigkeit der Europäischen Union, mit dem „Zuwanderungsproblem“ fertig zu werden, ist das offensichtlichste Symptom ihrer gegenwärtigen Dysfunktionalität. Es ist einfach, rechtspopulistische Führer in Ländern wie Ungarn und Polen zu verurteilen, wenn sie sich auf europäische christliche Werte berufen, um die Errichtung von Zäunen zu rechtfertigen, die Asylbewerber fernhalten sollen.

Ich hege jedoch auch nicht viel mehr Sympathie für liberale Eliten in der „alten EU“, die eine angemessene Willkommenskultur für die Flüchtlinge verkünden, es aber nicht schaffen, ehrlich die sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Zuwanderung für die schwächeren Gruppen ihrer eigenen Bevölkerung anzusprechen. Die Integration von Millionen von Neuankömmlingen ist eine echte Herausforderung. Die gegenwärtige Situation untergräbt jedoch größere Integrationsprozesse: Strategien der sozialen Eingliederung, die über Generationen seit dem Zweiten Weltkrieg gefestigt sind. Es ist höchste Zeit, dass die Masken der Heuchelei abgenommen werden, vor allem in den Debatten über Migration. In den letzten Wochen der Kampagne hat die Problematik der Zuwanderung in den Debatten in Großbritannien immer mehr Raum eingenommen. Selbst in den Mainstream-Medien treten rassistische Parolen in Erscheinung.

Nach dem Beitritt der meisten vormals sozialistischen Länder zur EU in den Jahren 2004 bis 2007 führte der relative Erfolg der britischen Wirtschaft unter „New Labour“ zu einem massiven Zustrom von Osteuropäern. Deren Anwesenheit war von Anfang an in den Bereichen, in denen sie am präsentesten sind, umstritten. Kommt es zu einem Rückgang der Konjunktur, werden sie zwangsläufig noch genauer unter die Lupe genommen. Das ist die Logik der Marktwirtschaft. Die Regierung kann an Sozialhilfeansprüchen basteln, aber solange Großbritannien ein Mitglied des Binnenmarktes bleibt, kann sie nichts tun, um die Grundregeln zu ändern, die die Freizügigkeit und das Recht auf Arbeit garantieren.

Dies scheint der springende Punkt zu sein. Ich bin ein Nutznießer dieser elementaren Freiheit, da es mir möglich war, mit minimalem bürokratischen Aufwand von Großbritannien an meinen derzeitigen Wohnort in Deutschland umzuziehen, als ich ein Stellenangebot von der Max-Planck-Gesellschaft erhielt. Sollte eine solche Mobilität nicht für jeden möglich sein? Aber während ich das Glück hatte, echte Entscheidungen treffen zu können, sind die Möglichkeiten sehr begrenzt, die der überwiegenden Mehrheit derjenigen zur Verfügung stehen, die umziehen, um in Großbritannien oder anderen reichen Ländern Nordeuropas Arbeit zu suchen. Sie kommen, oftmals unter enormen Gefahren, hierher, da es in ihren Heimatländern keine befriedigende Arbeit für sie gibt. Ganz zu schweigen von denjenigen, die vor Unterdrückung fliehen; auch eine beträchtliche Anzahl.

Ethnologen warnen vor neuen Formen des Faschismus

Laut Karl Polanyi ist Arbeit eine der drei „fiktiven Waren“ (die anderen sind: Grund und Boden sowie Geld). Mit fiktiv meinte er unnatürlich: Etwas, das nicht für den Verkauf hergestellt werden kann, wird einfach als eine weitere unpersönliche Ware gehandelt. In Notizen aus dem Jahr 1937 beschrieb er den Umgang mit der menschlichen Arbeit als eine Ware, die „wie Gurken gekauft und verkauft wird“ als eine „groteske Perversion des gesunden Menschenverstandes“ (zitiert in Dale 2016: 168). Dies trat in Großbritannien zum ersten Mal im 19. Jahrhundert auf und führte in vielen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts  zum Faschismus. So ist es wenig verwunderlich, dass bedeutende Ethnologen Europas (gemeinsam mit anderen Kommentatoren) anfangen, vor dem Aufstieg neuer Formen des Faschismus vor unseren Augen zu warnen (Holmes 2016).

Weit entfernt davon, eine glaubwürdige emanzipatorische Alternative zu nach innen gerichteten Nationalismen und zum Aufstieg des Faschismus darzustellen, trägt Europa unter dem Deckmantel Brüssels - ganz zu schweigen von der Zentralbank in Frankfurt - die Hauptverantwortung für das gegenwärtige Chaos. Wenn sich die Briten mit einer kleinen Mehrheit entscheiden, in der EU zu bleiben (was zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Zeilen wahrscheinlich erscheint, zumindest glauben die Märkte daran), dann wird dies nicht den geringsten Einfluss auf die neoliberale Politik haben, die in den letzten Jahrzehnten ein solches Chaos verursacht hat. (Ja, ich weiß, dass viele Sozialwissenschaftler sagen, der Begriff neoliberal hätte seine besten Tage hinter sich. Aber es ist immer noch der beste Begriff, den wir haben, um die Politik zu charakterisieren, die in den letzten Jahrzehnten zutiefst regressive Auswirkungen sowohl zwischen Mitgliedsstaaten als auch innerhalb eines jeden einzelnen davon hat.)

Aber gerade dann, wenn ich an der EU verzweifle, denke ich an Nigel Farage, Boris Johnson und die anderen „kleinen Engländer“, die ihre Landsleute drängen, für die „Unabhängigkeit“ des „Yookay“ zu stimmen. Eine Wortschöpfung von Raymond Williams aus der Zeit, als Europa noch eine attraktive Option für einen linksgerichteten Waliser war. Gibt es angesichts unserer miteinander verbundenen, globalen politischen Ökonomie etwas, das absurder sein könnte, als für eine Wiedererlangung der „Souveränität“ einzutreten? Gibt es etwas Geschmackloseres als die populistische Rhetorik, die Ausländer als die Ursachen von Großbritanniens Abstieg ins Visier nimmt?

Meiner Meinung nach ist das Dilemma in Bezug auf den Brexit – Kosmopolitismus unter der Führung von Brüssel versus den in London ansässigen Nationalstaat – fadenscheinig. Keines klingt überzeugend. Meine Heimat (oder ojczyzna prywatna, in der Terminologie des polnischen Soziologen Stanisław Ossowski) ist nicht Großbritannien, sondern Wales. Meiner Meinung nach kann weltoffen zu sein nicht bedeuten, auf die EU und die NATO, sondern auf die Welt zu setzen. Innerhalb eines echten Kosmopolitismus ist die längst überfällige Anerkennung von der Einheit Eurasiens entscheidend für einen ausgewogeneren Blick auf die Weltgeschichte und den globalen Willen, eine nachhaltige Zukunft aufzubauen.

Wenn keine der Optionen auf dem Referendumszettel Anlass zum Optimismus gibt, sollte ich mich dann enthalten? Dies war lange Zeit meine Meinung, aber je mehr die Medien die alberne, unappetitliche Propaganda der UKIP und andere Teile der „Austrittskampagne“ herausposaunten, desto entsetzter wurde ich. Walisisch innerhalb Europas zu bleiben ist sicherlich besser, als Walisisch innerhalb der ojcyzna ideologiczna der „Yookay“ zu sein. Daher würde ich, alles in allem, jedoch ohne Enthusiasmus, meine Stimme zugunsten eines Verbleibs innerhalb der Europäischen Union abgeben.

Recht auf Briefwahl aberkannt

Trotz meines ehrlichen Bemühens, dies zu durchdenken und entsprechend dieser schwierigen Entscheidung zu handeln, habe ich leider erfahren müssen, dass nach mehr als 15 Jahren, die ich außerhalb des Landes verbracht habe, meine bürgerlichen Rechte auf Briefwahl aberkannt worden sind. Dennoch werde ich mit Sorge die Ergebnisse verfolgen und die regionalen Unterschiede beobachten. Wird sich im Fall eines Brexits Wales an Schottland anschließen und für einen neuen Beitritt werben? Möglich. Aber leider hat bei den Wahlen zur walisischen Versammlung im März 2016 die UKIP (Wales) in meinem Heimatbezirk Monmouthshire mehr Stimmen erhalten als die walisischen Nationalisten.

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht