Out of Britain

Großbritannien hat sich mehrheitlich für einen Austritt der Europäischen Union entschieden. Andreas Edel, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für demografische Forschung und für das Netzwerk Population Europe verantwortlich, pendelt viel zwischen europäischen Städten. Hier schreibt er über seine persönlichen Eindrücke aus London und Brüssel, was Demografen zu einem möglichen Brexit sagen und warum Migrationsforschung ganz oben auf der Agenda Europas steht.

Text: Andreas Edel

Der Tag könnte kaum weniger ‚typisch britisch‘ sein: Ein regnerischer Morgen in Westminster, Schüler in Uniform lärmen in den Arkadengängen des Royal College of St. Peter, Parlamentsmitarbeiter eilen mit geschäftigem Blick zu ihrem Arbeitsort, der seine neogotischen Spitzen in den grauen Himmel reckt. Manch ein Tourist schlängelt sich durch den ungewohnten Linksverkehr.

Nur zwei Straßenzüge weiter liegt das „Abbey Centre“ – das nicht nur Konferenzräume vermietet, sondern auch einen „community hub“ für Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft bietet. Nicht wenige von ihnen leben in prekären Verhältnissen – in einer der teuersten Städte Europas. Im Gebäude angekommen, fragen Jugendliche nach dem Weg zur Cafeteria, eine Gruppe von Frauen mit Kopftuch ist auf der Suche nach ihrem Seminarraum. Später wird noch eine Gruppe amerikanischer Gaststudenten zur Veranstaltung dazu stoßen.

An diesem Morgen treffen sich hier Experten auf Einladung der Demografin Jane C. Falkingham, um darüber nachzudenken, was ein Brexit aus demografischer Perspektive bedeuten würde. Falkingham ist Direktorin des Centre of Population Change an der Universität Southampton. Kooperationspartner der Veranstaltung ist Population Europe, ein Netzwerk europäischer Spitzenforschungsinstitute im Bereich der Bevölkerungswissenschaft, dessen Geschäftsstelle von der Max-Planck-Gesellschaft getragen wird.

Oft war in der Debatte der vergangenen Wochen zu hören, dass das Vereinigte Königreich sich nur durch einen Austritt aus der Europäischen Union der massenhaften Zuwanderung von Menschen entziehen könne, die vorrangig die Leistungen des britischen Sozialstaats im Blick hätten. Dabei belegen die Zahlen von Jane Falkingham und ihrem Team etwas ganz anderes:

  • Nur vier Prozent der Menschen in England und Wales stammen aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union.
  • Diejenigen, die dauerhaft in Großbritannien leben, sind in der Regel besser ausgebildet und stehen auch häufiger in Erwerbsarbeit als die entsprechende Vergleichsgruppe britischer Staatsbürger.
  • Viele verlassen die Insel bereits vor dem Eintritt in den Ruhestand: Entweder haben sie ohnehin ihren Aufenthalt vorrangig dazu genutzt, Geld anzusparen und dieses in ihre Heimatländer zu überweisen, sie hatten also von Anfang an eine Rückkehrabsicht. Oder sie werden von den hohen Lebenshaltungskosten abschreckt, die sie sich mit ihren Pensionen nicht mehr leisten könnten; oder sie möchten schlicht ihren Lebensabend in ihren Heimatdörfern und -städten auf dem Kontinent verleben.

Insofern sind, was den Empfang von Sozialleistungen angeht, die meisten EU-Einwanderer in Großbritannien ohnehin eher Nettozahler als Nettoempfänger. Dass Großbritanniens Wirtschaft nach einem Brexit dringend benötigte Arbeitskräfte fehlen würden, ist dabei nur eine Seite der Medaille. Es würden auch nicht mehr genug Dienstleister zur Verfügung stehen, ohne die etwa das Gesundheitswesen in große Probleme kommen dürfte. Von dem in diesem Zusammenhang oft erwähnten Billiglohn-Sektor in England einmal ganz abgesehen.

Die Abspaltung Großbritanniens vom Rest Europas, so die britischen Wissenschaftler weiter, könnte sich aber auch auf viele Familien auswirken: Gerade bi-nationale Familien mit einem britischen und einem EU-Partner würden durch einen Brexit großen Unsicherheiten ausgesetzt, und dies könnte zu Abwanderungen oder einer verstärkten Beantragung der britischen Staatsbürgerschaft führen. Immerhin ist ein Drittel der europäischen Einwanderer mit einem Briten verheiratet. Einen ähnlichen Effekt kann man bereits in Deutschland beobachten, wo sich bei den Kommunalämtern die Einbürgerungsanträge von britischen Staatsbürgern häufen, je näher der Termin des Referendums rückt.

„Wir wissen viel zu wenig über Migration“

Ein anderer Monat, ein anderer Ort, nur der Regen ist stärker, aber Kinder in Schuluniform gibt es hier auch. Die Europäische Kommission eröffnet mit einer feierlichen Veranstaltung in ihrem Hauptsitz in Brüssel das zweite „Knowledge Centre“ im Rahmen des wissenschaftlichen Dienstes der Kommission, welches sich mit Forschungen und Dateninfrastruktur zu Migration und Demografie beschäftigen wird. Die persönliche Anwesenheit der Vizepräsidentin der Europäischen Kommission und mehrerer Europäischer Kommissare sowie eines Vertreters der niederländischen Ratspräsidentschaft zeigt, dass das Thema von der Politik überaus ernst genommen wird.

Das Eingeständnis, dass Politik und Gesellschaft bislang viel zu wenig über die Zuwanderer wissen und hier dringender Bedarf an verlässlichen Daten, methodisch einwandfreier Forschung auf dem aktuellsten Kenntnisstand und entsprechender Politikinformation besteht, zieht sich durch alle Präsentationen. Wie Wolfgang Lutz, Direktor des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital in Wien, betont, haben wir die Zuwanderungswellen noch gar nicht richtig in den Blick genommen, die in den nächsten Jahren insbesondere vom afrikanischen Kontinent noch auf uns zukommen werden.

Wieder zurück in London. Im Verlauf der Podiumsdiskussion treten zwei Befürworter des Brexit ans Mikrofon, und es stellt sich heraus, dass ihre Eltern nach dem Krieg aus Litauen und Polen in das Land kamen und im englischen Kohlebergbau schufteten. Sie selbst sind als britische Staatsbürger geboren und aufgewachsen. Ihre Argumente mögen nicht stichhaltig sein, aber die Emotionalität, mit der sie jene vortragen, macht betroffen, gerade wenn man ihren eigenen „Migrationshintergrund“ kennt. Sie erinnert an das, was man auch bei den Demonstrationen auf dem Kontinent derzeit oft hören kann.

Auch in dem hochrangigen Politikerkreis, der sich in Brüssel versammelt hat, werden die Ängste und Vorbehalte der Menschen in Europa keineswegs ignoriert. Wie ein Vertreter der Kommission in der Diskussion mit einem Augenzwinkern anmerkt, würde ihm vermutlich auch bange, wenn seine Geschwister, die über ganz Europa verteilt leben, sich spontan in seiner komfortablen Wohnung in Brüssel einquartieren wollten. Aber gegen Unwissenheit und Ängste hilft, wie immer wieder betont wird, nur eines – wissenschaftlich verlässliche Informationen und hinreichend aussagekräftige Daten, um politische Lösungen für ein Problem zu finden, das uns in den nächsten Jahrzehnten noch sehr viel intensiver beschäftigen wird, als wir es heute erahnen, und bei dem wir die Meinungsführerschaft nicht den falschen Leuten überlassen dürfen.

In London hat der Regen mittlerweile aufgehört, und Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft sitzen in den Cafés und Restaurants am Themseufer, genießen ihren Feierabend oder ein letztes Bier auf dem Weg nach Hause, genauso wie sie es in Amsterdam, Berlin, Brüssel, Paris, Rom und Warschau vermutlich auch tun würden – wenn es denn nicht gerade regnet. Was ist da schon typisch britisch.

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