Herrschen mit pragmatischer Literatur

Wie Kirchenleute einfache Regelwerke nutzten, um neues Recht im spanischen Amerika zu etablieren

1521 unterwarfen spanische Konquistadoren das Aztekenreich in Mexiko, zwölf Jahre später endete die Eroberung des Inkareichs in Südamerika. Die Herausforderung für die spanische Krone bestand nun darin, ihre Herrschaft über große Völker und weite Distanzen zu sichern. Für die Etablierung des neuen Rechtssystems waren Kirchenleute oft wichtige Unterstützer. Sie beriefen sich weniger auf offizielle Gesetzestexte, sondern nutzten vor allem einfache Handreichungen und Zusammenfassungen kirchlicher und weltlicher Normen. Die Verbreitung und Bedeutung dieser „pragmatischen“ Literatur ist das Thema eines Forscherteams unter der Leitung von Thomas Duve am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt.

Die katastrophalen Auswirkungen der europäischen Expansionspolitik für die indigene Bevölkerung der Neuen Welt sind oftmals beschrieben worden. Weniger Aufmerksamkeit wurde der Frage gewidmet, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass eine vergleichsweise kleine Gruppe von Personen in wenigen Jahrzehnten neue kulturelle Systeme wie Recht und Religion etablieren konnte. Dieser Frage haben sich die Frankfurter Rechtshistoriker angenommen.

Wichtige Quellen für das Team um Thomas Duve sind nicht nur die üblichen Sammlungen obrigkeitlicher Normsetzung oder klassische Rechtsquellen wie das ius commune. Denn diese Werke – in juristischer Fachsprache, oft auch noch in Lateinisch verfasst und mit zahlreichen Kommentaren versehen – waren nur studierten Juristen verständlich, von denen wiederum nur wenige in den Überseegebieten tätig waren. Vielmehr haben sich die Historiker populäre Rechtsliteratur vorgenommen, die im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit weit verbreitet war. Sie diente Praktikern ohne Jurastudium wie Gerichtsschreibern, Notaren und Vögten als Quellen und Handbücher für ihre rechtliche Tätigkeit.

In der rechtsgeschichtlichen Forschung wurde solche „pragmatische“ Literatur, wenn sie denn Beachtung fand, lange Zeit geringgeschätzt. Thomas Duve hält diese Schriften jedoch für unterschätzt: „Es kann eine beachtliche intellektuelle Leistung sein, wie darin komplexe Regeln in verständliche Sprache gebracht werden, wie Wissen verdichtet und neu strukturiert wird.“

Etablierung des Rechtssytsems außerhalb der Städte

Der Direktor am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte hat es sich daher gemeinsam mit Manuela Bragagnolo, Otto Danwerth und David Rex Galindo zur Aufgabe gemacht, die Präsenz und Funktion pragmatischer Rechtsliteratur genauer zu analysieren – konkret solche religiöser Natur. In Kooperation mit dem Sonderforschungsbereich „Schwächediskurse und Ressourcenregime“ an der Goethe-Universität Frankfurt widmen sie sich dem „Wissen der Pragmatici“ im spanischen Amerika von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts.

Von den eroberten Gebieten ist bekannt, dass die Spanier dort rasch Vizekönigreiche und Verwaltungsbehörden einrichteten. Ein wichtiges Herrschaftsinstrument war vor allem in der Anfangszeit die Gründung von Städten, die sich leicht kontrollieren und verteidigen ließen. Der Arm des Gesetzes reichte jedoch nicht weit. Große Gebiete, besonders die Grenzregionen, blieben noch lange Zeit unerschlossen. „Hier aber waren es Kirchenleute, die für die Etablierung von Ordnungsvorstellungen sorgten“, erklärt Thomas Duve. „Und zwar sowohl bei den indigenen Einwohnern als auch bei den spanischen Einwanderern.“

Von Anfang an war die Kirche ein wichtiger Faktor bei der Durchsetzung der Kolonialherrschaft. Die spanische Krone rechtfertigte die Eroberung der Neuen Welt mit der christlichen Missionierung der „ungläubigen“ Einwohner. Die Kirche wiederum unterstützte die Expansionspolitik und beteiligte sich an ihr, indem sie in den Siedlungsgebieten zügig kirchliche Strukturen und Institutionen etablierte sowie in ländlichen Regionen missionierte. In der Karibik, in Zentralamerika, Mexiko und Südamerika errichteten Mönchsorden zahlreiche Klöster, Pfarreien wurden gegründet, und zwischen 1511 und 1620 entstanden mehr als 30 Bistümer. Die Anzahl der Kleriker, die während des 16. Jahrhunderts nach Amerika gelangten – allein etwa 5.400 Ordensleute –, übertraf bei weitem die Zahl der königlichen Verwaltungsbeamten.

Gewissenszwang sicherte Einhaltung der Regeln

So erscheint es plausibel, dass vor allem kirchliche Institutionen und Akteure für die Verbreitung von Recht und Gesetz sorgten – und das durchaus wirkungsvoll, wie der Historiker Otto Danwerth erklärt: „Das Besondere ist, dass die Kirche bei der Seelsorge und Missionierung neben kirchenrechtlichen Normen auch moralische Regeln implementierte und damit eine Verhaltenssteuerung möglich wurde. So zielte die kirchliche Unterweisung auf den Zwang des menschlichen Gewissens statt auf äußere Druckmittel.“ Die Verbreitung christlicher Symbole, die bald allgegenwärtig waren, und die Einübung religiöser Praktiken dürften dazu beigetragen haben, dass sich selbst in dünn besiedelten Gebieten die neuen Verhaltensregeln etablieren konnten.

In der Forschergruppe befasst sich Danwerth vor allem mit der Frage, auf welche Medien Geistliche und Mönche bei der Verbreitung religiöser Normen zurückgegriffen haben. Seine Hypothese ist, dass an Pragmatiker gerichtete Literatur wie Zusammenfassungen größerer moraltheologischer und juristischer Abhandlungen, Handbücher und Breviarien sowie katechetische Anleitungen und Beichtspiegel eine zentrale Rolle gespielt haben. Solche Werke waren im kolonialen Hispanoamerika stark verbreitet. Über Bibliotheksverzeichnisse, Listen der in Mexiko und Lima gedruckten Werke und die aus Sevilla kommenden Buchimporte lässt sich nachvollziehen, dass sie einstmals in Besitz von Bischöfen, Ordensmitgliedern und einfachen Klerikern, aber auch von Kolonialbeamten und Siedlern waren.

Forschung an einem "pragmatischen" Bestseller

Das 1552 verfasste Beichthandbuch Manual de confessores des spanischen Kirchenrechtlers Martín de Azpilcueta (1492-1586) muss geradezu ein Bestseller in der Neuen Welt gewesen sein. Das Beispiel ist besonders interessant, da der auch „Doctor Navarrus“ genannte Azpilcueta sowohl gelehrte Traktate für Theologen als auch an Gemeindepriester und andere Praktiker gerichtete Werke wie das Beichthandbuch verfasst hat. Die Rechtshistorikerin Manuela Bragagnolo arbeitet an einer Gegenüberstellung der beiden Gattungen und der vergleichenden Analyse verschiedener Editionen. Davon verspricht sie sich Erkenntnisse über die Methoden, mit der komplexe Inhalte „epitomiert“, also vereinfacht und komprimiert wurden.

Auf welche Weise Azpilcuetas Bücher und andere pragmatische Werke in entlegenen Missionsgebieten konkrete Verwendung fanden, ist eine der Fragen, die David Rex Galindo, Historiker im Projekt, beantworten möchte. Er untersucht dafür die Rolle des Franziskanerordens bei der Etablierung von Ordnungsvorstellungen in der mexikanischen Grenzregion Michoacán, in der nur wenige Spanier siedelten. Vor dem Hintergrund politischer und religiöser Konflikte geht es ihm um das Problem der Durchsetzung kirchenrechtlicher Normen sowie um die Präsenz und Funktion pastoraler Werke wie eines offiziellen Beichthandbuchs, aber auch anderer von den Franziskanern selbst verfasster Texte.

Das Forscherteam hat in den ersten Monaten gemeinsamer Arbeit die Grundlagen gelegt für die nun anstehenden Untersuchungen in spanischen, portugiesischen und mexikanischen Archiven und Bibliotheken. Von der Auswertung der Ergebnisse und von deren Diskussion erwarten sich die Frankfurter Rechtshistoriker in den kommenden drei Jahren neue Erkenntnisse über pragmatische Bücher, ihren Einsatz und ihre Wirkung für die Etablierung der kolonialen Herrschaft in der Neuen Welt. Nicht zuletzt hoffen sie, dass die Erforschung dieser lange kaum beachteten Literaturgattung im Rahmen frühneuzeitlicher Wissensregime auch für andere Disziplinen anregend sein wird.

MEZ

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht