„Europa ist eine Wette…“
…und die kann schiefgehen. Fritz W. Scharpf, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, übt fundamentale Kritik an der Währungsunion. Und skizziert im Interview einen möglichen Ausweg.
Herr Scharpf, es gibt Volkswirtschaften, die sich mehr auf den Binnenmarkt ausrichten, und solche die ihren Schwerpunkt auf den Export legen. In Ihren Büchern und Artikeln sprechen Sie der Einfachheit halber von den Ökonomien eines idealtypischen Nordens und denen des Südens. Oder von Hartwährungs- gegenüber Weichwährungs-Wirtschaften. Wie gut, dass der Euro all diese Differenzen überbrückt und ausgleicht…
Fritz W. Scharpf: Das tut er leider nicht, im Gegenteil. Aus der unterschiedlichen Ausrichtung der Märkte, vielleicht auch aus kulturellen Gegensätzen resultierten strukturelle Unterschiede, etwa bei den Produktionskosten und, daraus folgend, bei den Inflationsraten. Diese ließen sich etwa durch Anpassung der Wechselkurse weitgehend korrigieren – so lange das möglich war. Doch bei der Konstruktion der Währungsunion hat man solche Strukturunterschiede leider ignoriert. Deswegen kommen Länder, die strukturell besonders wettbewerbsfähig sind, in ein Übergewicht. Und die anderen werden vom Markt verdrängt.
Wir erinnern uns an Griechenland…
Beispielsweise. Eine Währungsunion versucht nun mal, die Unterschiede zu egalisieren. Und weil das nicht mit demokratisch freiwilligen Entscheidungen gelingt, muss sie Zwang ausüben. Das macht sie politisch angreifbar. Und wirtschaftlich führt es dazu, dass die europäische Währungsunion eben jener Teil der weltweiten Wirtschaft ist, der in den letzten zehn Jahren am wenigsten gewachsen ist. Im Vergleich zur OECD oder zu den übrigen Ländern der EU sind die Länder der Währungsunion im Durchschnitt diejenigen mit dem schwächsten Wachstum – wobei das wirtschaftsstarke Deutschland sogar in die Berechnung mit eingegangen ist.
Muss man da nicht zu dem Schluss kommen, dass die Währungsunion ein schwerer Klotz am Bein ist und eigentlich eine schlechte Idee war?
Der Meinung bin ich, ja!
Die Absicht dahinter war aber, eine europäische Identität zu ermöglichen und zu fördern. Ist das fehlgeschlagen?
Man hat ein technisches System aufgebaut, in dem die Währungen egalisiert wurden. Die Idee war, mit dem gleichen Geld in Italien und in Finnland bezahlen zu können. Für Touristen eine schöne Sache. Aber für eine politische Identifikation der einzelnen Bürgerschaften mit der Währungsunion wurde nichts unternommen.
Ist das Problem dabei, dass es keine europäische Identität gibt? Oder das wir am falschen Ende begonnen haben?
Dass wir am falschen Ende begonnen haben. Die Währungsunion ist der Fall einer ökonomischen Über-Integration. Eine europäische Identität kann sich entwickeln, wenn Europa etwas tut, was die Mitglieder und ihre Wähler gemeinsam wollen. Das Europäische an Europa äußert sich ganz schnell, wenn es von außen herausgefordert wird, siehe Trump, die Ukraine oder der Nahe Osten. Das Europäische an Europa ist: Wir haben uns nach dem Zweiten Weltkrieg entschlossen, dass wir nie mehr gegeneinander ins Feld ziehen werden. Sondern dass wir dieses wunderbare Europa in seiner Vielfalt stärken und dauerhaft gestalten wollen.
Welche Rolle spielt die Bevölkerung? Und gibt es überhaupt eine demokratische Legitimation?
In Griechenland, Portugal oder Italien gibt es derzeit eine unterdrückte Rebellion gegen die Zwänge der Währungsunion. Und in den Ländern des ökonomischen Nordens ist zumindest ein Teil der Bevölkerung frustriert über die Risiken der Rettungskredite, über die Undankbarkeit der geretteten Länder und die Inkompetenz und Unzuverlässigkeit derer, die gerettet werden sollen. Wir reden also von einem fundamentalen Konflikt, der aber nicht ausgetragen werden kann, weil es auf der europäischen Ebene gar nicht die demokratische Basis gibt, auf der man diese Themen behandeln könnte.
Das klingt so skeptisch, dass ich mich frage: Was wir da in Griechenland erlebt haben und noch erleben, in England mit dem Brexit, in Polen und Frankreich mit ihren nationalistischen Bewegungen – sind das nur Vorboten?
Die Hoffnung ist, dass irgendwann eine Strukturänderung in den Südländern stattfinden wird. Und dass diese Länder dann – ähnlich wie Deutschland oder andere Vertreter des Nordens – ihre Wirtschaft mit einem exportorientierten Wachstum wieder aus der Krise hinausführen können. Aber die Krise gehört zum Konzept, zumindest eine sehr lange Zeit, in der die Wirtschaft sich umstrukturiert, von Binnen- auf Exportwachstum. Und immer bleibt zu hoffen, dass man den Übergang zur neuen Struktur schafft, ehe die Krise in ein politisches Desaster mündet. Es ist eine Wette, und die kann schiefgehen.
Es gibt ja Zeichen dafür, dass es gelingt, dass es Fortschritt gibt. Auf der anderen Seite: Ist es überhaupt legitim, Länder von Grund auf umzupolen?
Erstens: Ja, einige Südländer haben die Defizite in ihrer Leistungsbilanz beseitigt, einige erwirtschaften sogar schon leichte Überschüsse. In Griechenland ist die Wirtschaft um ein Viertel geschrumpft, aber gleichzeitig ist der Exportanteil der Wirtschaft um mehr als ein Drittel gestiegen. Das war der Plan. Und wenn am Ende eine Umstrukturierung gelingt, so ist die Hoffnung, dann können alle in der gleichen Weise exportorientiert wachsen. Insofern, Punkt zwei Ihrer Frage, ist es zwar ein vermessenes Experiment des Social engineering, das hier veranstaltet wird, aber es lässt sich begründen.
Ist das eine freudige Hoffnung? Oder doch eher der Abschied zu einer Reise mit ungewissem Ausgang? Wenn man sich das Phänomen Jugendarbeitslosigkeit ansieht oder das Schicksal der Rentner in Griechenland – dann scheint doch mindestens eine Generation dabei auf der Strecke zu bleiben.
Es gab auch schon vor der Währungsunion in den Südländern Regierungen oder Zentralbankpräsidenten, die der Meinung waren: Diese Struktur eines Weichwährungslandes, das immer mal wieder wegen seiner hohen Inflationsraten am Pranger steht – die wollen wir überwinden. Und es war diesen politischen und ökonomischen Eliten auch klar, dass der Übergang in ein modernes, wettbewerbsfähiges Land nicht durch demokratische Mehrheiten geschehen kann, sondern dass man dazu äußeren Zwang braucht. Für die Menschen aber und für die Parteien, die sensibel sind für die Bedürfnisse und die Leiden der Bevölkerung, gilt wohl eher, dass sie keine andere Möglichkeit mehr sahen: Zurück geht nicht, das wäre eine Katastrophe. Also müssen wir weiter machen.
Gibt es überhaupt noch Verhaltensoptionen? Wäre es eine Option zu sagen, okay, dieser oder jener muss raus aus dem Euro?
Es gibt keine Garantie, dass es gelingt. Deshalb ist mein Vorschlag: Wir müssen dafür sorgen, dass es Auswege gibt. Tatsächlich wäre es die ökonomisch sinnvollste Option, dass Deutschland aus dem Euro austritt. Weil es die größte und wettbewerbsstärkste Ökonomie in Europa ist, und weil die Ursachen dafür insbesondere nach der Wende in einer historischen und geografischen Situation liegen, die den anderen europäischen Ländern nicht zugänglich ist. Deswegen wären in einer Währungsunion ohne diese übermächtige Volkswirtschaft die Probleme leichter zu bewältigen. Aber natürlich ist gerade Deutschland das allerletzte Land, das die Loyalität gegenüber einer europäischen Integration einseitig aufkündigen könnte. Das verkraftet Europa nicht.
Was bleibt?
Ich hielte es für sinnvoll, jetzt Regeln einzuführen und Prozesse zu ermöglichen, mit denen einvernehmlich ein Zwei-Stufen-Währungssystem zustande kommen könnte – rechtzeitig und ohne aktuellen Druck, damit im Bedarfsfall nicht nur die Chaos-Option bleibt, sondern ein geregelter Übergang in eine bessere Struktur möglich ist.
Wie könnte diese Zwei-Stufen-Struktur aussehen?
Die eine Struktur wären Länder, die in der jetzigen Währungsunion gemeinsam mit Deutschland ein hoch wettbewerbsfähiges Wirtschaftssystem bilden. Dazu gehört der alte D-Mark-Block, den es vor der Währungsunion gegeben hat, also Deutschland, Österreich, die Niederlande; Dänemark gehörte dazu, Finnland tut es heute noch. Inzwischen sind die baltischen Mitgliedsstaaten dazugekommen, die sich nach ihrem Beitritt zur Währungsunion an dieser Struktur orientiert haben. Das wäre ein Hartwährungsteil nach deutschem Vorbild, der sich sehr viel besser integrieren könnte und auch sehr viel besser funktionieren würde. Für den anderen Teil ist heute schon eine Auffangstruktur vorhanden: Das ist der Wechselkursmechanismus II…
…hervorgegangen aus dem Europäischen Währungssystem, das Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing 1979 geschaffen haben. Heute noch zeitgemäß?
Es existiert noch. Die Mitgliedsstaaten kooperierten bei der Definition ihrer Wechselkurse, unterstützten einander, wenn sie international unter Druck gerieten. Und wenn sich dauerhafte Unterschiede in der Leistungsfähigkeit auftaten, dann konnten auch die Währungen auf- oder abgewertet werden. Heute käme der Europäischen Zentralbank die Entscheidung über Unterstützung auf den Devisenmärkten zu, nicht mehr der Deutschen Bundesbank, die sich immer vordringlich für deutsche Interessen stark gemacht hat.
Die Starken begeben sich in das Korsett der Gemeinsamkeit, mit allen Chancen und Wohltaten. Und die weniger Starken genießen die Flexibilität von Wechselkursen. Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten – oder der zwei Klassen?
Die Mitglieder eines Wechselkursmechanismus II genießen nicht nur die Flexibilität, sondern auch Schutz gegen Spekulation auf den Kapitalmärkten oder die Gefahr von Inflations- oder Abwertungsspiralen. Aber die Identifikation mit Europa wäre in beiden Ländergruppen institutionell unterstützt: Sie wären in der EU. Und auf den globalen Finanzmärkten hätte dieser Block einen starken gemeinsamen Auftritt. Das Gewicht Europas in der Welt würde also nicht geringer, sondern eher größer – denn auch Norwegen oder die Schweiz könnten über einen Beitritt nachdenken, wenn es nicht gleich die Währungsunion sein muss. Tatsächlich könnte ganz Europa in einem weiter gefassten Währungsverbund seinen Platz finden.
Das Interview führte Martin Tschechne.